Sich Zurücknehmen: Psychologie, Ursachen und Umgang

Gutmütige Menschen gehen in schwierigen Situationen oft leer aus. Sie werden von ihren «durchsetzungsstarken» Kolleginnen und Kollegen überrollt. Gerne würden sie dies nachhaltig ändern, doch das ist einfacher gesagt als getan.

Konfliktverhalten und seine Ursachen

In Konfliktsituationen reagieren wir häufig emotional und denken uns: «Was fällt dem andern eigentlich ein, mich so zu behandeln? Dem zeige ich es, dass ich das nicht mit mir machen lasse!» Und so geschieht es, dass wir lauter und wütender reagieren, als wir es eigentlich beabsichtigt haben. Häufig provozieren wir dadurch eine noch wütendere und noch lautere Gegenreaktion. Es ist auch möglich, dass wir uns zurückziehen, unsere Emotionen unterdrücken, die Faust im Sack machen und irgendwann explodieren.

Passiv-aggressives Verhalten ist eine subtile Form der Aggression in Beziehungen und Arbeit. Typische Anzeichen sind Schweigen, Sabotage, Sarkasmus und Pseudo-Zustimmung. Es beginnt oft harmlos - eine unbeantwortete Nachricht, ein vergessener Termin, ein sarkastischer Spruch. Doch wer öfter mit passiv-aggressivem Verhalten konfrontiert ist, merkt schnell: Mit diesem Menschen stimmt etwas nicht. Es ist ein Verhalten, das provoziert - aber nie so offen, dass man den Konflikt direkt ansprechen kann. Und genau das macht es so wahnsinnig anstrengend. So ein Verhalten ist Gift für zwischenmenschliche Beziehungen, Psychologinnen und Psychologen bezeichnen es als passiv-aggressive Kommunikation.

Was genau bedeutet «passiv-aggressiv»?

Der Begriff beschreibt ein Verhalten, bei dem Ärger oder Widerstand nicht direkt geäussert, sondern indirekt - und meist auf subtile Weise - zum Ausdruck gebracht wird. Anstatt zu sagen: «Ich bin wütend auf dich», kommt ein seufzendes «Schon gut, passt schon» oder ein «Ich will nicht darüber sprechen». Bestenfalls. Vielleicht kommt nämlich auch gar keine Antwort auf die Frage, was denn genau los sei. Denn die Menschen mit passiv-aggressivem Verhalten spielen Verletzungen herunter, vermeiden offene Konfrontation - und lassen gleichzeitig kein echtes Gespräch zu. So lassen sie Betroffene komplett allein mit der Frage, was denn das eigentliche Problem ist.

Die Spielarten sind vielfältig - und oft so subtil, dass man sie erst im Nachhinein bemerkt:

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  • Verweigerung durch Schweigen: Statt zu sagen, dass etwas nicht passt, wird der Kontakt einfach eingestellt. Funkstille - ohne Erklärung. Blockaden im Telefon oder das Ignorieren aller Anfragen zur Klärung der Situation.
  • Sabotage in der Zusammenarbeit: Aufgaben werden «vergessen», Termine verpasst oder sabotiert - aus Versehen natürlich. Man stellt sich unwissend. Jedoch folgt auch keine Anerkennung bzw. ein Dankeschön dafür, dass dann eine andere Person die Aufgaben übernimmt.
  • Sarkasmus als Waffe: «Das hast du ja wieder mal grossartig gemacht» - klingt wie Lob, ist aber pure Abwertung.
  • Pseudo-Zustimmung: «Klar, machen wir so.» Aber danach wird der Plan systematisch untergraben.

In Beziehungen führt passiv-aggressives Verhalten zu einem ständigen Gefühl der Verwirrung und Unsicherheit. Man weiss nie genau, woran man ist. Jede noch so unbedeutend wirkende Unterhaltung kann zu einer psychischen Falle werden - denn wer sich offen über das Verhalten des anderen beschwert, wird schnell als «überempfindlich» oder «zu dramatisch» abgestempelt. Besonders perfide wird es, wenn einem sogar «psychische Probleme» oder «eine gestörte Wahrnehmung» unterstellt werden - ein Angriff, der die eigene Wahrnehmung und den Wunsch nach Klarheit zusätzlich untergräbt. In solchen Momenten fühlt man sich oft hilflos, als wäre die Realität nicht mehr eindeutig. Das ständige Hinterfragen der eigenen Gefühle kann zu einem tiefen Verlust des Vertrauens führen und die Beziehung auf eine toxische Ebene ziehen.

Warum verhalten sich Menschen so, und was steckt dahinter?

Psychologen sehen passiv-aggressives Verhalten oft als Selbstschutzstrategie. Viele Menschen haben nie gelernt, Ärger oder Frust gesund zu äussern, und haben starke Angst vor Ablehnung, wenn sie ihre Meinung sagen. Also weichen sie auf indirekte Wege aus. Die Wurzeln für passiv-aggressives Verhalten liegen oft tief in der Kindheit. Häufig stammen die Personen aus einem Umfeld, in dem offene Emotionen - insbesondere Wut oder Frustration - nicht erwünscht oder sogar bestraft wurden.

Ein weiterer zentraler Punkt: Viele passiv-aggressive Menschen tragen tief sitzende Scham- oder Minderwertigkeitsgefühle in sich. Sie haben Angst, durch Offenheit abgelehnt oder verletzt zu werden - und versuchen deshalb, auf subtilen Wegen die Kontrolle zu behalten. Sie möchten unbedingt überall als beliebt und unkompliziert gelten. Es geht dabei oft weniger um Bosheit als um Selbstschutz.

Forscher der Mayo Clinic sehen passiv-aggressives Verhalten zudem oft im Zusammenhang mit narzisstischen Persönlichkeitszügen. In solchen Fällen wird es gezielt eingesetzt, um andere zu kontrollieren oder zu bestrafen und sich dabei selbst überlegen zu fühlen.

Auswirkungen von Mobbing und sozialem Rückzug

Mobbing ist ein wiederholtes und gezieltes aggressives Verhalten, bei dem eine Person oder Gruppe eine andere Person psychisch oder physisch angreift, ausgrenzt, belästigt oder erniedrigt. Es tritt meist über einen längeren Zeitraum hinweg auf und zielt darauf ab, das Opfer zu verletzen oder zu dominieren.

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Die Ergebnisse einer Studie zeigen, dass Mobbing- und Misshandlungserfahrungen durch Mitschüler:innen und Lehrkräfte das Risiko für psychische Probleme allgemein und für Hikikomori speziell erhöhen. Der Begriff Hikikomori (etymologisch abgeleitet von den Verben hiki "sich zurückziehen" und komori "sich zurückziehen") wurde Ende der 1990er Jahre von Tamaki Saito geprägt. Der japanische Psychiater versuchte in seinem Buch "Adolescence Without End" (2013) auf ein zunehmendes Phänomen des sozialen Rückzugs aufmerksam zu machen, das sich nicht durch bestehende psychiatrische Störungen erklären liess.

Diagnosekriterien für Hikikomori

Die in der neueren Literatur am häufigsten verwendeten Diagnosekriterien für HS sind nach Kato und Kollegen (2020):

  1. Ausgeprägte soziale Isolation in der eigenen Wohnung
  2. Dauer der ununterbrochenen sozialen Isolation von mindestens sechs Monaten
  3. Erhebliche funktionelle Beeinträchtigung oder Leiden im Zusammenhang mit der sozialen Isolation.

Anpassungsstörungen und Verbitterung

Einschneidende Lebensveränderungen oder belastende Lebensereignisse lösen bei den meisten Menschen Stresserleben aus. Wenn solche Gefühle aber so stark überhandnehmen, dass Sie Ihnen Ihre Handlungsfreiheit rauben, handelt es sich möglicherweise um eine Anpassungsstörung. Anpassungsstörungen sind immer Reaktionen auf eine konkrete Belastung. Kritische Lebenssituationen erfordern von jeder betroffenen Person Anpassungsleistungen. Ob während diesem Bewältigungsprozess relevante psychische Beschwerden auftreten, hängt nach heutigem Wissensstand von verschiedenen Faktoren ab.

Verbitterung kann als Endstadium einer Folge von aufeinander aufbauenden und miteinander verflochtenen Emotionen verstanden werden: Erlebnisse, die zu Frustration, Ärger anderen und sich selber gegenüber führen können -> Gefühl, Opfer von Unfairness, Unrecht und Herabwürdigung zu sein -> Groll, Aggression und Rachegefühle, gleichzeitig Hilf- und Hoffnungslosigkeit über eine nicht veränderbare, nicht rückgängig zu machende Situation -> Verzweiflung => Verbitterung.

Umgang mit Ablehnung und Zurückweisung

Jeder Mensch kennt den Moment, in dem man etwas wagt, wo Adrenalin durch den Körper schiesst - und dann der Stich ins Herz folgt: Jeder Mensch kennt ihn, hat ihn schon unzählige Male erlebt. Trotzdem tut Zurückweisung immer wieder weh. Soziale Ablehnung wirkt im Gehirn also ebenso real wie physischer Schmerz.

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Wichtiger als die Zurückweisung sei die Frage, wie man mit der Ablehnung umgehe und was man als Nächstes mache. Im Verlauf eines Experiments verlor ein Teilnehmer mehr und mehr die Angst vor Zurückweisung. Und er realisierte, dass er gar nicht so häufig abgewiesen wurde, wie er vermutet hatte.

Es sei aber nicht nötig, stets vom Schlechtesten auszugehen, nur um nicht verletzt zu werden. Besser sei es, einen sicheren Raum zu schaffen. «Das kann ein Hobby oder eine sinnstiftende Aktivität sein. Irgendetwas, bei dem man sich zurückziehen und Freude empfinden kann - ohne dabei vom Urteil anderer abhängig zu sein.»

Strategien zur Verbesserung der Kommunikation und Konfliktlösung

Sowohl als auch - daher «und» statt «aber»! Wir können und sollen unsere Interessen vertreten und dafür einstehen (wer würde es sonst tun, wenn nicht wir selbst?!) und wir können dies sehr bestimmt, beharrlich und gleichzeitig freundlich tun. Wir können «hart in der Sache und weich zu den Menschen» sein. Dies ist ein Grundsatz des Harvard-Verhandlungskonzepts der Autoren William Ury und Roger Fisher.

Gegenüber Menschen respektvoll zu bleiben, bedeutet nicht, dass wir unsere Emotionen unterdrücken, sondern, dass wir uns nicht von ihnen beherrschen lassen. Zwischen unserem Ärger über die andere Person und unserer Reaktion darauf, gibt es einen Raum, in welchem gemäss Viktor Frankl unsere Macht zur Wahlmöglichkeit liegt. Statt ärgerlich zu reagieren, uns zurückzuziehen oder die Faust im Sack zu machen, sprechen wir weiterhin in einem freundlichen oder zumindest neutralen Ton an, was uns auf dem Herzen liegt. So ist es möglich, dass wir die andere Person nicht verletzen.

Für unsere Interessen einstehen bedeutet: Wir formulieren unsere Anliegen, unsere Wünsche und unsere Sichtweise klar. Es bedeutet nicht, dass die andere Person im Unrecht ist. Auch die andere Person hat Gründe, weshalb sie sich so und nicht anders verhält. Diese Gründe gilt es zu würdigen. Gemäss des Verhandlungsexperten Matthias Schranner sind Verhandlungen zum Scheitern verurteilt, sobald jemand beweisen will, dass die andere Person im Unrecht ist.

Hier sind einige Strategien, die helfen können:

  • Betonen Sie das gemeinsame Ziel: Während schwierigen Gesprächen sehen wir häufig nur die Differenzen und betrachten andere als Gegner oder Feinde. Dabei geht das gemeinsame Ziel häufig vergessen. Beziehen Sie sich immer wieder auf das, was Ihnen beiden wichtig ist.
  • Sammeln Sie Optionen: Oft scheitern Gespräche, weil sich beide Parteien gegenseitig von der eigenen Position zu überzeugen versuchen. Stellen Sie weitere Fragen, statt bereits Gegenargumente zu liefern. Eine Auslegeordnung öffnet den Weg für Varianten und neue Möglichkeiten.
  • Fokussieren Sie auf das gute Ergebnis: Richten Sie in verfahrenen Situationen den Blick auf die Zukunft. Was ist Ihre Vision? Es geht nicht darum, wer Recht hat, wer schuld oder mühsam in der Zusammenarbeit ist. Vielmehr geht es darum, wie Sie gemeinsam vorwärtskommen möchten.
  • Sorgen Sie dafür, dass die andere Person auch dann ihr Gesicht wahren kann, wenn Sie sich in den wichtigen Punkten durchgesetzt haben.
  • Unterstellen Sie Ihrem Gegenüber eine gute Absicht: Bei Uneinigkeiten wird die andere Seite oft als mühsam oder nervig wahrgenommen - Sie umgekehrt übrigens auch, obwohl Sie doch nur in guter Absicht handeln! Unterstellen Sie diese gute Absicht auch dem Gegenüber.

Was tun, wenn man betroffen ist?

Der Umgang mit passiv-aggressiven Personen ist herausfordernd - aber nicht hoffnungslos.

  1. Verhalten erkennen und benennen: Sage klipp und klar: «Mir fällt auf, dass du oft ignorant reagierst, wenn dich etwas stört. Was ist los?» Das nimmt der Situation eventuell das Versteckspiel.
  2. Nicht persönlich nehmen: Passiv-aggressives Verhalten sagt mehr über den anderen aus als über dich. Versuche, sachlich zu bleiben - und lass dich nicht provozieren, auch wenn das bestimmt schwerfällt.
  3. Grenzen setzen: Wenn das Verhalten zur Belastung wird: Ziehe eine klare Linie.
  4. Hilfe vorschlagen: Wenn dir jemand wichtig ist: Ermutige diesen Menschen zur Selbstreflexion oder sogar dazu, professionelle Hilfe anzunehmen. Verhaltenstherapie kann helfen, neue Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln.
  5. Was, wenn man selbst so handelt?: Kleiner Reality-Check: Hast du dich in diesem Artikel vielleicht wiedererkannt?

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