Dank Prominenten wie Greta Thunberg oder Elon Musk gelten Störungen wie Asperger, ADHS oder Legasthenie fast schon als cool. Aber warum eigentlich? Und ist das eine gute Idee?
Der Wandel der Wahrnehmung
Früher galten Autismus und ADHS als reine Leiden. Heute werden sie zunehmend als Ausdruck von Neurodiversität betrachtet. Das Synonym für normal lautet «neurotypisch», die Abweichungen davon «neurodivers». Dazu zählen etwa auch ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, oder die Legasthenie, die zu Lese- und Schreibschwächen führt.
Dieser Wandel ist insofern gut, als jede Entstigmatisierung ein gesellschaftlicher Fortschritt ist. So lange ist es auch noch nicht her, dass Autismus nur als Leiden galt oder ADHS vor allem als Diagnose von hibbeligen Kindern, die immer getrieben sind, hundert Dinge gleichzeitig und nichts machen, nicht abschalten können, sich nicht konzentrieren, ausser sie schlucken Ritalin.
Neurodiversität als Stärke
Im Buch «Szenen aus dem Herzen» stellt die Familie Thunberg Gretas Diagnose nicht nur als Schwäche dar, sondern auch als Stärke, vielleicht sogar als Voraussetzung für ihren Aktivismus: «Greta gehört zu den wenigen, die unser Kohlendioxid mit blossem Auge erkennen», heisst es da etwa, um ihren besonderen Blick auf die Welt zu betonen. «Sie sieht, wie die Treibhausgase aus unseren Schornsteinen strömen und die Atmosphäre in eine gigantische Müllhalde verwandeln.»
Auch der Rummelplatz im Kopf, den eine ADHS-Diagnose mit sich bringt, kann Vorteilen haben. Und die sind gefragter in Zeiten, in denen Automaten immer mehr Jobs machen und Kreativität zu einem Überlebensprinzip wird: Das Abdriften kann zu originelleren Gedanken führen und ebenso das umgekehrte Hyperfokussieren, sich einer Idee widmen, als gäbe es nichts anderes. Deshalb wird ADHSlern nachgesagt, kreativer, risikofreudiger und innovativer zu sein, während Legastheniker laut Studien deshalb oft erfolgreiche Firmengründer sind, weil sie Aufgaben leichter delegieren können und sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren.
Lesen Sie auch: Kleinkind-ADHS: Worauf achten?
Spätestens seit dem Film «Rain Man» von 1988 ist zudem bekannt, dass Asperger-Autisten ihre Mitmenschen bisweilen um Lichtjahre übertrumpfen, Tramfahrpläne auswendig aufsagen oder Computerspiele innert Stunden reparieren können. Es sind technologisch-mathematische Fähigkeiten, die in der Geschäftswelt von morgen zunehmend als Schlüsselqualifikationen gelten. Und so gab es im Silicon Valley schon zu New-Economy-Zeiten einen Kult um autistische Tech-Genies.
Prominente Beispiele
Inzwischen spricht ein Prominenter nach dem anderen über seine neurologischen Besonderheiten. Neulich outete sich der Tesla-Gründer Elon Musk in der Fernsehshow «Saturday Night Live» als Asperger-Autist. «Ich habe Elektroautos neu erfunden und schicke Menschen in einer Rakete zum Mars. Dachtet ihr wirklich, ich sei ein gemütlicher, normaler Kerl?», sagte er, und das Publikum applaudierte, als wäre das eine Auszeichnung.
Analog dazu erzählen Schweizer Prominente wie die Schauspielerin Melanie Winiger oder der Gastrounternehmer Michel Péclard, wie sie «mit ADHS zum Erfolg» kamen.
Bei folgenden Personen wird ein Asperger vermutet: David Byrne, James Taylor, Courtney Love, Bill Gates, Daryl Hannah, Tim Burton, Woody Allen, Bob Dylan, Gary Numan, Craig Nicholls, Albert Einstein, Marc Zuckerberg, Elon Musk, Isaac Newton, Lewis Carroll, Nikola Tesla, Thomas Jefferson, Charles Darwin, Wolfgang Amadeus Mozart und Michelangelo.
Die Geschichte von ADHS
Die Geschichte von ADHS lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, als der deutsche Arzt und Wissenschaftler Melchior Adam Weikard erstmals Verhaltensweisen beschrieb, die heute als Symptome von ADHS erkannt werden könnten. In seinem 1775 veröffentlichten Werk „Der Philosophische Arzt“ widmete Weikard den Aufmerksamkeitsstörungen einen ganzen Artikel unter dem Titel „Mangel der Aufmerksamkeit, Attentio Volubilis“.
Lesen Sie auch: Unterstützung für ADHS Betroffene in Freiburg
Was heute gerne als Modediagnose oder als Problem unserer digitalen Zeit abgetan wird, wurde jedoch bereits vor 250 Jahren erstmals beschrieben. Was inzwischen zunehmend als eine Variante der Hirnentwicklung anerkannt ist, wurde in der Vergangenheit häufig als moralisches oder erzieherisches Problem betrachtet.
Im Jahr 1902 beschrieb der englische Arzt Sir George Frederic Still in einer Reihe von Vorträgen Kinder, die sich rücksichtslos über Autoritäten hinwegsetzten und nicht in der Lage waren, sich angemessen zu verhalten. Still prägte den Begriff der „abnormalen Störung der moralischen Kontrolle“ und deutete bereits an, dass diese Verhaltensauffälligkeiten möglicherweise auf eine Störung des Nervensystems zurückzuführen sein könnten.
Eine der grössten Fehlannahmen in der Geschichte von ADHS war lange Zeit, dass die Störung ausschliesslich im Kindesalter auftritt und sich mit dem Erwachsenwerden „auswächst“.
Die späte Anerkennung von ADHS im Erwachsenenalter hat auch dazu geführt, dass viele Erwachsene, insbesondere Frauen, erst spät im Leben diagnostiziert werden.
In den 2000er Jahren, als genetische Studien immer deutlicher belegten, dass ADHS eine starke Erbkomponente hat, begannen einige Forscher zu hinterfragen, ob ADHS wirklich eine krankhafte Störung ist oder ob es sich eher um eine Normvariante menschlicher Verhaltens- und neurologischer Funktionsweisen handelt, die unter bestimmten Umweltbedingungen nicht optimal funktionieren.
Lesen Sie auch: Lernerfolg steigern
Im Laufe der Zeit hat sich das Verständnis von ADHS weiterentwickelt, und die wissenschaftliche Gemeinschaft erkannte, dass Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität keine voneinander unabhängigen Störungen sind, sondern vielmehr unterschiedliche Ausprägungen derselben zugrunde liegenden neurologischen Störung darstellen.
Obwohl zwischen 2005 und 2019 gelegentlich Ratgeber zu ADHS bei Erwachsenen erschienen, erlebte das Thema seit den 2020er Jahren einen regelrechten Boom. Neben einer wachsenden Anzahl von Ratgebern gibt es immer mehr Erfahrungsberichte und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die offen über ihre ADHS-Diagnose sprechen. Auch in den sozialen Medien wird das Thema immer präsenter, was zu einer breiten öffentlichen Diskussion führt.
Herausforderungen und Akzeptanz
Ein wichtiger Aspekt ist das allgemeine Verständnis von ADHS in der Gesellschaft. Auch wenn das Wissen über ADHS in den letzten Jahren zugenommen hat, bestehen weiterhin viele Missverständnisse und Vorurteile. Es braucht noch viel Aufklärung über die vielfältigen Ausprägungen von ADHS.
Bildungsstätten und Arbeitgeber spielen eine zentrale Rolle bei der Förderung von Menschen mit ADHS, die oft über eine beeindruckende Bandbreite an Fähigkeiten und Interessen verfügen. Werden ihre Stärken erkannt und gezielt gefördert, bringen sie innovative Ideen und frische Perspektiven in Teams und Unternehmen ein.
In ferner Zukunft sollte das Ziel sein, ADHS und andere neurologische Entwicklungsvarianten als natürliche Unterschiede zu akzeptieren, anstatt sie als Störungen zu betrachten. Gleichzeitig sollten alle Menschen Unterstützung erhalten, wenn sie diese benötigen - auch ohne eine diagnostizierte Störung oder Erkrankung.
Was ist der Unterschied zwischen Autismus und Asperger-Syndrom?
Das Asperger-Syndrom wird umgangssprachlich als „leichtere“ Form des Autismus beschrieben. Diese Beschreibung wird der Diagnose nicht ganz gerecht. Es hat auch unterschiedliche Kriterien als Autismus. Bevor, man sich aber in diese Unterscheidung vertieft, soll einem bewusst sein, dass ab 2027, es keine zwei verschiedenen Diagnosen geben wird, sondern nur die „Autismus-Spektrum-Störung (ASS)“
Ein ASS benötigt einige Kriterien. Es müssen mehrere Auffälligkeiten im Bereich der sozialen Interaktionen sowie im Bereich von repetitiven Verhaltensweisen und Interessen vorhanden sein, bevor solch eine Diagnose gestellt werden darf.
Eines der Hauptziele der Behandlung ist es, dieses Syndrom als Teil der eigenen Person zu akzeptieren.
tags: #adhs #berühmte #autisten #unterschied