Autismus ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung, die sich durch eine Vielzahl von Symptomen äussert, was die Diagnose und das Verständnis erschwert. Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine tiefgreifende Beeinträchtigung der gesamten Entwicklung eines Menschen.
Symptome von Autismus
Die Autismus-Spektrum-Störung kennzeichnet sich durch folgende drei Symptomgruppen, welche in der Regel frühkindlich zu erkennen und lebenslang vor zu finden sind:
- Defizite im Umgang mit anderen Menschen: Betroffene Personen einer Autismus-Spektrum-Störung haben besonders Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen.
- Kommunikationsdefizite: Kommunikationsdefizite bei Betroffenen können sich auf verschiedene Arten bemerkbar machen.
- Repetitive Verhaltensweisen: Die dritte Symptomgruppe einer Autismus-Spektrum-Störung beinhaltet eingeschränkte, sich wiederholende Verhaltensweisen.
Tagesabläufe erfolgen in Ritualen. Abweichungen von ritualisierten Tagesabläufen führen zu einer Verunsicherung und beunruhigen Betroffene. Auch Veränderungen, wie zum Beispiel das Umstellen der Möbel verunsichern Betroffene und können zu Panik führen. Häufig zu beobachten sind auch Wiederholungen von motorischen Bewegungen (z.B. Hand- oder Fingerbewegungen). Betroffene zeigen häufig auch ein intensives Interesse an bestimmten Themen oder Aktivitäten.
Die Anforderungen an einen Menschen verändern sich über die gesamte Lebensspanne - von der frühen Kindheit mit hauptsächlich familiären Bezugspersonen hin zum Erwachsenenalter und der Anforderung der Selbstständigkeit. Folglich verändert sich auch das klinische Erscheinungsbild einer Autismus-Spektrum-Störung über die gesamte Lebensspanne. Die Diagnose ist somit für das psychologische und medizinische Fachpersonal besonders herausfordernd.
Autismus bei Mädchen
Autismus äussert sich bei Mädchen oft anders als bei Jungen, was dazu führt, dass viele Mädchen erst spät oder gar nicht diagnostiziert werden. Autismus zeigt sich Mädchen häufig anders als bei Jungen. Gründe dafür sind einerseits die Unterschiede in der Symptomatik zwischen den Geschlechtern, andererseits aber auch eine Geschlechtervoreingenommenheit in Forschung und Klinik, die den Blick auf autistische Mädchen verstellt. Autismus wird bei Jungen leichter erkannt, da sich Forschung und Klinik historisch fast nur mit Jungen beschäftigt haben.
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Da Mädchen und Frauen nicht immer die stereotypen Anzeichen aufweisen, werden bei ihnen oft Verhaltensweisen übersehen, die auf Autismus hindeuten. So zeigen Mädchen häufig eine grössere soziale Motivation als Jungen und können ihre Schwierigkeiten in diesem Bereich besser überspielen. Auch repetitive Verhaltensweisen und Spezialinteressen fallen bei Mädchen weniger auf, da sie gesellschaftlich akzeptabler scheinen.
Soziale Motivation
Autismus ist unter anderem durch Schwierigkeiten und Unterschiede in sozialer Kommunikation und Interaktion gekennzeichnet. Manchen autistischen Kindern fällt es schwer, soziale Interaktionen zu beginnen oder aufrecht zu erhalten, so dass sie sich ausgegrenzt oder anders fühlen. Manche Kinder haben Probleme zu verstehen, wann und wie sie sich in ein Gespräch einklinken können. Auf die Frage eines Gleichaltrigen reagiert ein autistisches Kind eventuell kurz oder gar nicht, so dass die Interaktion endet. Manchmal werden Unterhaltungen einseitig, wenn das Kind nicht merkt, dass andere anders spielen wollen und darauf besteht, nach festen Regeln zu spielen. Autistische Mädchen erleben all dies ebenfalls.
Viele zeigen jedoch mehr soziale Motivation - den Drang andere zu verstehen, Kontakt aufzunehmen und Beziehungen einzugehen - als autistische Jungen. Sie sind oft Perfektionistinnen. Der Drang sich einzufügen und makellos zu tarnen, verstärkt perfektionistische Tendenzen. Tarnen ist mental erschöpfend. Es beeinträchtigt das Selbstverständnis. Autistische Mädchen haben oft Schwierigkeiten, die eigenen Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen, da sie ihr authentisches Selbst lange unterdrücken mussten. Identitäts- und Selbstwertprobleme sind häufig; manche merken gar nicht, dass sie sich verstellen.
Wer es gewohnt ist, Merkmale zu verbergen, dem fällt es schwer diese auszudrücken und einzuordnen. Das kann klinische Beurteilungen erschweren. Das beeinträchtigt die Autismusdiagnostik und führt zu Unter- oder Fehldiagnosen. Es kann gesundheitliche Probleme verursachen. Die ständige Sorge sich gesellschaftlichen Normen anzupassen, kann zu Angststörungen und anderen internalisierenden und körperlichen Beschwerden führen.
Anzeichen und Mythen
Früherkennung ist entscheidend, damit autistische Mädchen ohne Scham Selbstverständnis entwickeln und nötige Hilfe erhalten. Sie zeigen seltener repetitive Bewegungen. Hier sind einige verbreitete Mythen über Autismus:
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- Mythos: Autisten fehlt es an Empathie und Mitgefühl.
- Mythos: Autisten sind asozial. Sie haben keine Freunde (online zählt nicht).
- Realität: Viele Autisten, besonders Mädchen, sehnen sich verzweifelt nach Freundschaft, wissen aber nicht wie.
- Mythos: Autisten haben keinen Humor.
- Mythos: Autisten können keinen Blickkontakt halten.
- Realität: Manche haben damit kein Problem oder haben es sich antrainiert.
- Mythos: Autisten sind nicht intelligent und können in der Schule nichts erreichen.
- Realität: Autisten haben eine grosse Bandbreite intellektueller Fähigkeiten, manche eine Beeinträchtigung, andere eine Hochbegabung. Viele erzielen gute Schulleistungen, besonders in ihren Interessensgebieten.
Diagnose von Autismus
Aufgrund der sich verändernden Symptomatik verläuft die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung in zwei Stufen. Die erste Untersuchung (Stufe 1) erfolgt bei Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung. Dabei werden die altersspezifischen Symptome untersucht und eine erste klinische Evaluation der Person wird vorgenommen. Wenn sich der Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung erhärtet, erfolgt die zweite Stufe der Untersuchung. Dabei wird die betroffene Person an eine spezialisierte Stelle überwiesen, um eine vollständige Diagnostik durchzuführen und mögliche andere Ursachen der Symptome ab zu klären.
Denn eine weitere Problematik ist die Ähnlichkeit des klinischen Erscheinungsbildes zu anderen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen - wie zum Beispiel die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Angststörungen, Sprachentwicklungsstörungen oder Zwangsstörungen. Für eine Diagnose müssen die drei Symptomgruppen (Defizite in Kommunikation und sozialer Interaktion sowie repetitive Verhaltensweisen) bereits in früher Kindheit vorliegen. Manchmal können sie sich aber erst in späteren Lebensphasen deutlich machen. Auf der Grundlage der Beeinträchtigung der betroffenen Person werden drei Schweregrade bestimmt: Schweregrad 1 (erfordert Unterstützung), Schweregrad 2 (erfordert umfangreiche Unterstützung) und Schweregrad 3 (erfordert sehr umfangreiche Unterstützung).
Um Autismus bei Mädchen besser erkennen und die Betroffenen unterstützen zu können, ist es wichtig, dass sich Fachleute, aber auch Eltern und Lehrer mit den spezifischen Anzeichen vertraut machen. Vielen Diagnostikern ist nicht bewusst, wie sich autistische Merkmale bei Mädchen zeigen können. Gründliche Diagnostik ist nötig, um Autismus bei Mädchen zu erkennen oder auszuschliessen. Autismus sieht bei Mädchen anders aus. Ärzte müssen genau hinschauen Ärzte übersehen Autismus bei Mädchen, gerade bei denen ohne intellektuelle oder sprachliche Auffälligkeiten, da sie gut im Kaschieren sind. Ihre Symptome sind eher internalisierend und es fällt ihnen schwer, ihre Erfahrungen und Bedürfnisse zu verbalisieren.
Empfehlungen für Ärzte
Ärzte sollten bei der Autismusdiagnostik von Mädchen gezielt nach Beziehungserfahrungen fragen. Einige Fragen:
- Wie erlebt Ihre Patientin Freundschaften und Kontakte?
- Wie findet sie ihre Fähigkeiten Freundschaften zu schliessen und zu halten?
- Wie wirkt sich das auf ihr Selbstwertgefühl aus?
- Wie anstrengend ist Sozialkontakt für sie?
Achten Sie auf Hinweise, dass sie Interaktionen als erschöpfend und mühsam empfindet. Führen Sie längere Testungen durch und beobachten Sie die Patientin eine Zeit lang, um tiefer in ihre Erfahrungen einzutauchen. Screenen Sie auf Komorbiditäten. Autismus und ADHS treten häufig gemeinsam auf und die Symptomüberschneidung ist enorm. Auch Angststörungen und Lernstörungen sind verbreitet. Bilden Sie sich aktiv zu Autismus bei Mädchen fort. Suchen Sie Schulungen, lesen Sie aktuelle Literatur.
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Interventionen und Hilfen
Sichern Sie die Leistungen, die Ihr Kind individuell braucht: Von Sprach-, Ergo- und Physiotherapie bis zu sonderpädagogischer Förderung. Medikamente können bei Stimmungs- und Reaktivitätsproblemen helfen. Schaffen Sie Struktur und Routinen. Fördern Sie Exekutivfunktionen. Die kognitiven Fähigkeiten Handlungen zu planen, priorisieren, organisieren, zeitlich einteilen, zu beginnen und sich selbst zu regulieren, sind bei Autisten oft beeinträchtigt, was den Alltag erheblich erschweren kann. Vermitteln Sie gesunde Bewältigungsstrategien.
Emotionale Dysregulation ist ein grosser Teil von Autismus. Zudem werden Mädchen sozialisiert, Gefühle zu unterdrücken, die sich dann aufstauen und zu intensiven Ausbrüchen führen können. Autistische Mädchen müssen lernen, ihre Gefühle wahrzunehmen, zu benennen und zu verstehen. Sprechen Sie über Autismus aus der neurodiversitätsbejahenden Perspektive.
Menschen mit Autismus verarbeiten Sinneseindrücke anders. Sie können über- oder unterempfindlich auf Lärm, Licht oder Gerüche sein. Überempfindlichkeiten können zu Angst, Schmerz und weiteren unangenehmen Gefühlen führen. Einkaufen zu gehen kann für sie sehr anstrengend sein, da sie die vielen Eindrücke im Supermarkt nicht verarbeiten können. Dies kann zu einem anschliessenden Shutdown enden.
Autistische Menschen haben gewisse Gemeinsamkeiten. Trotzdem ist jeder Mensch (ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener) anders. Sie haben aber auch viele Stärken:
- Ehrlich und direkt: Menschen aus dem autistischen Spektrum sind in der Regel ehrlich und in ihrer Kommunikation offen und direkt. Hintergedanken und Lügen sind ihnen fremd.
- Interessiert an Details: Menschen mit Autismus nehmen Details überdurchschnittlich ausgeprägt wahr. Anders als ihre Mitmenschen sehen sie Dinge und Situationen erst in ihren Einzelmerkmalen, bevor sie diese als Ganzes erfassen. Durch das können sie Unterschiede besser erkennen als Gemeinsamkeiten. Sie finden sehr schnell Fehler und können Arbeiten genau und perfektionistisch ausführen.
- Spezialinteressen: Menschen mit Autismus entwickeln oft spezielle Interessen und vertiefen diese mit einer aussergewöhnlichen Begeisterung und Ausdauer. Damit verbundene Tätigkeiten führen sie gewissenhaft und konzentriert durch. Daraus entsteht ein sehr grosses Wissen über diese Themengebiete (z.B. Flugzeuge, Verkehrsnetze, etc.) und es können auch hervorragende Leistungen resultieren.
- Kreativität: Menschen mit Autismus sind oft sehr kreativ.
Umgang mit sensorischen Reizen
Hier sind einige Tipps, wie man mit sensorischen Reizen umgehen kann, um Menschen mit Autismus zu unterstützen:
- Schaffen Sie eine möglichst reizarme Umgebung.
- Dämpfen Sie grelles Licht oder verwenden Sie Sonnenbrillen.
- Kündigen Sie laute Geräusche vorher an.
- Bieten Sie Ohrstöpsel oder Kopfhörer an.
- Vermeiden Sie stark riechende Speisen.
- Achten Sie auf angenehme Texturen bei Kleidung.
- Kündigen Sie Berührungen vorher an.
- Schaffen Sie Möglichkeiten zur Förderung des Gleichgewichtssinns.
- Verwenden Sie visuelle Unterstützung, um den Betroffenen zu helfen, sich besser zurechtzufinden.
Autismus und ADHS
ADHS gehört genauso wie Autismus zu den Neurodivergenzen. In beiden Fällen funktioniert das Gehirn anders als bei neurotypischen Menschen. Doch worin unterscheiden sich Autismus und ADHS? Autismus und ADHS ähneln sich in vielen Dingen, unterscheiden sich aber auch in mindestens genauso vielen voneinander. Symptome und deren Intensität verändern sich meist mit dem Alter, können also bei Kindern und Jugendlichen, Erwachsenen und Senior:innen unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Überschneidungen, Kombinationen und Mischformen von ADHS und einer Autismus-Spektrum- Störung sind sehr häufig, werden aber nicht immer erkannt, weil sich die Symptome teilweise ausgleichen. Deshalb ist eine professionelle, differenzierte Diagnostik erforderlich.