Sucht, Depression, Burnout - jeder fünfte Angestellte in der Schweiz leidet an einer psychischen Krankheit. Das wirkt sich oft auch negativ auf den Arbeitsalltag aus, führt zu häufigen Absenzen, gereizter Stimmung und mangelhafter Leistung. Ein klärendes Gespräch mit dem oder der Vorgesetzten tut in so einer Situation Not, ist aber alles andere als einfach. Nicht zuletzt, weil die Angst vor dem Jobverlust gross ist.
Arbeitgeber sollen ihre Angestellten aktiver auf psychische Probleme ansprechen, fordert die Kampagne «Wie geht es Dir». Aber auch Arbeitnehmern fällt es nicht leicht, von sich aus mit ihren Vorgesetzten darüber zu reden.
Diese Angst müsse man unbedingt überwinden und das Gespräch mit dem Chef in Angriff nehmen, sagt Thomas Ihde, Chefarzt Psychiatrie der Spitäler Frutigen Meiringen Interlaken und Autor von verschiedenen Ratgebern zu psychischen Belastungen am Arbeitsplatz.
«Auch wenn sich der Mythos hartnäckig hält: Psychische Krankheiten ziehen sich nicht immer länger hin. Da gibt es die ganze Bandbreite. Manche gehen wie eine Grippe nach zwei Wochen vorüber, andere begleiten einen wie ein Diabetes ein Leben lang», erklärt Thomas Ihde. Entsprechend hänge der richtige Moment für ein klärendes Gespräch mit dem Chef von der individuellen Situation ab.
Den richtigen Moment sieht er gekommen, wenn man merkt, dass man wiederholt einer Situation nicht gewachsen ist und dies andere mit grosser Wahrscheinlichkeit bemerken.
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Vorbereitung auf das Gespräch
Thomas Ihde empfiehlt, sich vorab mit einer Vertrauensperson zu besprechen. Zum Beispiel mit dem Hausarzt oder einem Arbeitskollegen, der mit der Jobsituation vertraut ist. Letzteres hilft auch zu beurteilen, wann der beste Moment für so ein Gespräch mit dem entsprechenden Vorgesetzten ist.
So unangenehm einem das Reden über die eigenen Probleme ist, so schwierig ist das Thema auch für Vorgesetzte. Man sollte dem Chef oder der Chefin deshalb die Gelegenheit geben, sich genügend darauf einstimmen und vorbereiten zu können.
Inhalt und Ziel des Gesprächs
Der Chef ersetzt nicht den Psychiater. Beim Gespräch mit ihm soll es nicht darum gehen Ihre privaten Probleme zu lösen, sondern darum, wie sie sich auf ihren Job auswirken. «Die Situation am Arbeitsplatz soll im Zentrum stehen», empfiehlt Ihde.
Hat der Chef Ihre Probleme auch bemerkt oder gibt es aus seiner Sicht welche, die Ihnen selber gar nicht aufgefallen sind? Das Ziel des Gesprächs sollte sein, eine Antwort auf die Frage «wie weiter?» zu finden. In der Regel ist eine Form von Entlastung nötig. Häufig braucht es aber auch professionelle Unterstützung durch Fachleute.
Wenn man den Mut absolut nicht findet, kann zum Beispiel der Hausarzt einspringen und zum Hörer greifen.
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Offenheit gegenüber Kollegen
Soll man auch mit seinen Arbeitskollegen über die eigenen psychischen Probleme sprechen? Thomas Ihde meint ja: «In der Regel ist die Empfehlung, dass man sie informiert. Sie merken ja, dass etwas nicht stimmt und machen sich Gedanken zu den Gründen - meist keine positiven Gedanken.»
Sein näheres berufliches Umfeld ins Vertrauen zu ziehen, macht auch Sinn, da die Kollegen häufig zusätzlich jene Arbeit auffangen müssen, die von den Betroffenen in dieser Phase nicht erledigt werden kann. Wissen sie nicht, warum, führt dies schnell zu Ärger und Ablehnung.
Das Gespräch mit dem Vorgesetzten zu suchen, braucht Überwindung. Aber es lohnt sich.
«Man muss sich bewusst sein, dass es Tausenden anderen schon ähnlich ergangen ist», betont Ihde. Und der Tenor sei danach praktisch immer: «Zum Glück habe ich es gemacht. Mein Chef hat viel besser reagiert als erwartet. Mein Team trägt mich viel mehr mit.»
Wiedereinstieg in den Beruf nach einer Depression
Wenn Betroffene nach einer Depression wieder zum Alltag zurückfinden wollen, gilt es vor allem, den Wiedereinstieg in den Beruf zu meistern. Ein schwieriger Schritt, der häufig mit viel Nervosität und Unsicherheit verbunden ist. Wichtig zu wissen: Man muss nicht von null auf hundert einsteigen. Und man kann sich Hilfe von verschiedenen Stellen holen.
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Eine wichtige Rolle spielt meist der direkte Vorgesetzte.
Mit wem kann man seinen Wiedereinstieg im Job besprechen?
Je nachdem, bei wem man in Behandlung ist, sollte man zunächst mit seinem Haus- oder Facharzt und dann mit dem Betriebsarzt sprechen, rät Anette Wahl-Wachendorf. Sie ist Ärztliche Leiterin des Arbeitsmedizinischen Dienstes der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG Bau) sowie Vizepräsidentin des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte. "Der kann einschätzen, ob man arbeitsfähig ist."
Die Entscheidung liegt aber beim Betroffenen selbst. Ist diese gefallen und man möchte zurück in den Beruf, sollte man das mit seinem direkten Vorgesetzten besprechen. Das Unternehmen ist dazu verpflichtet, den Betroffenen beim Wiedereinstieg zu unterstützen, sagt Psychologin Julia Kröll vom Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung (IFBG).
Es sollten sogenannte Rückkehrgespräche geführt werden: Darin kann zum Beispiel thematisiert werden, ob Arbeits- oder Pausenzeiten angepasst oder zusätzliche Rückzugsorte geschaffen werden müssen.
Wie genau läuft der Wiedereinstieg ab?
Das kann man pauschal nicht beantworten. Grundsätzlich gilt: Wer länger als sechs Wochen krank war, dem muss ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) angeboten werden, so Wahl-Wachendorf. Der Beschäftigte muss das allerdings nicht annehmen, er kann auch einfach wieder starten, als wäre er nicht weg gewesen.
In der Praxis laufe es meist anders: Der Arbeitnehmer steigt zunächst nur für ein paar Stunden täglich wieder in das Berufsleben ein. Die Dauer wird schrittweise gesteigert, bis man wieder bei seinem vertraglich vereinbarten Pensum ist. "Wie lange eine Wiedereingliederung dauert, hängt von der Staffelung ab und ist individuell unterschiedlich."
Wen muss man über seine Erkrankung informieren?
Kurz gesagt: niemanden. "Der Beschäftigte muss weder seinem direkten Vorgesetzten, den Kollegen noch dem Arbeitgeber sagen, was er für eine Erkrankung hat", erklärt Wahl-Wachendorf. Zudem gilt auch für den behandelnden Facharzt, Therapeuten und den Betriebsarzt die Schweigepflicht.
Aber: Wenn der Arzt bestimmte Psychopharmaka verschreibt, die etwa das Bedienen von Maschinen oder die Fahrtüchtigkeit beeinflussen, muss der Behandler den Arbeitnehmer über die Beeinträchtigungen informieren. Mitunter lohnt in einem solchen Fall die Abstimmung mit dem Betriebsarzt: Ist jemand zum Beispiel Kranführer und wegen seiner Medikamente nicht fahrtüchtig, kann man mit dem Betriebsarzt besprechen, welche anderen oder geänderten Aufgaben möglicherweise infrage kommen.
Wie sollte man sich selbst auf den ersten Tag vorbereiten?
Man sollte seinen ersten Tag nach längerer krankheitsbedingter Abwesenheit gut planen, damit man sich sicher fühlt, empfiehlt Julia Kröll. Im besten Fall stehen zum Beispiel Termine und eine Struktur für den ersten Tag bereits fest. So kann man sich gedanklich darauf einstellen, was auf einen zukommt.
"In jedem Fall empfiehlt es sich, bereits vorher eine gute Antwort auf die eine Frage parat zu haben, die sehr wahrscheinlich gestellt werden wird: "Wo warst du"?", rät Kröll.
Auch Anette Wahl-Wachendorf hält es für sinnvoll, sich Gedanken zu machen, wie man mit der Erkrankung umgehen möchte. "Man sollte sich bewusst überlegen, was man offenbaren möchte aus der letzten Zeit."
Wie gehen Vorgesetzte und das Team am besten mit dem Wiedereinstieg um?
Julia Kröll rät Vorgesetzten sich etwa im Rahmen von Schulungen oder Lektüre auf den Wiedereinstieg von Mitarbeitenden vorzubereiten. "Generell sollten psychische Erkrankungen im Unternehmen kein Tabu-Thema sein."
Laut Arbeitsmedizin-Expertin Anette Wahl-Wachendorf sollte man als Chef ein Zeichen setzen, "dass der Mitarbeiter auch nach langer Zeit willkommen ist." Dem Betroffenen gegenüber sei es wichtig, sich gesprächsbereit zu zeigen und gegebenenfalls nachzufragen, ob Änderungen zum Beispiel in der Pausengestaltung notwendig sind.
Das Team sollte dem Betroffenen gegenüber offen sein, Interesse zeigen, aber nicht bohren, rät Wahl-Wachendorf.
Welche Warnsignale zeigen, dass es doch zu viel war?
Das könne von Person zu Person unterschiedlich sein, so Julia Kröll. Eine Veränderung in der Stimmung, vermehrtes Grübeln sowie Schlafstörungen können Zeichen einer wiederkehrenden Depression sein. Anette Wahl-Wachendorf erwähnt Symptome wie Hitzewallungen, schwitzige Hände sowie über mehrere Tage andauernde Erschöpfung.
"Wichtig ist, dass sich jeder Betroffene selbst so gut kennt, dass ihm solche Warnzeichen rechtzeitig bewusstwerden", erklärt Kröll. Ein in der Therapie entwickelter Krisenplan kann helfen, sich in einem solchen Fall schnell Hilfe suchen zu können.
Boreout: Wenn Langeweile krank macht
Langeweile ist schädlich und hat einen Namen: das Boreout. Auch wenn sein Cousin, das Burnout, wesentlich bekannter ist, ist das Boreout nicht weniger gefährlich. Es hat zwar einen anderen Ursprung, aber einen ebenso beunruhigenden Ausgang. Das Boreout kann Mitarbeitende in teils schwere Depressionen stürzen.
Das Burnout und das Boreout haben gemeinsam, dass sie Formen beruflicher Erschöpfung sind. Das Burnout resultiert aus physischer und mentaler Erschöpfung infolge von Arbeitsüberlastung; das Boreout hingegen wird durch chronische Langeweile und mangelnde Stimulation am Arbeitsplatz hervorgerufen.
Das Boreout ist auch unter dem Namen «Burnout-Syndrom durch Langeweile» bekannt und offenbart sich bei den Mitarbeitenden durch einen Interessen- und Motivationsverlust für ihre Funktion, bedingt durch eine schwache Arbeitslast.
Wir alle haben uns schon einmal auf der Arbeit gelangweilt, doch dies macht uns noch lange nicht zu Boreout-Betroffenen. Aber ist es wirklich möglich, beim Nichtstun auszubrennen? Auf den ersten Blick erscheint dies paradox. Wie kann offensichtlicher Müssiggang extreme Müdigkeit verursachen?
Die gesundheitlichen Auswirkungen eines Boreouts sind im Wesentlichen die gleichen wie beim Burnout. Die Symptome einer Person, die am Burnoutsyndrom durch Langeweile leidet, sind sowohl auf physischer wie auf psychischer Ebene vielfältig und progressiv. Sie können von Stress über chronische Müdigkeit und Schlafstörungen bis hin zu Angst reichen.
Der Sinnverlust und die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz sind so gross, dass sie zu Konzentrationsmangel, zunehmendem Absentismus und wiederholten Fehlern bei der Ausführung von Arbeitsaufgaben führen.
Was ist der wahre Zweck meiner Arbeit und was ist meine Motivation, jeden Morgen aufzustehen? Bin ich für das Unternehmen nützlich? Die vom Boreout betroffene Person entwickelt ein Gefühl der Selbstentwertung, beginnt, an ihren Fähigkeiten zu zweifeln, und verliert ihr Selbstvertrauen.
Aus Angst, gekündigt zu werden, setzen Mitarbeitende mit Boreout aber oft Methoden ein, um bei ihren Kollegen und Vorgesetzten nicht aufzufallen. Die Arbeit langsamer auszuführen, damit man den ganzen Tag beschäftigt ist, oder Strategien anzuwenden, um glaubhaft zu vermitteln, dass man in der Arbeit erstickt, sind nur ein paar Beispiele für Taktiken, die dazu beitragen, dass der Teufelskreis des Syndroms aufrechterhalten wird.
In einer Gesellschaft, in der Leistung und Wettbewerbsfähigkeit zählen und die Suche nach dem beruflichen Sinn wichtiger denn je ist, fällt es leichter, zuzugeben, dass man mit Arbeit überlastet ist, als einzugestehen, dass man sich zutiefst langweilt. Es ist sozial akzeptabler, infolge von zu viel Arbeit krank zu sein wie von zu wenig, und logischerweise fällt es schwer, auszusprechen, dass man fürs Nichtstun bezahlt wird.
Sie sollten jedoch wissen, dass der erste Schritt, um nicht unterzugehen, darin besteht, sich des Problems bewusst zu werden und darüber zu sprechen. Zunächst mit Vorgesetzten, damit diese geeignete Massnahmen zur Verbesserung des beruflichen Wohlbefindens der Person mit Boreout ergreifen können.
Es liegt in der Verantwortung des Arbeitgebers, für das physische und mentale Wohlbefinden der Mitarbeitenden zu sorgen. Dann mit Kolleginnen oder Kollegen, denen Sie vertrauen. Diese haben einen objektiveren Blick auf die aufgetretenen Schwierigkeiten und können Ratschläge geben oder sogar Hilfe leisten. Und wenn die belastende Situation weiterhin anhält, ist es möglicherweise an der Zeit, über Alternativen nachzudenken.
Kosten psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz
Die Zunahme der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme führt zu hohen Kosten - direkten Kosten, etwa durch medizinische Behandlungen, aber auch indirekten Kosten, die oft noch höher sind. Denn wegen psychischer Diagnosen Krankgeschriebene fehlen im Durchschnitt 218 Tage lang, deutlich länger als wegen körperlicher Leiden Krankgeschriebene.
Für die Arbeitgeber bedeutet das: Produktivitätsverluste, organisatorischen Mehraufwand und einen Verlust von Know-how.
Rechnet man diese Kosten mit allen Produktionsverlusten auch wegen körperlicher Leiden zusammen, kommt man allein für den Kanton Zürich auf Kosten von 2,3 Milliarden Franken - ein erheblicher Verlust für die Volkswirtschaft.
Weil die Anzahl Absenzen und die damit verbundenen Kosten ansteigen, hat der Kanton Zürich Massnahmen ergriffen.
Deshalb richtete der Kanton Zürich vor rund zwei Jahren die Fachstelle Betrieblicher Gesundheitsschutz ein. Diese soll Unternehmen darin beraten, die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu schützen. Dazu kann etwa gehören, Lärm in Grossraumbüros zu reduzieren oder Zeitdruck zu vermeiden.
Milena Sina Wütschert, die Leiterin der Fachstelle, sagt: «Auch Dinge, die gemeinhin als Chance gelten - neue Arbeitsmodelle und neue Strukturen - können zum Stressfaktor werden.» Wer laufend mehrere Projekte gleichzeitig betreuen muss oder ständig für den Chef erreichbar ist, kommt beispielsweise eher an Belastungsgrenzen.
Solche Stressquellen sollen Unternehmen in Zusammenarbeit mit der Fachstelle reduzieren können.
Der Trend zu kürzeren Absenzen lässt sich dabei seit der Pandemie beobachten.
Wie die Zunahme der Krankschreibungen wegen psychischer Leiden lässt sich auch der Trend hin zu kürzeren Absenzen vor allem bei Menschen jungen und mittleren Alters beobachten. Trotzdem fehlen aber noch immer die älteren Arbeitnehmer am meisten. Denn sie sind öfter von chronischen körperlichen Krankheiten betroffen, die lange Krankschreibungen nach sich ziehen.
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