Systemische Therapie von Essstörungen: Grundlagen und Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Immer mehr Menschen zeigen ein gestörtes Essverhalten, von klassischen Essstörungen wie Anorexia, Bulimia und Binge Eating bis zu atypischen Formen.

Die grossen Auswirkungen, die Essstörungen auf die betroffenen Personen haben, machen auch vor deren Umfeld nicht Halt.

Jeder Mensch befindet sich in einem sozialen System, der Familie, der Gesellschaft im Allgemeinen.

Angehörige, Freunde, Lehrpersonen oder das Arbeitsumfeld sind oft hilflos in ihren Bemühungen unterstützend Einfluss zu nehmen, da insbesondere bei der Anorexia nervosa die Motivation zur Veränderung für die Betroffenen selbst eine Gefährdung des Lösungsweges darstellt, der ihnen hilft, ihre Ängste in Schach zu halten.

Was für dieses Störungsbild zutrifft lässt sich auch auf andere Arten von Essstörungen übertragen, indem davon ausgegangen wird, dass insbesondere Angehörige als Ressourcen in die Therapie miteinbezogen werden sollten und oftmals erst dadurch Heilungsprozesse möglich werden (Mithilfe der Stärkung vorhandener Beziehungen bzw.

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Die Grenzen, etwa zwischen gesundem Lebensstil und Orthorexie, sind oft fliessend.

Für Gesundheitsfachpersonen ist ein psychologisches Verständnis der Entstehung und Aufrechterhaltung solcher Störungen essenziell.

Nur so können sie den Teufelskreis Betroffener nachvollziehen, ihnen empathisch begegnen und gezielte Interventionsansätze ableiten.

Neben ernährungspsychologischem Wissen erfordert die Therapie ein Verständnis für Wahrnehmung, Emotionen und soziale Interaktionen sowie praktische Tools.

Der Kurs legt besonderen Fokus auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ernährungsberater*innen, Psycholog*innen und Pflegefachpersonen.

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Epidemiologie und Prävalenz von Essstörungen

Essstörungen gehören zu den Erkrankungen mit einer der höchsten Mortalitätsraten, somatische Erkrankungen miteingeschlossen.

Die Mortalität liegt für die Anorexia nervosa bei 5% und für Bulimia nervosa bei 1.7%(1), wenn auch bei Erkrankungen im Jugendalter mit um die 1-2 % deutlich tiefer(2,3).

Neben den klassischen Formen von Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Binge Eating) gibt es auch Mischformen oder die Symptomatik verschiebt sich im Verlauf(4).

Zudem zeigen Langzeitstudien, dass bis zu 67% der jugendlichen Betroffenen von Anorexie im Verlauf eine andere psychiatrische Störung entwickeln(2).

Die Lebenszeitprävalenz für eine Essstörung in westlichen Ländern beträgt für Frauen 8.4% (3.3-18.6%) und 2.2% (0.8-6.5%) für Männer.

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Prävalenzzahlen variieren dabei nach Ländern und Kontinenten (USA führend mit 4.6%, gefolgt von Asien bei 3.5% und Europa bei 2.2%).

Global leiden bis zu 4% Frauen und 0.3 % Männer im Laufe ihres Lebens an einer Anorexia nervosa und bis zu 3% Frauen und 1% Männer entwickeln eine Bulimia nervosa(5).

Die Zahlen zeigen damit Unterschiede mit Blick auf Geschlecht mit einer höheren Prävalenz für Mädchen und Frauen.

Immer häufiger zeigen sich zudem die Symptome einer akuten typischen Anorexie bereits im Alter von 11 bis 12 Jahren.

Mit der Covid-19 Pandemie und den damit einhergehenden Lockdown-Maßnahmen zeigte sich ein weiterer Anstieg der Prävalenzzahlen(6).

Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von Kontrollverlust und Einsamkeit zu mehr Zeit auf den sozialen Medien(8).

Früherkennung und Intervention bei Anorexia Nervosa im Jugendalter

Eine akute Essstörung im Jugendalter beginnt häufig als Anorexia nervosa und löst bereits in der Frühphase der Erkrankung durch einen rasanten Gewichtsverlust Hilflosigkeit bei der Familie und nicht selten auch bei den Behandelnden aus.

Sowohl die psychischen Symptome und ihre Auswirkung auf die Familiendynamik als auch die somatischen Symptome werden schnell existenziell bedrohlich.

Die Behandlungsmotivation der Jugendlichen mit einer Anorexia nervosa in der Frühphase der Erkrankung ist dabei meist sehr niedrig(9).

Die pädiatrische oder hausärztliche Praxis ist häufig die erste Anlaufstelle für Familien mit von Essstörung betroffenen Kindern und Jugendlichen.

Mithilfe dieses Artikels soll in der Praxis die Früherkennung einer beginnenden Anorexia nervosa im Jugendalter erleichtert und der Zeitraum zwischen Diagnosestellung und Behandlungsbeginn möglichst verkürzt werden.

Für die erste Frühintervention bei akuten Essstörungen von Jugendlichen schlagen wir als effektive Methode die familienbasierte Intervention für die ärztliche Praxis basierend auf dem Maudsley Modell vor, die sich als eine wirksame Methode in der ersten Krankheitsphase einer adoleszenten Anorexia nervosa erwiesen hat(2, 11-14).

Das Modell basiert auf der Verantwortungsaufteilung als Trialog zwischen Behandelnden, Betroffenen und Erziehenden, und wird anhand eines schematischen Gesprächsverlaufs zur Erstintervention in fünf Phasen dargestellt.

Diagnostische Kriterien der Anorexia Nervosa

Die Diagnostik der Anorexia nervosa erfolgt anhand des Gewichtsverlaufes sowie der Eigen- und Fremdanamnese zum Essverhalten und zur Selbst- und Körperwahrnehmung der Patient:innen.

Zur Abschätzung der Akuität der Essstörung sind weitere somatische Untersuchungen notwendig.

Für die Früherkennung ist neben routinemässigen Vorsorgeuntersuchungen die Berücksichtigung von somatischen, psychischen, familiären und sozialen Risikofaktoren ausschlaggebend.

Da ein möglichst früher Beginn der Behandlung ausschlaggebend ist für die Prognose, spielt die Früherkennung für den Krankheitsverlauf und die Heilungschancen eine wichtige Rolle.

Hierfür sollte im Rahmen von Vorsorgeuntersuchung bei Jugendlichen im Alter von 12 bis 14 Jahren grundsätzlich eine Kontrolle des Gewichtverlaufes mit Bestimmung des Body Mass Index (BMI) erfolgen und gezielt und altersgemäss nach dem Essverhalten und der Einstellung zu Gewicht und Körper gefragt werden(15).

Zur Risikopopulation gehören aufgrund der Inzidenz grundsätzlich Mädchen zwischen 13 und 15 Jahren aus höheren sozialen Schichten(16,17).

Zudem sind körperliche Risikofaktoren ein besonders tiefes oder hohes Gewicht, wie auch starke Gewichtsschwankungen.

Es gibt Hinweise darauf, dass Patient:innen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Essstörung haben(18,19).

Da es in der Literatur Hinweise gibt auf eine genetische Komponente(20-23), sollten Essstörungen bei der Erhebung der Familienanamnese berücksichtigt werden.

Zusätzlich sollten starkes Über- oder Untergewicht sowie Essverhalten und besondere Diäten erfragt werden.

Aufgrund der Vulnerabilität der Gehirnentwicklung im Jugendalter ist das Risiko der Entwicklung einer Essstörung aufgrund einer Diät deutlich höher als im Erwachsenenalter(24-26).

In Bezug auf das soziale Umfeld stellen Freizeitbeschäftigungen einen Risikofaktor dar, bei denen besonderes Augenmerk auf Aussehen und Gewicht gelegt werden.

Jugendliche sind in ihrem Selbstwert nicht gefestigt und daher empfindlich für Bemerkungen von Peers und Familienmitgliedern über ihre Figur, die als Auslöser für eine Essstörung wirken können.

Für die Diagnosestellung der Anorexia nervosa sind die Kriterien der aktuellen Diagnosesysteme massgeblich, die zusammenfassend die Gewichtsentwicklung, das Verhalten und die Selbstwahrnehmung in Bezug auf das Körpergewicht berücksichtigen.

Das in der ICD-10 noch geforderte Kriterium der endokrinen Störung, die sich in Form einer Amenorrhö bzw. eines Libido- und Potenzverlustes manifestiert, wird im DSM-V und ICD-11 nicht mehr gefordert (da bei präpubertär erkrankten Kindern nicht vorhanden).

Bei Verdacht auf eine Essstörung sollten kognitive Symptome der Essstörung genau erfragt werden, da das psychische Vollbild einer Anorexia nervosa sich bereits bei einem Normalgewicht manifestieren kann, insbesondere wenn vorbestehend leichtes Übergewicht bestand.

Detaillierte Kriterien zur Einschätzung

  1. Zur Einschätzung des ersten Kriteriums ist es entscheidend, das aktuelle Körpergewicht in den Kontext der individuellen Lebensumstände zu setzten.

    Zu bewerten ist, ob das aktuelle Körpergewicht von dem zu erwartendem Gewicht der Betroffenen signifikant abweicht.

    Das Kriterium kann als erfüllt angesehen werden, wenn das Gewicht signifikant unter dem individuell zu erwartendem Gewicht der Person liegt.

    Um hier eine Fehleinschätzung zu vermeiden, sollten zum einen familiäre und ethnische Dispositionen sowie sportliche Betätigung berücksichtigt werden.

    Leistungsportler:innen können aufgrund der Muskelmasse mitunter über der 97. Perzentile liegen und somit formal die Kriterien einer Adipositas erfüllen(27).

    Die ICD-11 nimmt hier Bezug auf Grösse, Alter, Entwicklungsstadium und die bisherige Gewichtsentwicklung.

    Als Richtwert bei Erwachsenen wird ein BMI unter 18.5 kg/m2 und für Kinder- und Jugendliche in der aktuellen S3-Leitlinie die 10.

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