Für Autisten ist der soziale Austausch mit anderen Menschen sehr schwierig. Ein Grund dafür ist die fehlende Fähigkeit, den Gefühlszustand oder Gedankengänge ihrer Mitmenschen zu deuten. Normalerweise lernen Kinder sehr früh, sich in andere hineinzuversetzen.
Die "Theory of Mind" bei Autismus
Die Fähigkeit, Annahmen über den Bewusstseinszustand des Gegenübers zu treffen, wird «Theory of Mind» genannt und ist bei Autisten kaum vorhanden.
Britische Forschungsergebnisse
Britische Forscher haben nun herausgefunden, dass Menschen mit einer milden Form von Autismus die Gedankengänge anderer zwar manchmal richtig deuten, dass sie dies aber nicht spontan tun.
Das Asperger-Syndrom und die "Theory of Mind"
Das Asperger-Syndrom ist im Spektrum der Autismusstörungen die mildeste Form. Die Betroffenen zeigen kaum eine Beeinträchtigung der sprachlichen Fähigkeiten. Sie sind ausserdem in der Lage, einen Test zu bestehen, in dem sie sich in eine andere Person hineinversetzen müssen.
Das klassische Experiment
Dabei wird ihnen gezeigt, wie zwei Menschen in einem Raum einen Gegenstand verstecken. Während einer der beiden nicht anwesend ist, nimmt der andere den Gegenstand heraus und versteckt ihn an einem anderen Ort. Die Probanden müssen danach sagen, wo der Abwesende nach dem Objekt suchen wird, wenn er zurückkommt. Autisten glauben, dass er am richtigen Ort schauen wird, obwohl die Person nicht wissen kann, dass der Gegenstand dort ist. Menschen mit Asperger-Syndrom machen diesen Fehler nicht.
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Die Forschung von Uta Frith und ihrem Team
Die Forscher um Uta Frith vom University College London untersuchten, ob diese Einsicht spontan entsteht. Dafür wandelten sie den Versuchsaufbau ab und verfolgten die Blicke der Probanden, um zu sehen, auf welchen Ort sie blicken würden. Während gesunde Erwachsene und sogar Kinder im Alter von 25 Monaten viel häufiger auf den Ort schauten, an dem der «Betrogene» ahnungslos nach dem Gegenstand suchen würde, zeigten Erwachsene mit Asperger-Syndrom keine solche Bevorzugung - obwohl sie nach der Befragung durch kurzes Nachdenken zum richtigen Ergebnis kamen.
Die Wissenschafter schliessen daraus, dass Menschen mit Asperger zwar gelernt haben, in bestimmten Aufgaben anderen Menschen Gefühle und Gedanken zuzuschreiben, dies aber nicht spontan tun.
Historischer Kontext und Entwicklung des Autismus-Verständnisses
Im Jahr 1971 habe ich (Tony Attwood) mein erstes Jahr des Psychologiestudiums in England abgeschlossen. Während der Sommerferien arbeitete ich als Freiwilliger an einer Sonderschule in meiner Heimatstadt Birmingham. In dieser Sonderschule begegnete ich zum ersten Mal Autismus und wie sich Autismus bei zwei kleinen Kindern äußerte. Russel war 7 Jahre, Sarah fünf Jahre alt. Sie waren beide agil und aufmerksam, aber stumm und spielten lieber alleine. Keines der beiden Kinder nutzte Kommunikation mit Gesten als Ersatz für die fehlende Sprache, und beide reagierten extrem sensibel auf bestimmte Geräusche. Sie reagierten zudem häufig verzweifelt auf Veränderungen in ihrem Tagesablauf und auf die sozialen, sensorischen, kognitiven und kommunikativen Erfahrungen im Klassenzimmer und auf dem Spielplatz. Sie schienen in einer eigenen Welt zu leben, in die andere Kinder nicht eingeladen waren. Ich war jedoch entschlossen, mit ihnen in Verbindung zu treten und die Welt aus ihrer Perspektive zu sehen. Diese Erfahrung war emotional und intellektuell tiefgreifend, und ich beschloss, dass meine Karriere als Psychologe darin bestehen würde, Autismus zu erforschen und zu verstehen.
Im Herbst 1971 kehrte ich an die Universität zurück, entschlossen, alles über Autismus zu lesen, was es gab. Es gab nur etwa hundert veröffentlichte Zeitschriftenartikel über Autismus und vielleicht zwei oder drei akademische Bücher und Biografien, die von Eltern autistischer Kinder geschrieben worden waren. Innerhalb weniger Wochen hatte ich die gesamte einschlägige Literatur in englischer Sprache gelesen. Inzwischen werden jedes Jahr mehr als 7.000 Zeitschriftenartikel über Autismus veröffentlicht, und es gibt über 70.000 Forschungsarbeiten über Autismus.
In den frühen 1970er-Jahren wurde Autismus als eine Art Schizophrenie betrachtet, die durch eine fehlerhafte Erziehung verursacht wurde, und die Behandlung bestand in einer Psychoanalyse des Kindes und seiner Mutter. In den späten 1970er-Jahren fingen Forschungsstudien und Fachkräfte an, dieses Bild zu ändern. Autismus wurde im Zuge dessen als eine neurologische Entwicklungsstörung mit einem ausgeprägten Profil sozialer, kognitiver, sprachlicher und sensorischer Fähigkeiten betrachtet, die bereits im frühen Säuglingsalter sichtbar werden können. Dies sind auch Autismussymptome, nach denen wir bei einer diagnostischen Beurteilung suchen. Sie bilden die Kernstruktur unserer formalen Diagnoseinstrumente wie der Diagnostischen Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS).
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In den frühen 1970er-Jahren waren wir noch der Meinung, dass es sich bei Autismus um eine seltene, aber auffällige und schwere Behinderung handelt. In den 1980er-Jahren begannen wir, das Autismusspektrum und die vielfältigen Prognosen zu erforschen. Wir beobachteten auch Kinder und Erwachsene, die in der frühen Kindheit schwer und auffällig autistisch waren, aber die Fähigkeit erworben hatten, fließend zu sprechen und sich zu unterhalten, die intellektuelle Fähigkeiten im durchschnittlichen und überdurchschnittlichen Bereich hatten und eine Regelschule besuchten. Sie schienen entschlossen, sich von ihren Eltern abzunabeln, strebten eine Vollzeitbeschäftigung an und gingen vielleicht sogar eine langfristige Beziehung ein. Sie hatten eine subtilere Form des Autismus mit einer ganz anderen Prognose entwickelt.
Lorna Wing in London erkannte, dass diese Entwicklung der Fähigkeiten eher einem Profil entsprach, das in den Autismusbeschreibungen von Hans Asperger in Österreich zu erkennen war, und nicht so sehr dem Profil von Leo Kanner in den Vereinigten Staaten. Sie verwendete 1981 erstmals den nach ihm benannten Begriff Asperger-Syndrom, und ihre Kollegin und meine Doktormutter Uta Frith übersetzte seine ursprüngliche Autismusbeschreibung ins Englische. Diese kam durch die Kinder zustande, die er in seiner Klinik in Wien behandelte.
Ich wurde Mitglied einer kleinen Gruppe von psychologischen und psychiatrischen Fachkräften in London, die eine neue Autismusart erforschten: das Asperger-Syndrom. Wir entdeckten, dass es Kinder mit dem von Hans Asperger beschriebenen Fähigkeitsprofil gab, die in der frühen Kindheit nie Anzeichen von schwerem Autismus gezeigt hatten.
Veränderungen in der Diagnose und Terminologie
Da man ursprünglich von einer schweren Behinderung bei Autismus ausging, wurde auch die Häufigkeit nur auf etwa 1 von 2.500 Kindern geschätzt. Wir nahmen das Asperger-Syndrom ins Autismusspektrum auf und erkannten, dass Autismus ein sehr großes Spektrum mit vielen verschiedenen Symptomen ist. Aktuell schätzen die Centers for Disease Control in den USA die Häufigkeit auf etwa 1 von 54 Kindern.
Autismus wird von medizinischem Fachpersonal, Schulen, Unternehmen und der Öffentlichkeit immer häufiger erkannt. In den letzten 50 Jahren haben sich die Terminologie und die Diagnosekriterien geändert, da wir nun Autismus viel besser verstehen. Der Begriff Asperger-Syndrom wurde im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 2013 durch den Begriff Autismus-Spektrum-Störung Stufe 1 ersetzt. (Anmerkung der Übersetzerin: Im europäischen Raum wurde 2022 der Begriff Asperger-Syndrom der ICD-10 durch die Autismus-Spektrum-Störung der ICD-11 ersetzt, obwohl auch heute noch beide ICDs gültig sind und eingesetzt werden.) Es gibt drei Stufen von Autismus, die auf dem Unterstützungsbedarf basieren.
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Forschung zu Autismus bei Mädchen und Frauen
Zu meinen jüngsten Forschungsarbeiten gehören der Entwurf und die Entwicklung von Screening-Instrumenten zur Ermittlung der Autismussymptome bei Mädchen und Frauen. Ursprünglich ging man davon aus, dass die Aufteilung auf Jungen und Mädchen bei autistischen Kindern einem Verhältnis von 4:1 entsprach, neuere Forschungen allerdings zeigen, dass das Verhältnis tatsächlich mindestens 2:1 ist.
Autismus: Eine neurologisch-genetisch bedingte Wesensart
Autismus ist eine neurologisch-genetisch bedingte Wesensart - keine Krankheit. 1-2 Prozent der Menschen sind autistisch - viel mehr, als man früher dachte. Autismus ist ein Spektrum. Das bedeutet, dass autistische Menschen sich voneinander unterscheiden. Zum Beispiel sprechen manche Menschen im Autismus-Spektrum nichts, währenddessen andere sehr gute, sprachliche Fähigkeiten haben. Dennoch haben auch Autist*innen mit guten sprachlichen Fähigkeiten Mühe, ein Gespräch zu führen. Manche autistische Menschen sprechen nicht. Sie benutzen alternative Formen der Kommunikation, zum Beispiel Bildkarten oder Gebärdensprache.
Autistinnen mit einer schwachen Ausprägung (Autismus-Spektrum-Störung) können gute sprachliche Fähigkeiten, jedoch trotzdem Probleme mit den sozialen Aspekten der Kommunikation haben. Ältere Autistinnen haben dank ihrer Lebenserfahrung gewisse Redewendungen oder Metaphern auswendig gelernt und können diese dadurch auch genau deuten. Ironie und Sarkasmus, welche oftmals spontan geformt und geäussert werden, können aber zu Verständnisproblemen führen. Autistinnen kennen sich oft auch mit Humor aus. Im Internet findet man viele Sprüche und Witze aus der autistischen Community.
Schwierigkeiten im sozialen Verständnis
Der Grund weshalb autistische Menschen Schwierigkeiten haben, nicht-wörtliche Sprache zu verstehen, liegt darin, dass sie den sozialen Kontext der Äusserung nicht kennen oder bei der Interpretation nicht mit einbeziehen. Alltägliche, unpräzise Aussagen machen Autist*innen durchaus Probleme. Die soziale Interaktion und Kommunikation übermittelt mehr Informationen als die verbale Kommunikation. Mimik und Gestik lassen nicht-Autist*innen Situationen wie Zufriedenheit, Ärger oder Angst detailliert erkennen. Die meisten Menschen im Autismus-Spektrum erkennen ein Lachen. Viele haben aber Mühe zu bestimmen, ob der Mensch fröhlich, gezwungen oder hämisch lacht.
Sensorische Empfindlichkeiten und Reizüberflutung
Autist*innen filtern und verarbeiten äussere Reize anders. Leise Geräusche werden als laute Geräusche wahrgenommen. Meistens sind es die sensorischen Empfindlichkeiten, die den Autistinnen Probleme machen. An einer stark befahrenen Strasse ein Gespräch zu führen oder durch ein Einkaufscenter zu gehen, in welchem viele Lichtreklamen flimmern kann bereits zu einer Reizüberflutung kommen. Die Reizüberflutung verursacht bei den betroffenen Autistinnen Erschöpfung, Frustration oder Angst. Es gibt auch Autistinnen die eine Unterempfindlichkeit gegenüber Reizen haben. Sie nehmen zum Beispiel Kälte oder Schmerzen weniger stark wahr.
Um sich vor Reizüberflutung oder unangenehmen Reizen zu schützen, beginnen manche Autistinnen zu schaukeln, sich zu drehen, in die Hände zu klatschen, zu summen oder zu pfeifen.
Besondere Interessen und Denkweisen
Viele Menschen im Autismus-Spektrum haben ein intensives, leidenschaftliches Interesse an bestimmten Themen, oft von sehr jungem Alter an. Bei der Beschäftigung mit ihrem Interessengebiet zeigen sie ein höchst fokussiertes Denken. Die Interessen können sich im Laufe des Lebens verändern oder immer gleich bleiben. Sie können sich auf jegliches Thema beziehen, von Mathematik bis Ballett, von Kunst bis Eisenbahnen, von Türknäufen bis Schneeeulen oder von Politik bis zu Waschmaschinen.
Historische Entwicklung des Autismus-Begriffs
Der Begriff «Autismus» (von griechisch autos = selbst) hat im Verlauf der Geschichte eine vielfältige Entwicklung erlebt. Im Jahre 1908 beschrieb Theodor Heller, Pädagoge und Leiter einer Erziehungsanstalt in Wien, Kinder, die in den ersten drei bis vier Lebensjahren nach unauffälliger Entwicklung einen Verlust insbesondere der Sprache, aber auch anderer bereits erworbener Fertigkeiten erlitten.
Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler führte 1911 den Begriff «Autismus» als ein Grundsymptom der Schizophrenie ein. Schizophrenie und Autismus galten bis in die 70er Jahre als Störungsbilder mit gleicher Nosologie und Ätiologie. Autismus galt hierbei als eine frühe Form der Schizophrenie. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud setzte im historischen Verlauf die Begriffe «Autismus» und «autistisch» den Begriffen «Narzissmus» und «narzisstisch» gleich und verwendete diese als Gegenbegriffe zu «sozial». Die heutige inhaltliche Fassung der Erkrankung «Autismus» und «Autismus-Spektrum-Störung» unterscheidet sich jedoch wesentlich von den Vorstellungen Bleulers oder Freuds.
Der aus Österreich stammende Kinderpsychiater Leo Kanner wendete im Jahre 1943 erstmals den Begriff «Autismus» für Kinder an, die sich nicht aktiv in ihre Fantasiewelt zurückziehen, sondern von Geburt an Defizite im Aufbau sozialer Interaktionen haben. Seine psychopathologischen Beschreibungen sind auch heute noch eine wesentliche Basis der Definition von Autismus und Autismus-Spektrum-Störungen. Der Begriff «frühkindlicher Autismus» wurde 1944 von Kanner als medizinischer Fachausdruck eingeführt.
Der Wiener Kinderarzt Hans Asperger beschrieb zeitgleich 1944, ohne die Schriften von Leo Kanner zu kennen, vier Patienten zwischen 6 und 11 Jahren. Diese Patienten zeigten ebenfalls Defizite in sozialen Interaktionen, jedoch keine Sprachentwicklungsstörungen oder qualitative intellektuelle Auffälligkeiten. Hans Asperger selbst benannte das von ihm beschriebene Syndrom «autistische Psychopathie» und vermutete wie auch Kanner eine angeborene Störung, die vom Vater zum Sohn weitergegeben wird. Er ging jedoch davon aus, dass es sich bei dem von ihm beobachteten Verhalten um die Extremvariante eines Persönlichkeitszuges handelt und das sich die Störung nicht vor dem 3. Lebensjahr erkennen lässt. Aspergers Werk wurde erst durch die Zusammenfassung der englischen Psychologin Lorna Wing (1981) unter dem Begriff «Asperger- Syndrom» bekannt. Uta Frith übersetzte 1991 schliesslich die ursprüngliche Arbeit von Asperger ins Englische.
Genetische und neurobiologische Ursachen
Heute besteht Konsens darüber, dass dem frühkindlichen Autismus beziehungsweise den Autismus-Spektrum-Störungen neuro-biologische Ursachen zugrunde gelegt werden müssen. Autismus-Spektrum-Störungen sind kein neues Phänomen, aber die ätiologischen Konzepte haben sich entsprechend dem Zeitgeist, den gesellschaftlichen Strukturen und Forschungsergebnissen verändert.
Frühe Konzepte und psychoanalytische Ansätze
Margret Mahler postulierte eine autistische Phase des Säuglings in den ersten Wochen nach der Geburt, in der das Kind auf sich zurückgezogen mit einer hohen Reizschranke versucht, das homöostatische Gleichgewicht, das durch den Geburtsvorgang gestört wird, wiederherzustellen. Spätere Untersuchungen, vor allem die Säuglingsbeobachtung von Daniel Stern, widerlegen jedoch diese Vorstellung von einem nicht zugewandten, nicht reagiblen Zustand des Säuglings.
In der Folge der Beobachtungen Kanners der vermeintlich wenig emotionalen Beziehungen der Mütter/Eltern zu ihren Kindern entstand der unselige Begriff der «refrigerator mothers», der von der Psychoanalyse aufgegriffen wurde.
Als eine spätere Vertreterin der psychoanalytischen Vorstellungen ist Frances Tustin zu nennen. Sie nahm ein extremes, durch frühe traumatische Erfahrungen verursachtes Schutzverhalten bei einem irritierbaren, oft überforderten Kind an, mit dem dieses den Zustand des Getrenntseins panisch zu vermeiden versucht. Da es nicht nahestehende Personen sind, zu denen eine schutzgewährende Beziehung entsteht, sind es sogenannte «Empfindungsobjekte», meist harte Gegenstände, die dem Kind als Panzer gegenüber der Welt dienen. Mit diesen Dingen beschäftigt sich das Kind in stereotyper Weise.
Alternative Erklärungen und Forschung
Naturwissenschaftler akzeptierten die von der Psychoanalyse formulierten Vorstellungen nicht und suchten nach anderen Erklärungen. Als ein früher Vertreter ist hier Bernard Rimland zu nennen. Nach der Geburt seines Sohnes hatte er sich gemeinsam mit anderen Eltern autistischer Kinder gegen die Theorien Bettelheims gestellt und nach anderen Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten gesucht. Die Gründung des Autism Research Institute in den Siebzigerjahren ist ihm zu verdanken. Er vertrat einen empirischen und biologischen Forschungsansatz, der vor allem beim frühkindlichen Autismus viel Beachtung fand.
Weitere Ansätze stellen die sensorische Wahrnehmung und die Wahrnehmungsverarbeitung ins Zentrum, primär bei frühkindlichem Autismus. Zu nennen sind hier Félicie Affolter und Jean Ayres. Sie gehen von einer zentralen Wahrnehmungsstörung aus, bei der die Aufnahme von Wahrnehmungsimpulsen, die intermodale Verknüpfung und die Umsetzung in eine Handlung oder einen Handlungsablauf beeinträchtigt sind. Bekannte Elemente werden in einer sich verändernden Situation als unvertraut erlebt und gemieden. weitere Erfahrungen gemacht werden und kann Entwicklung stattfinden. Frühinterventionsprogramme, Ergotherapie, Psychomotorik, aber auch Konzepte wie TEACCH (treatment and education of autistic and related communication handicapped children) arbeiten nach diesen Vorstellungen.
Genetische Grundlagen und epidemiologische Studien
Die heutige Genforschung bestätigt Aspergers Annahme einer genetischen Komponente; eine familiäre Häufung ähnlicher Persönlichkeitsstrukturen war ihm bereits aufgefallen. Die Zwillingsforschung ergab eine deutlich höhere Konkordanzrate bei monozygoten Zwillingen als bei dizygoten. Heute wissen wir, dass es sich nicht um einen einfachen Erbgang handelt, sondern dass unterschiedliche Gene betroffen sind. Grosse epidemiologische Studien der neueren Zeit zeigen eine starke Zunahme der Prävalenz von Autismus-Spektrum-Störungen. Diese Zunahme kann zum Teil durch die Sensibilisierung der Betroffenen und der Fachleute erklärt werden. Eine echte Zunahme des Störungsbildes wird von Spezialisten eher bezweifelt.
Hirnforschung und kognitive Funktionen
Die Hirnforschung konnte strukturelle Veränderungen im Zusammenhang mit Autismus-Spektrum-Störungen aufzeigen. Mithilfe funktioneller bildgebender Verfahren wurde eine unterschiedliche Vernetzung und Leitung der Reizverarbeitung nachgewiesen, die einige Verhaltensauffälligkeiten erklären könnte.
Unter «theory of mind» versteht man die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, dass andere Menschen eigene Vorstellungen, Gedanken und Gefühle haben, sowie die Fähigkeit, Gefühle anderer nachempfinden zu können. Für diese Aufgaben, die im Zusammenleben mit anderen eine entscheidende Rolle spielen, brauchen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen mehr Energie, mehr Zeit und mehr Erklärungen. Die sozioemotionale Entwicklung ist verzögert, es besteht eine deutliche Egozentrik, die die wichtigen Fähigkeiten des intuitiven Erfassens, der Imitation und der Empathie erschwert.
Zentrale Kohärenz wird definiert als natürliche Tendenz, vorhandene Stimuli global und im Kontext zu verarbeiten, wobei Informationen zusammengefügt werden, um die höherwertige Bedeutung zu erfassen. Der Begriff beschreibt also die Fähigkeit, einzelne Wahrnehmungselemente in einen Gesamtbedeutungskontext zu integrieren. haben erhebliche Schwierigkeiten, den Gesamtkontext zu erfassen. Beispielsweise ist folgende Aussage für einen Menschen mit Asperger-Syndrom typisch: «Ich sehe hundert einzelne Bäume, aber einen Wald erkenne ich nicht.»
Exekutive Funktionen umfassen Fähigkeiten wie Planung und Überwachung eigener Handlungen, die Hemmung von Impulsen, die Fokussierung der Aufmerksamkeit und das flexible Suchen nach Lösungsstrategien. Die Betroffenen sind unflexibel in ihrer Aufmerksamkeit und können nur schwer neu erlernte Verhaltensweisen anwenden.
Selbsthilfe und Netzwerke
Neben Selbsthilfegruppen von Eltern oder Partnern haben sich heute auch Asperger-Betroffene, sie selbst nennen sich «Aspies», zu Netzwerken zusammengeschlossen. Das Internet ist ihre Möglichkeit zu kommunizieren. Die Zahl der Publikationen, auch von Betroffenen, nimmt zu und wird unüberschaubar. Es fällt auf, dass es sowohl grosse Ähnlichkeiten als auch grosse Individualität unter den «Aspies» gibt.
Frühe Erkennung und Förderung
Schwer betroffene Kinder mit frühkindlichem Autismus müssen möglichst früh erfasst und intensiv behandelt werden. Eine abwartende Haltung ist ein Versäumnis. Autismus-Spektrum-Störungen sind ein angeborenes Phänomen und nicht Folge der Erziehung.
Förderlich sind klare Strukturen in der Familie, die Fähigkeit von Eltern, die sonst nicht versprachlichten Alltagsgeschehnisse für betroffene Kinder in Sprache zu fassen. Wichtig ist «Gleichbleibendes», das Halt gibt, und ein Umgang mit wenig Affekt (mit «abgestelltem Affekt» arbeiten, riet schon Hans Asperger den Pädagogen im Umgang mit betroffenen Schülern). Es besteht zwar eine lebenslange Betroffenheit, aber Veränderung ist möglich. Sie erfolgt durch lebenslanges kognitives Lernen und durch eine kognitiv gesteuerte Verhaltensanpassung an die Umwelt. Das ist anstrengend, störanfällig und muss immer wieder geübt werden. Die Verhaltensanpassung geht verloren, wenn sie nicht aktuell gehalten wird.
Herausforderungen im Alltag und Unterstützung
Vielen, vor allem sehr begabten Menschen, sieht man ihre Schwierigkeiten im Alltag nicht an. Sie haben Familie, Kinder, einen anspruchsvollen Beruf. Betroffene, die ein niedriges Funktionsniveau erreichen, brauchen allerdings lebenslange Betreuung. Schweregrad und Muster der Betroffenheit sind unterschiedlich. Es gibt die schwer beeinträchtigten, geistig behinderten Menschen, es gibt die Menschen, die sozial aus allen Bereichen herausfallen, und es gibt leicht beeinträchtigte, sozial eingebettete Betroffene. Die Auffälligkeiten erscheinen in den verschiedenen Lebensbereichen oft sehr unterschiedlich. Das nenne ich dann «Innen-/Aussenkinder»: Während sie im Aussenbereich, zum Beispiel in der Schule, eine hohe Anpassungsleistung erbringen, können sie daheim loslassen, also dort, wo sie nicht mehr kompensieren müssen, und erscheinen somit im Innenbereich massiv auffällig.
Autismus-Spektrum-Störungen sind an sich keine Krankheit, sondern eine angeborene Andersartigkeit, eine spezifische Persönlichkeitsstruktur, die Krankheitswert bekommen kann durch Auffälligkeiten, die durch Blockierung der Entwicklung oder Überforderung entstehen. Komorbiditäten wie Depression, ADHS, psychotische Episoden, Stress und Psychotraumen sind häufig.
Diagnose und Wissen
Für die Diagnosestellung ist eine klinische Untersuchung erforderlich (Fragebögen und Tests können Hinweise geben, sind aber nicht beweisend). Es müssen die frühe Geschichte sowie alle Lebensbereiche und die aktuelle Funktionsfähigkeit in sozialen und emotionalen Situationen erfragt werden.
In den letzten Jahren ist das Wissen im medizinischen, im therapeutischen und im pädagogischen Bereich gewachsen: Wir achten auf die Störung durch sensorische Reize, wir kennen die ausgeprägte Detailgenauigkeit (und die damit verbundene Langsamkeit) sowie die Erschwernisse in sozialen Situationen, in denen es rasch zu reagieren gilt. Wir wissen mehr über die Besonderheiten des Lernens, die Notwendigkeit des Rückzugs und die Chancen der Sonderinteressen.
Tabelle: Entwicklung des Autismus-Verständnisses
| Jahr | Ereignis | Bedeutung | 
|---|---|---|
| 1911 | Eugen Bleuler prägt den Begriff "Autismus" | Autismus als Symptom der Schizophrenie | 
| 1943 | Leo Kanner beschreibt frühkindlichen Autismus | Autismus als eigenständiges Störungsbild | 
| 1944 | Hans Asperger beschreibt "autistische Psychopathen" | Grundlage für das spätere Asperger-Syndrom | 
| 1981 | Lorna Wing prägt den Begriff "Asperger-Syndrom" | Abgrenzung von anderen Formen des Autismus | 
| 1991 | Uta Frith übersetzt Aspergers Arbeit ins Englische | Verbreitung des Wissens über das Asperger-Syndrom |