Die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) bei Erwachsenen, insbesondere bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung, stellt eine besondere Herausforderung dar. Oftmals bleiben ASS in dieser Gruppe bis ins Erwachsenenalter unerkannt, was eine umfassende Diagnostik erforderlich macht, um Fehldiagnosen zu vermeiden und eine ursachenspezifische Behandlung und Unterstützung zu gewährleisten.
Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zeigen sich nach den gängigen Diagnosemanualen ICD-10 und DSM-5 auf Verhaltensebene durch qualitative Veränderungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie durch stereotype und repetitiv-restriktive Verhaltensweisen und Interessen.
Neurokognitive Erklärungsmodelle für diese Verhaltensweisen sind:
- Defizite in der Handlungsplanung (Exekutivfunktionen)
 - Ein bevorzugter detailorientierter Verarbeitungsstil (schwache zentrale Kohärenz)
 - Eine eingeschränkte Fähigkeit, Gedanken und Absichten anderer zu erkennen (Theory of Mind)
 
Hinzu kommen sensorische Besonderheiten mit Über- oder Unterempfindlichkeit gegenüber bestimmten Reizen (z. B. Hyperakusis, herabgesetztes Schmerzempfinden) und eine durch die Nahsinne geprägte Reizhierarchie (z. B. ausgeprägtes Befühlen und Abtasten von Objekten). Häufig finden sich auch Einschränkungen der motorischen Koordinationsfähigkeit, die als Kriterien für das Asperger-Syndrom gelten, aber auch als Kernsymptome über das gesamte Autismus-Spektrum diskutiert werden.
Die Störung beginnt im frühen Entwicklungsalter, wobei die Symptomatik erst dann offensichtlich wird, wenn die sozialen Anforderungen die eingeschränkten Fähigkeiten übersteigen. Die Ursachen einer ASS sind nicht abschliessend geklärt, wobei neben einer starken genetischen Komponente auch Umwelteinflüsse und frühe Erkrankungen des zentralen Nervensystems eine Rolle spielen.
Lesen Sie auch: Alltag mit Autismus meistern
Die Prävalenz von ASS in der Allgemeinbevölkerung wird auf zirka 1 Prozent geschätzt, wobei diese bei Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung mit 20 Prozent deutlich erhöht ist. Da eine zusätzliche ASS in dieser Gruppe mit stärker ausgeprägten herausfordernden Verhaltensweisen assoziiert ist, besteht ein erhöhter psychiatrisch-psychotherapeutischer und pädagogischer Handlungsbedarf.
Differenzialdiagnostik
Die Differenzialdiagnostik ist entscheidend, um ASS von anderen Zuständen und Störungen abzugrenzen:
Abgrenzung zur intellektuellen Entwicklungsstörung
Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung sind mit zunehmendem Schweregrad in ihrer sozialen Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt, und es sind oft stereotype und selbst stimulierende Verhaltensweisen zu beobachten. Diese symptomatische Überschneidung mit einer ASS kann dazu führen, bei Menschen aus dem Autismusspektrum eine intellektuelle Entwicklungsstörung zu diagnostizieren (diagnostic substitution) oder umgekehrt, eine zusätzliche ASS bei Menschen auf niedrigem Funktionsniveau nicht zu erkennen und die Symptomatik der intellektuellen Entwicklungsstörung zuzuschreiben (diagnostic overshadowing).
Zusammen mit Lern-, Anpassungs- und Reifungsprozessen über die Lebensspanne kann das die Ursache dafür sein, dass eine zusätzliche ASS bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung oft bis ins Erwachsenenalter unerkannt bleibt.
Für die Diagnose einer ASS muss Folgendes berücksichtigt werden:
Lesen Sie auch: ABA-Therapie Ausbildung Schweiz
- Bereits im frühen Entwicklungsalter vor dem Auftreten der intellektuellen Entwicklungsstörung aufgetretene Beeinträchtigung der relevanten Verhaltensweisen
 - Das Vorliegen zusätzlicher, von der intellektuellen Entwicklungsstörung unabhängiger qualitativer Besonderheiten (z. B. starrer, unflexibler Blickkontakt, Wedeln der Hände als spezifischer Manierismus)
 
Abgrenzung zu genetischen Syndromen
Im Autismusspektrum wird bei etwa 10 Prozent der Fälle von einem syndromalen Autismus ausgegangen, das heisst, die ASS ist im Gegensatz zum idiopathischen Autismus auf eine umschriebene Grunderkrankung zurückzuführen. Gleichzeitig sind jedoch genetische Syndrome differenzialdiagnostisch von einer ASS abzugrenzen, wenn die Symptomatik nicht dem Vollbild einer ASS entspricht und in Qualität und Quantität nicht über die syndromtypischen Verhaltensweisen hinausgeht. Das setzt die Kenntnis der verschiedenen Verhaltensphänotypen voraus.
Abgrenzung zu psychischen Störungen
Autismus als extreme Selbstbezogenheit ist im Bleuler-Sinn ein Kernsymptom der Schizophrenie, eine ASS als Neuroentwicklungsstörung mit frühem Beginn ist jedoch von einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis abzugrenzen. Echolalie und stereotyper Sprachgebrauch, ein situationsinadäquater Affekt, bizarr anmutende Gedankensprünge und Bewegungsstereotypien können eine Psychose vortäuschen. Wenn diese Verhaltensweisen jedoch schon aus der Kindheit bekannt sind, ist eher von einer ASS auszugehen.
Das macht deutlich, wie wichtig neben der derzeitigen Beobachtung des aktuellen Verhaltens eine sorgfältige biografische Anamnese ist. Bei der differenzialdiagnostischen Abgrenzung sind auch Angststörungen und Depressionen in Betracht zu ziehen, da diese meist mit sozialem Rückzug verbunden sind. Bei Zwangsstörungen leiden Betroffene unter rigiden und repetitiven Verhaltensweisen, was bei Personen aus dem Autismusspektrum in der Regel nicht der Fall ist.
Abgrenzung zu Deprivation und Sinnesbeeinträchtigung
Deprivation und frühe Hospitalisierung sind bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung häufig. Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung wie sozialer Rückzug, Ängstlichkeit bei Veränderungen und stereotype Beschäftigung mit dem eigenen Körper können zentrale ASS-Kriterien erfüllen. Hier können die sorgfältige Verlaufsbeurteilung und die biografische Betrachtung Hinweise für die Ursache des Verhaltens liefern und die differenzialdiagnostische Abgrenzung unterstützen.
Auch schwere Sinnesbehinderungen wie Blindheit oder Gehörlosigkeit können autismusähnliche Erscheinungsbilder hervorrufen, dennoch ist hier das Sozialverhalten unter Berücksichtigung der vorhandenen sensorischen Defizite angemessen. Zusammen mit eingeschränkter Selbstauskunft, lückenhaften Angaben zur frühkindlichen Entwicklung durch fehlenden Kontakt zur Ursprungsfamilie und Anpassungsleistungen über die Lebensspanne stellt die Autismusdiagnostik bei erwachsenen Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung eine grosse Herausforderung dar.
Lesen Sie auch: Behandlungsmöglichkeiten bei Pica und Autismus
Diagnoseinstrumente und diagnostisches Prozedere
Bezüglich des Zwecks und der Güte ist zwischen Screeningskalen und aufwendigeren diagnostischen Instrumenten zu unterscheiden. Für das ASS-Screening sind ökonomische Fremdbeurteilungsskalen sinnvoll, da Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung nur sehr eingeschränkt in der Lage sind, ohne fremde Unterstützung Fragebögen auszufüllen.
Laut der aktuellen AWMF-S3-Leitlinie sollen nur zwei der vor allem im Kinderbereich zahlreich vorhandenen Screeningverfahren zur ASS-Diagnostik auch bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung eingesetzt werden: der Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK) und die Skala zur Erfassung von ASS bei Minderbegabten (SEAS-M).
Als Alternative ist mittlerweile der Diagnostische Beobachtungsbogen für ASS - revidiert (DiBAS-R) verfügbar, ein spezifisch für Angehörige und Betreuer von Erwachsenen mit IM und Autismusverdacht entwickelter, ICD-10/DSM-5-basierter Fremdbeurteilungsbogen. Zusätzlich zum DiBAS-R ist eine auf den Forschungskriterien der ICD-10 basierende Autismus-Checkliste (ACL) erhältlich, die von Ärzten oder Psychologen im Rahmen einer ärztlichen Visite oder eines psychologischen Erstgesprächs eingesetzt werden kann. Die Kombination beider ökonomischen Skalen verbessert die richtige diagnostische Klassifizierung.
Für den Kinder- und Jugendbereich repräsentieren das Diagnostische Interview für Autismus - revidiert (ADI-R) und die Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen - 2 (ADOS-2) den diagnostischen Goldstandard, für den Erwachsenenbereich wird nach internationalen Leitlinien hingegen die klinische Diagnose als entscheidend betrachtet.
Eine Alternative oder Ergänzung zur ADOS stellt die Musikbasierte Skala zur Autismusdiagnostik (MUSAD) dar. Dieses strukturierte Verfahren wurde speziell für erwachsene Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung entwickelt und nutzt musikalische Interaktion zur Erfassung autistischer Verhaltensmerkmale (z. B. soziale Reziprozität, geteilte Freude und motorische Koordination beim dialogischen Trommeln).
Zusätzlich kann als pädagogische Ergänzung die Erhebung des Entwicklungs- und Verhaltensprofil für Jugendliche und Erwachsene (AAPEP) sinnvoll sein, um neben einer psychiatrischen Diagnostik konkrete Anhaltspunkte für eine ASS-spezifische individuelle Förderplanung zu erhalten.
Laut internationalen Leitlinien wird ein mehrperspektivisches, teambasiertes Vorgehen vorgeschlagen. So können im klinischen Rahmen in einer multiprofessionellen Fallkonferenz von verschiedenen Berufsgruppen Informationen und durch diagnostische Skalen operationalisierte Beobachtungen zusammengetragen werden. Aus ökonomischen Gründen bietet sich ein 3-stufiges Vorgehen mit (a) Screening, (b) umfangreicher Diagnostik und (c) Transfer der Ergebnisse ins komplementäre System im Rahmen einer abschliessenden Helferkonferenz an.
Neben der Vermittlung des Befundes sollten hier die Konsequenzen für die Behandlung, die Förderung und den Umgang mit der betroffenen Person erörtert werden.
Zusammenfassung der Diagnoseinstrumente
Die folgende Tabelle fasst die verschiedenen Diagnoseinstrumente zusammen, die bei der Autismus-Diagnostik bei Erwachsenen mit intellektueller Entwicklungsstörung eingesetzt werden können:
| Instrument | Zielgruppe | Beschreibung | 
|---|---|---|
| FSK (Fragebogen zur sozialen Kommunikation) | Kinder und Jugendliche (gekürzte Version für Erwachsene mit IM) | Fremdbeurteilungsbogen zur Erfassung sozialer Kommunikationsfähigkeiten | 
| SEAS-M (Skala zur Erfassung von ASS bei Minderbegabten) | Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung | Strukturierter Interviewleitfaden zur Beurteilung autismustypischer Verhaltensweisen | 
| DiBAS-R (Diagnostischer Beobachtungsbogen für ASS - revidiert) | Erwachsene mit intellektueller Entwicklungsstörung und Autismusverdacht | Fremdbeurteilungsbogen zur Erfassung von Auffälligkeiten in sozialer Kommunikation, Interaktion und Verhaltensmustern | 
| ADI-R (Diagnostisches Interview für Autismus - revidiert) | Eltern von Personen mit Autismus | Umfangreiches Elterninterview zur frühkindlichen Entwicklung | 
| ADOS-2 (Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen - 2) | Personen mit Verdacht auf Autismus | Spiel- und interviewbasierte Beobachtungsskala | 
| MUSAD (Musikbasierte Skala zur Autismusdiagnostik) | Erwachsene mit intellektueller Entwicklungsstörung | Strukturiertes Verfahren zur Erfassung autistischer Verhaltensmerkmale durch musikalische Interaktion | 
| AAPEP (Entwicklungs- und Verhaltensprofil für Jugendliche und Erwachsene) | Jugendliche und Erwachsene mit Entwicklungsstörungen | Pädagogische Ergänzung zur Erhebung des Entwicklungs- und Verhaltensprofils für individuelle Förderplanung | 
tags: #autismus #diagnostik #erwachsene #ruhrgebiet #anlaufstellen