Bei vielen Menschen beschwört der Begriff Autismus noch immer stereotype Bilder fiktionaler Darstellungen wie im Film «Rain Man» herauf. Doch während das Bild nicht vollkommen falsch ist, ist es doch sehr einseitig. Autismus ist ein Spektrum mit vielfältigen Formen. Wie es der Name «Spektrum» ausdrückt, ist die Spannbreite des Autismus gross und Störungen zeigen sich sehr unterschiedlich.
Was ist Autismus?
Autistische Merkmale können einerseits früh im Leben sehr ausgeprägt auftreten oder so, dass sie erst viel später auffallen. Symptome von Autismus zeigen sich in der Sprache, in Auffälligkeiten der sozialen Interaktionen (Mimik, Gestik, ungeschickte Kontaktaufnahme) und indem Betroffene stereotype Verhaltensmuster an den Tag legen. Dies meint zum Beispiel das unaufhörliche Drehen an Rädern von Spielzeugautos, Aufreihen von Gegenständen oder indem sie Mühe mit Programmänderungen haben.
Autismus-Spektrum-Störungen entstehen nicht durch Erziehungsfehler. Die Ursachen sind bis zum heutigen Tag nicht restlos geklärt. Man nimmt an, dass genetische und biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt das Gehirn beeinträchtigen und eine Autismus-Spektrum-Störung auslösen könnten.
Diagnose und Formen
Bislang wurde Autismus in mehrere Formen unterteilt. Mit Einführung der ICD-11 im kommenden Jahr wird diese Kategorisierung hinfällig. Ab dann ist nur noch von einer allgemeinen Autismus Spektrum Störung (englisch Autism Spectrum Disorder, ASD) die Sprache. Grund dafür ist die Erkenntnisse, dass sich Autismus nicht klar abgrenzen lässt. Auch das früher separat behandelte Asperger Syndrom fällt in Zukunft darunter. Dieses Syndrom, das der österreichische Arzt Hans Asperger ab Mitte der 1920er-Jahre aufdeckte, galt bislang als milde Form des Autismus.
Zur gleichen Zeit wie er entdeckte der österreich-amerikanische Psychiater Leo Kanner unabhängig von ihm den frühkindlichen Autismus. Als dieser wird eine tiefergreifende Beeinträchtigung beschrieben. So geht der Kanner-Autismus meist mit verzögerter Sprachentwicklung einher, während sich Asperger-Autisten gut auszudrücken wissen. Diese leiden dagegen häufiger unter motorischen Problemen, sind tollpatschig und ungeschickt.
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Besonderheiten und Stärken von Menschen mit Autismus
Menschen mit dieser Diagnose, haben aber auch ganz viele Stärken. So sind ihnen Hintergedanken und Lügen fremd und wenn sie sich für ein Thema interessieren, vertiefen sie sich meist mit grosser Konzentration und Ausdauer darin. Viele Autisten sind hochintelligent. Sie können sich Daten, Namen und Orte sehr gu merken oder kennen halbe Lexika auswendig. Oft wird dann von hochfunktionalem Autismus gesprochen.
Typisch für Menschen auf dem autistischen Spektrum ist eine reduzierte soziale Interaktion. Schon als Babys suchen sie weit weniger Kontakt zu ihren Eltern (insbesondere der Mutter) als andere Kinder. Sie vermeiden direkten Blickkontakt und beschäftigen sich lieber mit Gegenständen.
Marco Odermatt: Ein Beispiel für Fortschritte durch Förderung
Der 20-jährige Marco Odermatt, erhielt die Diagnose «frühkindlicher Autismus» im Alter von zwei Jahren. Sein Vater, Reto Odermatt, Präsident des Vereins Autismus deutsche Schweiz, erinnert sich: «Wir haben extrem schwierige Zeiten erlebt als Eltern eines autistischen Kindes. Niemand kannte damals Autismus. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, begrüsste mich Marco nie, sondern war nur physisch anwesend und wirkte ansonsten apathisch. Ich konnte Marco lange Zeit gar nicht auf den Arm nehmen und keinen Augenkontakt herstellen. Heute hat Marco grosse Fortschritte gemacht. Er nimmt sogar Blickkontakt auf und hat sich in jahrelangem Training selber das Schreiben angeeignet.»
Marcos Woche sieht so aus, dass er jeweils drei Stunden vor- und drei Stunden nachmittags zuhause von drei Betreuerinnen gefördert wird. Sein Vater, Reto Odermatt, erklärt: «Das Vorgehen ist sehr strukturiert und wird monatlich an die Bedürfnisse von Marco angepasst. Schreiben, Logikspiele, Zusammensetzspiele, Übungen am PC, Arbeiten im Haushalt gehören dazu. Montags, mittwochs und freitags, geht Marco in die Schreinerei Biber und Specht in Dallenwil arbeiten.
Die Perspektive von Marco Odermatt
Wenn du Mitmenschen beobachtest, bemerkst du dein «Anders-Sein». Wo fällt dir das am meisten auf? Dass ich anders bin, merke ich, wenn Leute mich manchmal blöd anschauen. Sie haben einfach keine Ahnung, wie das für mich ist. Es ist nicht schön für mich. Aber ich habe so viele gute Leute um mich. Die Leute sollen ganz normal mit mir sein. Arbeiten tu ich gerne. Das macht mir grossen Spass. Ich reite sehr gern. Ich wünsche mir, dass alles noch lang so weitergeht. Auch dass ich noch weiter zu Hause sein kann. Alle Leute müssen wissen, dass wir anders sind. Wir denken anders. Wir brauchen viel Hilfe. Wir haben nicht gern zu viele Leute auf einmal. Zu viel und grossen Lärm, mögen wir nicht. Wir haben auch mal gern Ruhe. Für mich ist es schlimm, wenn die Leute meinen, ich sei blöd. Das stimmt nicht. Ich verstehe alles, wenn sie reden. Sie sind nicht viel gescheiter als ich. So habe ich auch viele gute Seiten.
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Autismus bei Mädchen: Eine besondere Betrachtung
Autismus äussert sich bei Mädchen oft anders als bei Jungen, was dazu führt, dass viele Mädchen erst spät oder gar nicht diagnostiziert werden. Gründe dafür sind einerseits die Unterschiede in der Symptomatik zwischen den Geschlechtern, andererseits aber auch eine Geschlechtervoreingenommenheit in Forschung und Klinik, die den Blick auf autistische Mädchen verstellt. So zeigen Mädchen häufig eine grössere soziale Motivation als Jungen und können ihre Schwierigkeiten in diesem Bereich besser überspielen. Auch repetitive Verhaltensweisen und Spezialinteressen fallen bei Mädchen weniger auf, da sie gesellschaftlich akzeptabler scheinen.
Mädchen blieben dagegen noch bis ins neue Jahrtausend weitergehend unter dem Radar. Da sie schon frühkindlichem Alter viel stärker darauf geprägt werden «nett und sozial» zu sein, legen sich autistische Mädchen schon früh eine entsprechende Maske zu. Ihre wahren Gefühle bleiben dahinter verborgen. Dennoch bleiben sie oft Aussenseiterinnen, weil ihnen die überbordende Gefühlswelt anderer Mädchen fremd ist und sie mit ihrer sehr ehrlichen ungefilterten Art anecken. Das autistische Gehirn versteht nicht, warum es dem anderen Mädchen nicht sagen darf, dass das Glitzer-Einhorn zum Weglaufen hässlich ist.
Um Autismus bei Mädchen besser erkennen und die Betroffenen unterstützen zu können, ist es wichtig, dass sich Fachleute, aber auch Eltern und Lehrer mit den spezifischen Anzeichen vertraut machen.
Herausforderungen in der Diagnostik
Viele Diagnostikern ist nicht bewusst, wie sich autistische Merkmale bei Mädchen zeigen können. Da Mädchen und Frauen nicht immer die stereotypen Anzeichen aufweisen, werden bei ihnen oft Verhaltensweisen übersehen, die auf Autismus hindeuten.
Soziale Motivation bei Mädchen
Autistische Mädchen erleben all dies ebenfalls. Viele zeigen jedoch mehr soziale Motivation - den Drang andere zu verstehen, Kontakt aufzunehmen und Beziehungen einzugehen - als autistische Jungen. Sie sind oft Perfektionistinnen. Der Drang sich einzufügen und makellos zu tarnen, verstärkt perfektionistische Tendenzen. Tarnen ist mental erschöpfend. Es beeinträchtigt das Selbstverständnis. Autistische Mädchen haben oft Schwierigkeiten, die eigenen Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen, da sie ihr authentisches Selbst lange unterdrücken mussten. Identitäts- und Selbstwertprobleme sind häufig; manche merken gar nicht, dass sie sich verstellen. Es kann klinische Beurteilungen erschweren. Wer es gewohnt ist, Merkmale zu verbergen, dem fällt es schwer diese auszudrücken und einzuordnen. Das beeinträchtigt die Autismusdiagnostik und führt zu Unter- oder Fehldiagnosen. Es kann gesundheitliche Probleme verursachen. Die ständige Sorge sich gesellschaftlichen Normen anzupassen, kann zu Angststörungen und anderen internalisierenden und körperlichen Beschwerden führen. Sie zeigen seltener repetitive Bewegungen.
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Früherkennung und Unterstützung
Wird diese Störung früh entdeckt, können Eltern entsprechend gut reagieren und ihrem Kind die bestmögliche Förderung zukommen lassen.
Mythen und Realitäten
- Mythos: Autisten fehlt es an Empathie und Mitgefühl.
 - Mythos: Autisten sind asozial. Sie haben keine Freunde (online zählt nicht).
 - Realität: Viele Autisten, besonders Mädchen, sehnen sich verzweifelt nach Freundschaft, wissen aber nicht wie.
 - Mythos: Autisten haben keinen Humor.
 - Mythos: Autisten können keinen Blickkontakt halten. Realität: Manche haben damit kein Problem oder haben es sich antrainiert.
 - Mythos: Autisten sind nicht intelligent und können in der Schule nichts erreichen. Realität: Autisten haben eine grosse Bandbreite intellektueller Fähigkeiten, manche eine Beeinträchtigung, andere eine Hochbegabung. Viele erzielen gute Schulleistungen, besonders in ihren Interessensgebieten.
 
Empfehlungen für Ärzte
Ärzte übersehen Autismus bei Mädchen, gerade bei denen ohne intellektuelle oder sprachliche Auffälligkeiten, da sie gut im Kaschieren sind. Ihre Symptome sind eher internalisierend und es fällt ihnen schwer, ihre Erfahrungen und Bedürfnisse zu verbalisieren.
- Bohren Sie tiefer. Fragen Sie bei der Autismusdiagnostik von Mädchen gezielt nach Beziehungserfahrungen.
 - Wie erlebt Ihre Patientin Freundschaften und Kontakte? Wie findet sie ihre Fähigkeiten Freundschaften zu schliessen und zu halten? Wie wirkt sich das auf ihr Selbstwertgefühl aus? Wie anstrengend ist Sozialkontakt für sie? Achten Sie auf Hinweise, dass sie Interaktionen als erschöpfend und mühsam empfindet.
 - Führen Sie längere Testungen durch und beobachten Sie die Patientin eine Zeit lang, um tiefer in ihre Erfahrungen einzutauchen.
 - Screenen Sie auf Komorbiditäten. Autismus und ADHS treten häufig gemeinsam auf und die Symptomüberschneidung ist enorm. Auch Angststörungen und Lernstörungen sind verbreitet.
 - Bilden Sie sich aktiv zu Autismus bei Mädchen fort. Suchen Sie Schulungen, lesen Sie aktuelle Literatur.
 
Interventionen und Hilfen
- Von Sprach-, Ergo- und Physiotherapie bis zu sonderpädagogischer Förderung - sichern Sie die Leistungen, die Ihr Kind individuell braucht.
 - Medikamente können bei Stimmungs- und Reaktivitätsproblemen helfen.
 - Struktur und Routinen schaffen. Exekutivfunktionen fördern. Die kognitiven Fähigkeiten Handlungen zu planen, priorisieren, organisieren, zeitlich einteilen, zu beginnen und sich selbst zu regulieren, sind bei Autisten oft beeinträchtigt, was den Alltag erheblich erschweren kann.
 - Gesunde Bewältigungsstrategien vermitteln. Emotionale Dysregulation ist ein grosser Teil von Autismus. Zudem werden Mädchen sozialisiert, Gefühle zu unterdrücken, die sich dann aufstauen und zu intensiven Ausbrüchen führen können. Autistische Mädchen müssen lernen, ihre Gefühle wahrzunehmen, zu benennen und zu verstehen.
 - Sprechen Sie über Autismus aus der neurodiversitätsbejahenden Perspektive.
 
Der Verein Autismus deutsche Schweiz
Als die Familie Odermatt die Diagnose bei ihrem Sohn erhielt, fühlten sie sich damit überfordert und suchten vergeblich Unterstützung vor Ort. Heute ist Reto Odermatt Präsident des Vereins Autismus deutsche Schweiz. Hier erhalten Betroffene und deren Familien vielfältige Auskünfte und finden eine Austauschplattform. Der Verein organisiert Tagungen und engagiert sich in Politik und Gesellschaft. Er zählt aktuell 1500 Mitglieder.
Marco Odermatts Vater schliesst mit einem Plädoyer: «Sparen wir nicht auf Kosten von Menschen mit Autismus! Investieren wir in diese Menschen. Denn sie können gezielt gefördert werden. Dies zeigt die erfreuliche Entwicklung von Marco. Dazu braucht es aber eine intensive individuelle Förderung. Da reichen ein paar Stunden Zusatz-Betreuung pro Woche, beispielsweise in der Schule, nicht aus. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die Familien. Speziell die Eltern sind mit einem Kind mit Autismus extrem belastet und gefordert. Da wünsche ich mir auch mehr Unterstützung. Geht unbedingt offen auf autistische Menschen zu und übt euch in Toleranz. Sie haben eine spezielle Wahrnehmung und verhalten sich auch entsprechend anders als wir.»