Trauer und psychische Erkrankung: Kriterien und Verarbeitung

Einen nahe stehenden Menschen durch Suizid zu verlieren, ist extrem belastend und schmerzhaft.

Es gibt keine einfache Patentlösung für die Verarbeitung dieses Verlusts und für die Bewältigung der Trauer.

Zu unterschiedlich sind die Personen, die durch Suizid gestorben sind.

Zu individuell sind die, die zurückbleiben.

Trotzdem kann es helfen, zu wissen, was die meisten Betroffenen durchmachen.

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Die Phasen der Trauer nach Verena Kast

Die Psychologin Verena Kast hat viele Trauernde begleitet und spricht von vier Phasen der Trauer.

Diese Phasen dauern bei jedem Menschen unterschiedlich lange und es kann auch sein, dass Trauernde einzelne Phasen mehrfach durchlaufen.

Wenn man mehr über diese Phasen weiss, kann man die Trauer besser verarbeiten und eines Tages an den Punkt gelangen, an dem man den verstorbenen Menschen und die gemeinsame Zeit in guter Erinnerung behalten kann und das seelische Gleichgewicht wieder findet.

1. Phase: Nicht-Wahrhaben-Wollen

Ein Suizid führt bei Hinterbliebenen häufig zu einem Ausnahmezustand.

Die erste Reaktion ist in der Regel Schock.

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Die erste Reaktion nach einem Suizid ist in der Regel eine «Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens»:

Die Betroffenen erleben eine Art Gefühlskoma oder Gefühlsschock.

Man ist fassungslos und kann gar nicht nachvollziehen, was eigentlich passiert ist.

Manche berichten, sie hätten alles wie in Trance oder aus grosser Entfernung erlebt.

Diese Reaktionen sind Schutzmechanismen unseres Körpers.

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So wird Zeit gewonnen: Man verspürt nicht sofort unendliche Trauer, sondern kann noch «funktionieren.»

Manchmal halten Betroffene in dieser Phase an Alltagabläufen fest, die gar keinen Sinn mehr ergeben: Sie decken den Tisch für die verstorbene Person, kaufen ihre Lieblingslebensmittel ein, lassen persönliche Dinge der verstorbenen Person lange an den gewohnten Orten, usw.

Auch der Körper kann heftig reagieren: mit Weinkrämpfen, Schlafproblemen, Appetitlosigkeit, Kopf- und Gliederschmerzen, Magen- oder Verdauungsbeschwerden.

Diese Phase kann Stunden, aber auch mehrere Wochen dauern.

2. Phase: Aufbrechende Gefühle

Gleichzeitig wirft ein Suizid auch eine ganze Reihe von praktischen Fragen auf, mit denen sich die Hinterbliebenen befassen müssen: Der Todesfall wird von der Polizei untersucht, die Beerdigung muss organisiert und das Umfeld möchte womöglich informiert werden.

Wenn die Schockphase überstanden ist, werden in der «Phase der aufbrechenden Gefühle» alle möglichen Gefühle empfunden: Wut, Scham, Ärger, Verzweiflung oder Angst.

Auch der Körper reagiert, z.B. mit Appetitverlust, Ruhelosigkeit, Schlaflosigkeit oder Konzentrationsproblemen.

Häufig verändert sich auch das persönliche Verhalten (z.B. Lethargie, Betriebsamkeit, Übersensibilität).

Betroffene erzählen, dass sie nach dem Suizid viele Gefühle und Fragen beschäftigten, wie:

  • Fassungslosigkeit, Verständnislosigkeit, Sprachlosigkeit: Die Frage nach dem Warum?
  • Tiefe, lange Trauer
  • Wut, Verachtung: «Wie kann er mir das nur antun?»
  • Verzweiflung: «Wie kann ich ohne sie weiterleben?»
  • Schamgefühle: «Was denken wohl die anderen?»
  • Schuldgefühle, das Gefühl versagt zu haben: «Hätte ich etwas anders oder besser machen können? Hätte ich es merken müssen?»
  • Zweifel am Selbstwert: «War ich der Person nicht wichtig genug?»
  • Infragestellung der gemeinsamen Geschichte: «Hatte sie/er uns gar nicht lieb?»
  • Angst: «Könnte mir das auch passieren?»
  • Verlust der Perspektive für das weitere Leben, eigene Suizidgedanken

3. Phase: Suchen und Sich-Trennen, Neuorientierung

In der «Phase des Suchens und Sich-Trennens, der Neuorientierung» suchen Trauernde innerlich nach der verstorbenen Person, erinnern sich an gemeinsame Erlebnisse, träumen von ihr.

Die Trauernden sind auf der Suche nach einer neuen Art von Beziehung zur verstorbenen Person.

Mit der Zeit: Suche nach neuer Art von Beziehung zum verstorbenen MenschenHäufig wird der verstorbene Mensch eine Art «innerer Begleiter».

4. Phase: Neuer Selbst- und Weltbezug

Die letzte Phase nennt Verena Kast die «Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs»:

Mit der Zeit gelingt es der trauernden Person, wieder ein seelisches und körperliches Gleichgewicht zu finden und den Verlust zu akzeptieren.

Sie passt sich an die neue Situation an und beginnt, sich neue Verhaltensmuster anzueignen.

Ziel: Das eigene seelische Gleichgewicht wieder finden.

Die Aussenwelt gewinnt wieder an Wichtigkeit.

Trauer verarbeiten: Wie geht das?

Jeder Mensch trauert anders.

Denn Abschied von einer Person nehmen, ist ebenso einzigartig, wie die Beziehung, die man zu ihr hatte.

Menschen brauchen für ihre Trauerarbeit unterschiedlich lang - wenige Jahre bis zu Jahrzehnten.

Manchmal kommt Trauer wie in Wellen, sie klingt wieder ab und schäumt später wieder heftig auf.

Es ist wichtig, Trauer zuzulassen und das Geschehene aktiv zu verarbeiten.

Trauer ist keine Krankheit.

Die Trauer zu verdrängen, kann zeitweise helfen, zu «funktionieren» und den Ansprüchen der Umwelt (Arbeit, Kinder, Familie, etc.) gerecht zu werden.

Wenn Trauer über lange Zeit nicht zugelassen wird und keine Auseinandersetzung mit dem Geschehenen möglich wird, kann es zu schwerwiegenden psychischen Belastungssymptomen oder gar Erkrankungen kommen.

Psychische Belastungssymptome und Erkrankungen

Psychische Belastungssymptome sind eine normale Reaktion, wenn die Anforderungen, welche die Umwelt oder wir selbst an uns stellen, grösser sind, als die Ressourcen, die wir zu deren Bewältigung einsetzen.

Typische psychische Belastungssymptome sind Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhte Müdigkeit und Energiemangel, Reizbarkeit, Schwierigkeiten, Entscheide zu treffen, konstante Niedergeschlagenheit, Gedanken, die immer um das gleiche Problem kreisen, Unruhe und Angstzustände, Appetitlosigkeit, diffuse körperliche Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen oder Muskelverspannungen sowie Lustlosigkeit.

Dies sind auch alles Symptome, die durch tiefe Trauer ausgelöst werden können.

Diese Symptome wieder loszuwerden, gelingt manchmal aus eigener Kraft, manchmal braucht man Unterstützung aus dem privaten Umfeld, von einer Selbsthilfegruppe.

Wenn die Symptome jedoch lange andauern, an Stärke zunehmen oder immer weitere hinzukommen, so ist es angezeigt, mit einer Fachperson abzuklären, ob sich nicht allenfalls eine psychische Erkrankung zu entwickeln beginnt (Adressen).

Menschen, die eine nahe Person durch Suizid verlieren, haben ein erhöhtes Risiko an einer Depression oder einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erkranken.

Anpassungsstörungen

Einschneidende Lebensveränderungen oder belastende Lebensereignisse lösen bei den meisten Menschen Stresserleben aus.

Darüber hinaus können ein Gefühl der Bedrängnis und emotionale Beeinträchtigungen auftreten, welche die sozialen Funktionen und die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen und dadurch die Anpassung an schwierige Lebenssituationen behindern.

Wenn Sie nach einem belastenden Ereignis Trauer, Hilflosigkeit oder andere negative Gefühle empfinden, ist das eine ganz normale Reaktion.

Wenn solche Gefühle aber so stark überhandnehmen, dass Sie Ihnen Ihre Handlungsfreiheit rauben, handelt es sich möglicherweise um eine Anpassungsstörung.

Der Übergang zwischen normaler Reaktion und Erkrankung ist fliessend und definiert sich über den persönlichen Leidensdruck und die Beeinträchtigung der Funktions- und Leistungsfähigkeit.

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