Das Asperger-Syndrom gehört zu den Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Typisch sind qualitative Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion, Probleme in der zwischenmenschlichen Kommunikation bei gleichzeitig eingeschränktem Verhaltensrepertoire, dem Hang zu repetitiven stereotypen Verhaltensmustern und eingeschränkten, stark fokussierten Interessensgebieten.
Ursachen einer Autismus-Spektrum-Störung
Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze für die Entstehung einer Autismus-Spektrum-Störung. Auch wenn überwiegend genetische Ursachen für die Störung verantwortlich gemacht werden, werden doch auch Umweltfaktoren, psychosoziale Einflüsse und verschiedene biologische Risikofaktoren genannt, die auf Genese und Ausprägung der Störung Einfluss nehmen. Es handelt sich somit um ein Zusammenspiel von genetischen und Umweltfaktoren.
Genetische Faktoren
Die genetischen Faktoren beschreiben eine erbliche Komponente der Störung. ASS gehören unter den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diagnosen zu jenen Störungen mit dem stärksten genetischen Einfluss. So wurde in Zwillingsstudien nachgewiesen, dass bei eineiigen Zwillingen ein gemeinsames Auftreten von Autismus-Spektrum-Störungen häufiger vorkommt als bei zweieiigen Zwillingen. Auch zeigen Familienstudien, dass Verwandte ersten Grades ein deutlich erhöhtes Risiko für Autismus in sich tragen. Der Begriff „Broader Autism Phenotype“ beschreibt, dass Familienangehörige einzelne Verhaltensweisen oder kognitive Verarbeitungsstile wie Menschen mit ASS aufweisen, ohne jedoch das Vollbild einer ASS zu zeigen. Genmutationen können das Risiko, an einer Autismus-Spektrum-Störung zu erkranken, ebenfalls erhöhen. Es konnten bereits spezifische Genausprägungen ausfindig gemacht werden, die bei Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung vermehrt vorkommen.
Studien konnten nachweisen, dass auch das Alter der Eltern bei der Zeugung einen Einfluss auf die Entwicklung einer Autismus-Spektrum-Störung beim Kind haben könnte. Je älter die Eltern beim Zeitpunkt der Zeugung waren, desto wahrscheinlicher ist die Entwicklung einer Autismus-Spektrum-Störung beim Kind. Zu den Risikofaktoren während der Schwangerschaft gehören bestimmte Infektionskrankheiten, wie zum Beispiel die Rötelninfektion, die Einnahme von Valproat in der Schwangerschaft oder Folsäuremangel zu Beginn der Schwangerschaft. Des Weiteren kann eine extreme Frühgeburt die Entwicklung einer Autismus-Spektrum-Störung begünstigen.
Keine ursächliche Rolle spielt das elterliche Erziehungsverhalten. Das elterliche Erziehungs- und Bindungsverhalten kann hingegen die postpartale Gehirnentwicklung beeinflussen, indem förderliche oder weniger günstige Lernbedingungen geschaffen werden. Als psychosoziale Risikofaktoren werden extreme Formen der Deprivation im ersten Lebensjahr angenommen. Derartig schwere Formen von Deprivation liegt jedoch beim überwiegenden Teil der von Autismus betroffenen Personen nicht vor. Die Annahme, Autismus entstehe durch fehlende Zuwendung der Mutter, wurde durch zahlreiche Studien eindeutig widerlegt.
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Neuronale Entwicklung
Ein weiterer Erklärungsansatz befasst sich mit der neuronalen Entwicklung. Es gibt Hinweise darauf, dass die Hirnentwicklung von Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung bereits vorgeburtlich anders verläuft als bei gesunden Kindern. Menschen mit ASS zeigen andere kortikale Netzwerke und Aktivierungsmuster als neurotypische Menschen. Auffälligkeiten zeigen sich einerseits in der Verbindung des Hirnstammes und des Kleinhirns sowie bei den Temporal- und Frontallappen des Gehirns. Diese Veränderungen in der Gehirnstruktur werden als Grundlage für die kognitiven Besonderheiten und Verhaltensauffälligkeiten angenommen. Das Gehirn von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen zieht Objekte den Gesichtern vor, die Verarbeitung sozialer Reize benötigt mehr Zeit. So verfügen Personen mit ASS häufig über gute Fertigkeiten der Formerkennung und logisch-schlussfolgernden Fertigkeiten, beachten jedoch den Kontext weniger und zeigen Schwierigkeiten in der Wahrnehmung von biologischen Bewegungen, bei der Handlungsplanung und Zielorientierung.
Gestörte Gehirnentwicklung
Vermutlich ist die Gehirnentwicklung von autistischen Kindern bereits im Mutterleib gestört, was sich später auf eine normale Hirnentwicklung auswirkt. So haben autistische Kinder einen grösseren hinteren Hirnabschnitt und in den ersten Lebensjahren einen grösseren Kopfumfang. Dies beeinflusst wahrscheinlich die Vernetzung von Informationen im Gehirn.
Gestörte Hirnchemie
Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung weisen meist höhere Spiegel der Botenstoffe Serotonin und Dopamin auf. Diesen Umstand machen sich Ärzte bei der Autismus-Therapie zunutze: Es werden sogenannte Serotonin-Wiederaufnahmehemmer eingesetzt, die auch bei Depressionen helfen.
Molekulares Muster im Gehirn
Ein neuerer Wissenschaftszweig nähert sich den biologischen Ursachen von Autismus von anderer Seite. Gemessen wird nicht, welche Genvarianten ein Mensch in sich trägt, sondern welche Gene im Gehirn dieses Menschen tatsächlich eine Rolle spielen - welche Gene an- oder ausgeschaltet sind. «Quantitative molekulare Phänotypisierung» nennen die Wissenschafter diese Forschungsmethode.
Dazu müssen die Forscher mit Gewebeproben arbeiten. Sie untersuchten dazu die Gehirne von Verstorbenen, die zu Lebzeiten autistisch gewesen waren. Und hier zeigt sich: Auch wenn die genetische Veranlagung der Patienten sehr unterschiedlich war, auf der Ebene des Gehirns gab es Gemeinsamkeiten.
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Der Vergleich mit den Gehirnen von Menschen ohne Autismus zeigte: Bei Menschen mit Autismus sind mehr Gene aktiv in Zellen, die der Immunabwehr dienen. Gleichzeitig sind weniger Gene aktiv in Zellen, die Information verarbeiten und weiterleiten.
«In 67 Prozent der betroffenen Menschen finden wir ein ähnliches molekulares Muster auf der Ebene des Gehirns», sagt Michael Gandal, der eine kürzlich im Fachjournal «Nature» veröffentlichte Studie leitete. Im Gegensatz dazu stimmten die jeweiligen Varianten der Risikogene für Autismus nur mit etwa 2 Prozent der von Autismus betroffenen Menschen überein.
Typisches Muster im gesamten Gehirn
Dieses typische Muster liess sich zuverlässig messen und bestätigt, was bereits frühere Studien gezeigt hatten. Neu konnten die Forscher zeigen, dass sich dieses molekulare Muster über das gesamte Gehirn erstreckt.
Bisher war dieses molekulare Muster nur in Regionen des Gehirns gefunden worden, die für Prozesse wie Sprache oder für die Steuerung des Verhaltens zuständig sind. Doch nun zeigt sich: Auch Hirnregionen, die für die Wahrnehmung einfacher Signale aus der Umwelt - wie Geräusche und Bilder - zuständig sind, zeigen dieses Muster.
«Wenn diese Informationen schon früh im Leben auf eine sogenannte atypische Weise verarbeitet werden, so beeinflusst das auch die gesamte spätere Gehirnentwicklung», sagt der Biowissenschafter Gandal. Für die Wissenschafter ist das neue Forschungsergebnis auch ein Hinweis darauf, dass sich Autismus im Laufe der Hirnentwicklung immer stärker manifestiert.
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Diagnose
Die Autismus-Diagnostik ist aufwändig und komplex. Es gibt keinen spezifischen Test, mit dem die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung gestellt werden kann. Die Diagnose beruht auf genauen Angaben zur bisherigen Entwicklung und dem aktuellen Befinden und Verhalten der Person. Bei Kindern werden dazu in erster Linie die Eltern befragt, oft aber auch Fachpersonen, die das Kind aus Krippe, Schule oder aus der Therapie kennen. Auch bei erwachsenen Personen sollten die Eltern, wenn möglich, zur Entwicklung befragt werden. Die betroffene Person muss selbst ausführlich über ihr früheres und aktuelles Leben Auskunft geben. Falls vorhanden, können enge Freunde oder Lebenspartner/-innen befragt werden. In die Diagnostik einbezogen werden die Ergebnisse einer Reihe von psychometrischen Fragebögen sowie die Ergebnisse neuropsychologischer Zusatzuntersuchungen. Bei Kindern ergänzen strukturierte Spielbeobachtungen die Untersuchung. Dabei ist es oft hilfreich, das Kind in einer Gruppensituation zu erleben. Bei Jugendlichen und Erwachsenen werden neben den inhaltlichen Aussagen vor allem Aspekte der nonverbalen Kommunikation, der Gegenseitigkeit im Gespräch und des sozialen Verständnisses beurteilt.
Bei Kindern mit frühkindlichem Autismus kann die Diagnose in der Regel im Alter von zwei bis zweieinhalb Jahren gestellt werden. Bei Kindern mit Asperger-Syndrom werden die Probleme meist erst im Kindergarten- oder Schulalter deutlich. Bei Erwachsenen sind die autistischen Symptome manchmal durch Depressionen, Ängste oder Zwänge überlagert, was die Diagnose erschwert. Zudem entwickeln Menschen mit ASS, die in der Kindheit nicht diagnostiziert wurden, häufig ausgeklügelte Kompensationsstrategien (bewusstes Unterdrücken von Stereotypien, bewusstes Erlernen sozialer Regeln, bewusstes Erlernen des Blickkontaktes, bewusste Zurückhaltung in sozial komplexen Situationen...), so dass die Symptome beim Erwachsenen nicht mehr sichtbar sind.
Wie gelingt es ASS-Betroffenen, den Alltag zu meistern?
ASS-Betroffene können äussere Reize auf den verschiedenen Sinneskanälen weniger gut verarbeiten, d.h. relevante von nicht relevanten Reizen schwer unterscheiden. Dadurch kommt es zu einer Reizüberflutung und in der Folge meist zu Stressreaktionen. ASS-Betroffene entwickeln Strategien um die Wahrnehmungen zu verarbeiten und den Alltag zu bewältigen, und zwar meist indem sie ihre Aufmerksamkeit fokussieren. Dies führt zu Spezialinteressen, routinemässigen Vorlieben und hoch strukturierten Abläufen. Indem sie sich so verhalten, reduzieren sich im Entwicklungsverlauf soziale Kontakterfahrungen mit der Aussenwelt oder sie fallen bei extremer Fokussierung auf Gleichbleibendes sogar ganz weg. ASS-Betroffene trainieren dadurch weniger, soziale Signale zu deuten oder sich bei spontanen sozialen Erlebens- und Verhaltensweisen situativ anzupassen. Sie müssen in der Folge «erlernen», wie sie im sozialen Kontext reagieren «müssen»; im Gegensatz zu neurotypischen Personen, die das automatisch können.
Therapie
Alle psychotherapeutischen Verfahren sind zur Behandlung von Personen mit ASS geeignet, mit der Einschränkung, dass man störungsangepasst vorgehen sollte. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten arbeiten mit einer Haltung, die den Prozess unterstützt, und die von Akzeptanz, einem hohen Mass an Authentizität, Offenheit, Neugier, Geduld sowie einer strukturierten Herangehensweise geprägt ist.
Es gibt Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die Symptome mit dem Alter nachlassen. Dies aus dem Grund, weil die Betroffenen lernen, damit umzugehen.
Individuelle Therapie je nach genetischer Ursache
Unabhängig davon könnte das Wissen um die Rolle einzelner Gene in den Zellen des Gehirns bei der Entwicklung von Behandlungsmethoden für diese Leiden helfen.
Die Vision von Joseph Buxbaum, einem führenden Autismusforscher in New York, ist folgende: In Zukunft könnte bei Betroffenen ein einzelnes Gen ein- oder ausgeschaltet werden.
Frühintervention
Die Früherkennung von ASS ist von grösster Bedeutung, damit so rasch wie möglich eine geeignete Behandlung eingeleitet werden kann. In den ersten Lebensjahren weist das Gehirn die höchstmögliche Plastizität auf und ist für entsprechende Interventionen besonders empfänglich.
Insgesamt zeigen sowohl die Studien mit bildgebenden Verfahren als auch die Eye-Tracking-Studien, dass die Entwicklung der betroffenen Kinder sehr früh einen abweichenden Verlauf nimmt. Dies lässt den Schluss zu, dass eine möglichst frühe Intervention wichtig ist, um mindestens teilweise korrigierend einwirken zu können.
So ist bei Kindern, die während zwei Jahren jeweils zwanzig Stunden pro Woche am Interventionsprogramm Early Start Denver Model teilnahmen, nicht nur eine Erhöhung des Intelligenzquotienten und der Autonomie im Alltag zu verzeichnen (Dawson et al. 2010), sondern auch eine Normalisierung der Gehirnaktivität bei der Verarbeitung von sozialen Reizen (Dawson et al. 2012). Dies legt nahe, dass eine Frühintervention dazu beitragen kann, die neuronalen Schaltkreise zu formen, die für die Verarbeitung sozialer Informationen bei Kindern mit Autismus verantwortlich sind.
Zusammenhang zwischen Neuroligin-3 und dem Oxytocin-Signalweg
Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Peter Scheiffele am Biozentrum der Universität Basel hat nun bei Versuchen mit Mäusen eine unerwartete Verbindung zwischen dem Gen Neuroligin-3 und dem Oxytocin-Signalweg aufgedeckt.
Die Forschenden um Scheiffele konnten durch Versuche mit einem solche Mausmodell nachweisen, dass eine Autismus-assoziierte Veränderung im Neuroligin-3-Gen die Oxytocin-Signalwege in den Nervenzellen im Belohnungssystem des Gehirns der Mäuse stört. In Folge waren die sozialen Interaktionen zwischen den Tieren reduziert. Wie sich herausstellte, stört der Verlust von Neuroligin-3 das Gleichgewicht der Proteinproduktion in den Nervenzellen. Dieses Ungleichgewicht wiederum verändert die Reaktion der Nervenzellen auf Oxytocin.
«Dass Mutationen im Neuroligin-3 direkt die Oxytocin-Signalwege beeinflussen, hat uns dennoch sehr überrascht. Darüber hinaus konnte das Forschungsteam zeigen, dass sich die Veränderung im Oxytocin-System bei den Mäusen mit Neuroligin-3-Mutation durch die Behandlung mit einem pharmakologischen Hemmstoff der Proteinsynthese wieder beheben lässt. Das Sozialverhalten der Mäuse normalisierte sich daraufhin: Sie reagierten wie ihre gesunden Artgenossen unterschiedlich auf ihnen bekannte und fremde Mäuse.
Diese nun neu entdeckte Verbindung zwischen drei wichtigen Elementen - einem genetischen Faktor, der Regulation des Sozialverhaltens durch das Oxytocin-System und Veränderungen in der neuronalen Proteinsynthese - bringt ein wenig mehr Klarheit, wie die vielfältigen Ursachen für die Entstehung von Autismus zusammenhängen.
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