Die Corona-Pandemie hat die Psyche vieler Menschen weltweit stark belastet. Zunehmende Depressionen und Angststörungen waren die Folge. Eine Studie der australischen Universität von Queensland und der Universität von Washington im Fachmagazin «The Lancet» zeigte, dass es im Covid-Jahr 2020 geschätzte 53 Millionen zusätzliche Fälle von schweren depressiven Störungen und 76 Millionen zusätzliche Fälle von Angststörungen gab, die auf die Viruskrise zurückzuführen sind.
Die Zahl psychischer Erkrankungen hat durch die Corona-Pandemie weltweit enorm zugenommen. Das entspreche global einer Steigerung von 28 beziehungsweise 26 Prozent, schreiben Forscher der australischen Universität von Queensland und der Universität von Washington im Fachmagazin «The Lancet». Regierungen in aller Welt müssten dem Trend dringend gegensteuern, so die Forscher.
In Deutschland war die Zuwachsrate mit jeweils knapp 17 Prozent noch vergleichsweise niedrig. Deutlich stärker war der Anstieg etwa in Frankreich, Spanien und Italien, zeigen Daten der Forscher. Jedoch fehlten aus vielen Ländern Angaben, speziell aus Staaten mit niedrigen und mittleren Einkommen. Weitere Erhebungen seien nötig.
Die fehlende Interaktion mit Gleichaltrigen, Schulschliessungen und die Angst vor Arbeitslosigkeit seien wichtige Faktoren, sagte Co-Autorin Alize Ferrari einer Mitteilung zufolge. Am schlimmsten sind demnach jüngere Menschen betroffen. Zudem hätten psychische Störungen bei Frauen deutlich mehr zugenommen als bei Männern. «Leider waren Frauen aus zahlreichen Gründen immer stärker von den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie betroffen.» Mehr Pflege- und Haushaltspflichten sowie häusliche Gewalt im Lockdown spielten dabei eine wichtige Rolle.
Die Wissenschaftler um Damian Santomauro vom Queensland Zentrum für psychische Gesundheitsforschung (QCMHR) betonten, dies sei die erste Studie, die die globalen Auswirkungen der Krise auf psychische Störungen in 204 Ländern nach Alter, Geschlecht und Ort quantifiziere. Die meisten Forschungen hätten sich bisher auf bestimmte Orte und einen kurzen Zeitraum konzentriert.
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«Die Meta-Analyse zeigt, dass eine erhöhte Covid-19-Infektionsrate und eine verringerte Bewegungsfreiheit der Menschen mit einer erhöhten Prävalenz von schweren depressiven Störungen und Angststörungen verbunden waren», hiess es. Dies deute darauf hin, dass sich psychische Krankheiten besonders in den Ländern gehäuft hätten, die besonders von Corona betroffen waren.
Die Autoren forderten Regierungen und politische Entscheidungsträger auf, dringend Massnahmen zu ergreifen, um die psychosozialen Gesundheitssysteme weltweit zu stärken und der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden. Kollegen aus Grossbritannien und Schweden schlossen sich in einem «Lancet»-Kommentar dem Appell an. Es müsse dringend mehr geforscht werden, um die psychische Gesundheit im Kontext der Pandemie weltweit zu verbessern, so die Experten.
Auswirkungen der Corona-Massnahmen auf Menschen mit Depressionen
Wissenschaftler um Prof. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, haben in der Pandemie Menschen mit und ohne Depressionen zu den Auswirkungen befragt, die die Kontaktbeschränkungen und andere Massnahmen für sie haben. Das Ergebnis ihres „Deutschland-Barometer Depression“ ist eindeutig: Menschen mit Depressionen trifft die Pandemie um ein Vielfaches härter.
Depressiv Erkrankte hatten dabei zwar nicht mehr Angst, sich mit dem Corona-Virus anzustecken als die übrige Bevölkerung (43 Prozent versus 42 Prozent). Sie erlebten den Lockdown aber deutlich häufiger als belastend (74 Prozent versus 59 Prozent). Und das auch langfristig: So gaben noch im Juli dieses Jahres 68 Prozent von ihnen an, die Situation als bedrückend zu empfinden. In der Allgemeinbevölkerung waren es nur 36 Prozent.
Eine, die den Lockdown als Mensch mit Depressionen erlebt hat, ist Lena Ulrich. Über ihre persönlichen Erfahrungen hat die 37-Jährige im Rahmen einer Pressekonferenz zur Präsentation des Depressions-Barometers berichtet. Ulrich lebt seit vielen Jahren mit ihrer seelischen Erkrankung, hat aber gelernt, mit ihr umzugehen.
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Wenn die Stützen wegbrechen
Entscheidend für ihre Stabilität sind dabei verschieden Pfeiler. Da ist ihre Tätigkeit als Freiberuflerin, die neben finanzieller Sicherheit auch Austausch mit anderen Menschen mit sich bringt. Da ist das Netz an Freunden, das sie stärkt. Hinzu kommt regelmässiges Auspowern im Fitnessstudio, denn Sport, so wissen Fachleute und Betroffene, unterstützt die seelische Stabilität bei Depressionen ganz erheblich.
„Das alles ist im Lockdown von einem Tag auf den anderen weggebrochen“, erinnert sich Ulrich. Die Auswirkungen machten sich schnell bemerkbar. Statt der leichten depressiven Episoden, die sie noch immer von Zeit zu Zeit heimsuchen, fiel sie zum ersten Mal seit Jahren in das Loch einer starken Depression. „Das fühlt sich so an, wie man sich als Kind die Hölle vorstellt“, sagt Ulrich.
10 Jahre weniger Lebenszeit
„Eine solche Phase ist mit dem Schlecht-drauf-sein, das seelisch gesunde Menschen von Zeit zu Zeit erleben, nicht zu vergleichen“, sagt Hegerl. Eine Depression sei eine schwerwiegende Erkrankung. Die Lebenszeit von Betroffenen verkürze sich um rund zehn Jahre.
Die Krankheit bewirkt unter anderem, dass die Betroffenen weniger gut für sich sorgen können - weniger Bewegung, schlechte Ernährung, oft mehr Alkohol und Zigaretten. Hinzu kommen Schlafstörungen und der dauernde Stress, der unter anderem das Herz-Kreislauf-System erheblich schädigen kann.
Und so verwundert es den Psychiater auch nicht, dass depressive Menschen aktuellen Studien zufolge häufiger schwer an Covid-19 erkranken. „Die Depression ist eine Erkrankung, die den Köper in vielen Bereichen negativ beeinträchtigt, beispielsweise auch das Immunsystem.“
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Grübeln im Bett
Im Lockdown, so zeigte die Barometer-Umfrage, hätten Verhaltensweisen zugenommen, die eine Depression ungünstig beeinflussen. So zeigte die Depression-Barometer-Befragung, dass Menschen in einer depressiven Phase zum Beispiel fast doppelt so häufig unter einer fehlenden Tagesstruktur (75 Prozent) und Grübelei (89 Prozent) litten als die Allgemeinbevölkerung (39 und 41 Prozent). In der häuslichen Isolation sind depressiv Erkrankte zudem deutlich häufiger tagsüber im Bett geblieben (48 Prozent versus 21 Prozent).
Therapeutische Versorgung bleibt im Lockdown auf der Strecke
Auch die medizinisch-therapeutische Versorgung blieb im Lockdown auf der Strecke: Jeder zweite Betroffene berichtete, dass psychiatrische und Therapeutentermine ausgefallen seien - 13 Prozent sagten selbst aus Angst vor Ansteckung die Termine ab. Ebenso entfiel jeder zehnte geplante Klinikaufenthalt.
Auch die Treffen von Selbsthilfegruppen, die vielen Menschen mit Depressionen eine wichtige Stütze sind, fanden vielfach nicht statt. Besonders hart hat es zudem all jene getroffen, die in der Corona-Zeit erstmals an einer Depression erkrankt sind. Die ohnehin mühevolle Aufgabe, sich Hilfe zu organisieren, wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch zusätzlich erschwert.
Im Lockdown helfen Onlinesprechstunden
Lena Ulrich hingegen hatte in dieser Hinsicht Glück: Ihre Therapeutin stellte ihr Angebot sofort auf Onlinebetrieb um. „Das hat für mich überraschend gut funktioniert“, berichtet Ulrich. Auch online hätte sich eine sehr schöne Atmosphäre entwickelt.
Psychiater Hegerl bewertet therapeutische Onlineangebote ebenfalls positiv. Wenn die Diagnose bereits gestellt sei und ein Vertrauensverhältnis zwischen Klienten und Therapeuten bestehe, sei das eine gute Überbrückung. Er schränkt aber ein: „Onlineangebote können helfen, aber sie sind kein vollständiger Ersatz“. Digital gingen viele Signale verloren. „Die Chance, als Therapeut eine krisenhafte Zuspitzung zu erkennen, schätze ich höher ein, wenn man sich direkt gegenübersitzt und in die Augen schaut.“
Tatsächlich sind psychotherapeutische Onlinesprechstunden laut Kassenärztlicher Vereinigung ohnehin keine Option, wenn der Patient in einer akuten Krise ist oder den Therapeuten noch nicht kennt. Insgesamt hat die Akzeptanz der Onlinesprechstunden in der Corona-Krise aber deutlich zugenommen.
Verhaltenstherapie als Online-Kurs
Eine weitere digitale Stütze für die Seele können Onlineprogramme sein, die auf den Prinzipien kognitiver Verhaltenstherapien basieren. In verschiedenen Modulen lernt der Patient, Krankheitsmechanismen zu entschlüsseln und neue Denk- und Verhaltensweisen zu entwickeln. Die beste Wirksamkeit entfalten diese Onlineprogramme allerdings in Kombination mit professioneller Betreuung, sagt Hegerl.
Angesichts des zweiten Teil-Lockdowns befürchtet er, dass sich die Misere in der Versorgung psychisch Kranker wiederholt: „Für Menschen mit einer Depression wird der Rückzug in die eigenen vier Wände wieder viele negative Auswirkungen haben“, prognostizierte der Psychiater. Depressiv Erkrankte hätten so mehr Zeit zum Grübeln und könnten noch tiefer in die Depression geraten. „Das sind Aspekte, die mir grosse Sorgen bereiten.“
Wird es mehr Suizidversuche geben?
Er befürchte, dass die Zahl der Suizidversuche steige, wenn die Versorgungsqualität wieder runtergehe, so Hegerl. Menschen würden nicht durch finanzielle Probleme in den Suizid getrieben, sondern deshalb, weil eine zugrundeliegende Depression nicht ausreichend behandelt werde.
Wie entscheidend eine gute Versorgung ist, zeigt die Statistik: In den letzten Jahrzehnten ist es gelungen, durch entsprechende Angebote die Suizidzahlen in Deutschland nahezu zu halbieren.
„Befürchte keine Depressionsepidemie“
Dass aufgrund eines erneuten Lockdowns mehr Menschen depressiv werden, befürchtet Hegerl indes nicht. „Wir erwarten keine durch Corona ausgelöste Depressionsepidemie“, erklärt der Wissenschaftler. Denn Depressionen seien vor allem Veranlagungssache. „Der Einfluss von äusseren Umständen wird in der Bevölkerung oft überschätzt“, sagt Hegerl. Habe ein Mensch keine entsprechende Veranlagung, entwickle er auch in Zeiten, in denen es ihm sehr schlecht gehe, keine Depression.
Joggen statt Fitnessstudio
Ulrich hingegen begegnet dem erneuten Lockdown mit Zuversicht. „Ich habe damit gerechnet, dass das kommt“, sagt sie. Ihre berufliche Auftragslage, die im Frühjahr eingebrochen war, hat sich erholt, die Psychotherapie per Videochat funktioniert, und statt ins Fitnessstudio zu gehen hat sie nun - wie viele andere Menschen - mit dem Joggen angefangen. Doch nicht jeder Depressive hat die Kraft, wie sie Dinge in die eigene Hand zu nehmen.
Veränderter Lebensstil und Zunahme psychischer Probleme
Corona hat den Lebensstil vieler Menschen stark verändert. Die Folge: Psychische Probleme nehmen zu.
Geschlossene Fitnessstudios und Hallenbäder, darniederliegendes Vereinsleben, keine Anlässe: Covid-19 zwingt die Menschen dazu, ihre Aktivitäten stark herunterzufahren. Das trifft jene Menschen besonders hart, die vor der Pandemie einen aktiven Lebensstil pflegten. Also tendenziell jüngere Menschen und solche, die sich regelmässig sportlich betätigten.
Dass körperliche Aktivität einen Einfluss hat auf die seelische Gesundheit, ist schon länger bekannt. Eine der Folgen ist die Zunahme von Depressionen. Doch dass der Zusammenhang noch stärker ist als bisher angenommen, belegt eine aktuelle Untersuchung aus den USA: Die Studie mit knapp 700 College-Studierenden zeigte, dass die Störung der körperlichen Aktivität während der Pandemie ein Hauptrisikofaktor für Depressionen ist.
Die Anzahl der täglichen Schritte der Studienteilnehmenden ging von durchschnittlich 10’ 000 vor der Pandemie auf 4600 Schritte zurück. Gleichzeitig stieg die Depressionsrate von 32 auf 61 Prozent an.
Aktiv bleiben trotz Einschränkungen
Zwischen den Teilnehmenden, deren körperliche Aktivität stark abgenommen hatte, und jenen, die ihre Gewohnheiten beibehalten haben, unterschied sich die Depressionsrate um 15 bis 18 Prozent. «Unsere Ergebnisse zeigen deutlich, dass diejenigen, die während der gesamten Pandemie körperliche Bewegung aufrechterhielten, am widerstandsfähigsten waren und am wenigsten an Depressionen litten», kommentiert Sally Sadoff von der Universität San Diego die Studienergebnisse, die in der Fachzeitschrift PNAS erschienen sind.
Die Autoren der Studie weisen auf den alarmierenden Befund hin, dass Depressionen bei jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren während der Pandemie fast doppelt so häufig auftraten wie zuvor: Von März bis Juli 2020 stiegen die Depressionsraten um 90 Prozent.
Sport hat auch soziale Funktion
Kurzfristig mehr körperliche Betätigung verbesserte das seelische Wohlbefinden jedoch nicht wesentlich: Die Hälfte der Studienteilnehmenden sollte zwei Wochen lang mindestens 10’000 Schritte täglich gehen. Das erhöhte ihre körperliche Aktivität um fast 40 Minuten pro Tag, führte aber weder zu einer signifikanten Verbesserung der psychischen Gesundheit noch dazu, dass sie dieses Verhalten über längere Zeit durchhielten.
Die Studienautoren spekulieren, dass neben der körperlichen Aktivität auch andere Faktoren wie soziale Interaktionen beim Sport eine Rolle für die psychische Gesundheit spielen dürften.
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