Menschen mit Autismus nehmen die Welt anders wahr. Sie sehen, hören und fühlen anders als ihre Mitmenschen. Diese unterschiedliche Wahrnehmung kann alltägliche Situationen zu grossen Herausforderungen machen.
Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS)
Offiziell spricht man heute von der «Autismus-Spektrum-Störung» (ASS), da die Ausprägungen sehr unterschiedlich sein können. Matthias Huber, Psychologe an der Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UPD in Bern, spricht gern von «autistisch wahrnehmenden und denkenden Menschen». Denn gemein ist allen: Sie nehmen die Welt anders wahr als ihre Mitmenschen.
Die Ursachen der Autismus-Spektrum-Störung sind bis heute nicht vollständig geklärt. Sicher ist: Autismus entsteht nicht durch Erziehungsfehler oder familiäre Konflikte. Laut «Neurologen und Psychiater im Netz» ist bei einem von der Autismus-Spektrum-Störung betroffenen Elternteil das Risiko, ebenfalls ein Kind mit Autismus zu bekommen, stark erhöht. Insgesamt geht man auch davon aus, dass die Gehirnentwicklung bei Personen mit Autismus-Spektrum-Störung schon vorgeburtlich anders verläuft als bei gesunden Kindern.
Der Begriff «Autismus» bedeutet «sehr auf sich bezogen sein» und kommt aus dem Griechischen.
Wahrnehmung und Kommunikation
Autistische Menschen legen das Gesagte während eines Gesprächs permanent auf die Goldwaage, dadurch wirken sie oft abgelenkt, nach innen gerichtet, gar unfreundlich oder desinteressiert auf andere. Ausserdem sind Mimik und Gestik für uns wahnsinnig schwer zu verstehen. Will das Gegenüber noch etwas sagen? Was ist ironisch und was ernst gemeint?
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Sprache und Begriffe lassen Raum für Interpretation, wie Matthias Huber erst lernen musste: «Wenn meine Eltern zu mir sagten ‹Du, wir gehen jetzt!›, bin ich aufgesprungen und habe meine Jacke angezogen. Für alle anderen kann «jetzt» auch «gleich» bedeuten oder: «ein wenig später».» Huber hat das Asperger-Syndrom, eine eher unauffällige Ausprägung von Autismus.
Dennoch hat Huber mit der Kommunikation Schwierigkeiten: «Wir Autisten nehmen alles sehr wörtlich.»
Herausforderungen im Alltag
Einkaufen, zur Arbeit und ins Kino gehen oder mit dem Tram fahren - für autistisch wahrnehmende Menschen werden alltägliche Situationen zu riesigen Herausforderungen. «Schon leise Geräusche können im Gehörgang wie Glasscherben schmerzen. Manche Gerüche sind derart unerträglich, dass man den Raum verlassen muss. Künstliche Beleuchtung fühlt sich manchmal an, als würde man ohne Sonnenbrille in die Sonne schauen.
Ein weiterer Punkt, den nicht autistische Menschen nur schwer nachvollziehen können: «Planänderungen und überraschende Ereignisse sind extrem unangenehm», weiss Huber. «Ist etwas abgemacht, ist das für einen Autisten in Stein gemeisselt.
Autistinnen und Autisten erleben die Welt aufgrund ihrer Wahrnehmung anders - Geräusche, Gerüche, Reize oder grosse Menschenmengen empfinden sie oft intensiver als Menschen ohne Autismus. Es hilft, wenn Eltern herausfinden, welche Aspekte für das Kind überfordernd und reizüberflutend sind.
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Die grundlegende Ursache für Autismus und deren Symptome ist eine erschwerte Verarbeitung von Umweltreizen. Autismus hat nichts mit einer Intelligenzminderung zu tun, sondern beschreibt eine andere Wahrnehmung der Welt.
Menschen mit ASS verfügen über eine andere Informationsverarbeitung, sie sehen, hören und fühlen die Welt anders als sogenannt neurotypische Menschen. Zudem können sie die Stimmung ihres Gegenübers aus dessen Gesicht schlecht erkennen und haben deswegen Mühe, soziale Situationen oder Ironie zu verstehen.
Für Menschen mit ASS ist es eine Herausforderung, sich auf Neues einzustellen und entsprechend ist es für sie am einfachsten, Alltagsabläufe immer gleich zu gestalten (Rituale) und sich im gewohnten Lebensumfeld zu bewegen.
Aufgrund dieser anderen Wahrnehmung kann es zu einem sogenannten «Overload» kommen, einer Überlastung aufgrund von Reizüberflutung, bei der unwichtige Reize nicht mehr gefiltert werden können.
Stärken und Spezialinteressen
Oft ist bloss die Rede von den Problemen, mit denen Menschen mit Autismus im Alltag zu kämpfen haben. Doch Autisten haben auch Stärken und sind anderen in vielen Dingen überlegen: So sind Betroffene oft ehrlich und direkt, nehmen Details sehr präzise wahr und interessieren sich für sie.
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Laut dem Verein «autismus deutsche schweiz ads» sehen sie Dinge und Situationen zunächst in Einzelmerkmalen, bevor sie diese als Ganzes erfassen. Der Vorteil? Sie finden sehr schnell Fehler und können Arbeiten genau und perfektionistisch ausführen. Autisten können sich lange mit etwas beschäftigen, ohne dass ihnen langweilig wird. Besonders ausgeprägt ist das Interesse für Spezialgebiete.
«So ein Spezialgebiet gibt Vertrautheit. Autisten erlangen so ein Stück Kontrolle über ihre Umwelt, sie fühlen sich weniger ausgeliefert», weiss Huber aus eigener Erfahrung. Er selber vertiefte sich unter anderem schon in die Welt der Dinosaurier, in Weltkarten und Rohstoffverteilung, interessierte sich für Temperaturkurven und las stundenlang in Lexika die Bedeutung von Wörtern nach.
Lange hat man versucht, durch Therapien diese Fixierungen bei autistischen Kindern zu unterdrücken. Früher hiess es: «Du darfst nicht immer nur über das Gleiche reden!» Heute werde das Spezialinteresse positiv gedeutet und versucht mit dessen Hilfe das Interesse für die Welt weiter auszubauen.
Unterstützung und Therapie
Autismus ist angeboren und wird Betroffene ihr Leben lang begleiten. Sie können jedoch lernen, mit dem Autismus umzugehen.
«Der TEACCH-Ansatz (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children) ist eine gute Methode, um die Umwelt verstehbarer und vorhersehbarer zu machen», sagt Huber. Dabei handelt es sich um ein international anerkanntes Konzept zur pädagogischen Förderung von Menschen mit Autismus und ähnlichen Kommunikationsbehinderungen.
Vielen Kindern mit Autismus helfen Rückzugsmöglichkeiten und ruhige Zonen - zum Beispiel in einem Hängetuch, mit Kopfhörern oder einem Sofa.
Es fällt Autistinnen und Autisten oft schwer, die eigenen Gefühle beschreiben oder etwas ausdrücken zu können. Es kann helfen, auf die Körpersprache des Kindes zu achten und ihm bei der Formulierung seiner Aussagen zu helfen.
Autistische Kinder haben oft Mühe, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und auf diese zuzugehen. Man kann ein Kind zum Beispiel dabei begleiten, wie man auf andere Kinder zugeht und fragt, ob man mitspielen darf. Das Kind kann auch einer Freizeitbeschäftigung nachgehen, die es interessiert und mit anderen Kindern zusammenbringt - zum Beispiel bei Schulsportangeboten.
Auch eine gute Zusammenarbeit zwischen den Lehr- und Fachpersonen sowie den Eltern stellt für das Kind eine grosse Unterstützung dar. Am besten ist es gemeinsam Strategien zu besprechen, wie das Kind im Schulalltag bestmöglich begleitet werden kann. In der Schule werden Autistinnen und Autisten zusätzlich von einer schulischen Heilpädagogin begleitet. Auch andere schulische Massnahmen wie Logopädie oder Psychomotoriktherapie können dem Kind bei der Entwicklung helfen.
Wichtig ist, dass man dem Kind Verständnis entgegenbringt, denn jedes Kind hat andere Besonderheiten und Stärken. Mit dieser Haltung können verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten ausprobiert werden. Die individuellen Bedürfnisse des Kindes sind dabei am wichtigsten.
Alle psychotherapeutischen Verfahren sind zur Behandlung von Personen mit ASS geeignet, mit der Einschränkung, dass man störungsangepasst vorgehen sollte. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten arbeiten mit einer Haltung, die den Prozess unterstützt, und die von Akzeptanz, einem hohen Mass an Authentizität, Offenheit, Neugier, Geduld sowie einer strukturierten Herangehensweise geprägt ist.
Mögliche Ziele einer Psychotherapie bei ASS-Betroffenen:
- die Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion reduzieren
- die Kommunikationsfertigkeiten steigern
- Verhaltensweisen positiv verändern
- psychische Begleiterkrankungen (komorbide psychische Störungen) wie etwa affektive Störungen, Angst- und Zwangsstörungen, ADHS, Suchterkrankungen psychotherapeutisch sowie medikamentös erfassen und behandeln
Umgang mit Menschen mit Autismus
Menschen mit Autismus haben eine andere Wahrnehmung der Welt als neurotypische Personen und reagieren anders auf ihre Umwelt. Die untypischen Verhaltensweisen stossen oftmals auf Unverständnis. Was für neurotypische Menschen oft als Kleinigkeit abgetan wird oder unbemerkt bleibt, kann bei einer autistischen Person zu einer totalen Reizüberflutung führen und starke Reaktionen hervorrufen.
Bewahren Sie Ruhe und ein sicheres, aber nicht bedrängendes Auftreten. Halten Sie Abstand, schreien Sie die autistische Person nicht an und halten Sie sie nicht fest. Falls die Person nicht antworten kann, geben Sie ihr Zeit. Vermeiden Sie unnötige Berührungen.
Beschreiben Sie genau, was Sie planen und vorhaben. Melden Sie sich zu Besuchen mindestens einen Tag vorher an.
Führen Sie ganz klare Abläufe ein, die jeden Tag exakt gleich eingehalten werden. Visuelle Hilfen sind dabei sehr hilfreich. Sie können Abläufe visualisieren, indem Sie den Ablauf aufzeichnen oder Punkt für Punkt aufschreiben und das Blatt irgendwo gut ersichtlich aufhängen. Wichtig ist, dass dieser Ablauf immer genau so eingehalten wird.
Erklären Sie Ihrem Kind möglichst plausibel, warum gewisse alltägliche Dinge wichtig sind. Je rationaler Ihre Erklärung, desto eher werden die Anweisungen vom Kind befolgt.
Unterstützung für Angehörige
Angehörige und Bekannte von Menschen in Autismus-Spekturm stehen oftmals vor vielen unbekannten Fragen und Herausforderungen. Die intensive Zeit der Diagnosestellung, der Austausch mit Behörden, Schulen, Arbeitgebenden und ärztlichem Fachpersonal kann sich als sehr herausfordernd und ressourcenintensiv gestalten.
Angehörige können dadurch unterstützen, wenn sie sich respektvoll, wertfrei den Erlebenswelten des Betroffenen nähern. Es empfiehlt sich strukturiert zu kommunizieren und eher geschlossene Fragen zu stellen. Zudem sollte auf Metaphern oder Sprichwörter verzichtet werden, da Personen mit ASS diese meist wortwörtlich nehmen. Mehrere unterschiedliche Informationen sollten nicht gleichzeitig vermittelt werden, weil Konzentration und Aufmerksamkeit möglicherweise dadurch überflutet werden.
Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) bei Erwachsenen
Eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) stellt an das Umfeld und an die Betroffenen meist hohe Anforderungen. In der Kommunikation treten Besonderheiten auf: häufig sind es Auffälligkeiten in der Sprechmelodie sowie abweichende Wahrnehmungsinterpretationen, visuell, auditiv, olfaktorisch, taktil und mental. Zudem zeigen sie häufig repetitive Verhaltensmuster. Die Alltagsgestaltung wird dadurch beeinflusst.
Bei ASS im Erwachsenenalter treten die Symptome meist in Krisenzeiten auf. Menschen mit einer ASS erleben sich defizitär, wenn es darum geht, mit anderen Menschen zu sprechen, mit ihnen auszukommen oder auf sie zuzugehen, soziale Kommunikation und Interaktion zu initiieren und aufrechtzuerhalten ist schwierig. Hinzu kommen eingeschränkte, repetitive und unflexible Muster an Verhaltensweisen und Interessen, die persönliche, familiäre, schulische, berufliche oder andere wichtige Bereiche des sozialen Lebens beeinträchtigen. Das verursacht bei den Betroffenen ein klinisch bedeutsames Leiden.
Wie gelingt es ASS-Betroffenen, den Alltag zu meistern?
ASS-Betroffene können äussere Reize auf den verschiedenen Sinneskanälen weniger gut verarbeiten, d.h. relevante von nicht relevanten Reizen schwer unterscheiden. Dadurch kommt es zu einer Reizüberflutung und in der Folge meist zu Stressreaktionen. ASS-Betroffene entwickeln Strategien um die Wahrnehmungen zu verarbeiten und den Alltag zu bewältigen, und zwar meist indem sie ihre Aufmerksamkeit fokussieren. Dies führt zu Spezialinteressen, routinemässigen Vorlieben und hoch strukturierten Abläufen.
Die Arbeitsumgebung für einen ASS-Betroffenen
- Der Arbeitsplatz sollte möglichst reizarm gestaltet sein
- Vorgaben und Verläufe bei Tätigkeiten sollten möglichst klar definiert sein
- Routinen und Rituale sollten eingebaut werden. Sie vermitteln Sicherheit und führen zu subjektivem Wohlbefinden.
- Idealerweise gibt es für die betroffene Person einen Rückzugsraum und damit verbunden die klare Abmachung, dass sie sich Zeit für Entspannung, etwa nach einem anstrengenden Tag, gönnen darf.
Finanzielle Unterstützung in der Schweiz
Wer eine Leistung der IV beanspruchen will, muss bei der IV-Stelle des Wohnsitzkantons eine Anmeldung einreichen. Legitimiert zur Anmeldung sind in erster Linie die gesetzlichen Vertreter, nötigenfalls auch Behörden oder Dritte, welche das Kind regelmässig unterstützen oder dauernd betreuen.
Die notwendigen Reisekosten im Zusammenhang mit der Durchführung von Eingliederungsmassnahmen (medizinische Massnahmen, Integrationsmassnahmen, berufliche Massnahmen) werden von der IV übernommen. Soweit die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar ist, werden deren Kosten vergütet, andernfalls werden die effektiven Kosten von Taxi oder Privatauto (45 Rappen pro Kilometer) vergütet. Auch die Fahrauslagen für eine notwendige Begleitperson werden vergütet.
Hilflosenentschädigung
Dies ist eine finanzielle Leistung der IV, wenn jemand wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung gewisse alltägliche Verrichtungen nicht mehr selbst erledigen kann. Sie dient der teilweisen Deckung der Kosten im Zusammenhang mit der Grundpflege Behinderter. Der Anspruch entsteht erst, wenn die Hilflosigkeit ununterbrochen ein Jahr angedauert hat.
Höhe der Hilflosenentschädigung (Stand 2012):
| Grad der Hilflosigkeit | Betrag pro Tag (CHF) |
|---|---|
| Leichte Hilflosigkeit | 19.40 |
| Mittlere Hilflosigkeit | 48.50 |
| Schwere Hilflosigkeit | 77.60 |
Ist ein Kind zusätzlich auf eine intensive Betreuung angewiesen, so wird unter bestimmten Voraussetzungen ein Intensivpflegezuschlag (IPZ) ausgerichtet. Kein Anspruch auf einen IPZ besteht während eines Heimaufenthaltes.
Als Hilfsmittel gelten Geräte und Apparate, welche ausgefallene Körperfunktionen ersetzen und notwendig sind für die Schulung und die Ausbildung oder den Kontakt mit der Umwelt, die Fortbewegung oder die Selbstsorge.
Früherfassung und Frühintervention
Diese neuen Massnahmen der IV dienen dazu, Personen mit ersten Anzeichen einer möglichen Invalidität rasch zu erfassen und zu unterstützen, um den Verbleib im Arbeitsprozess oder eine rasche Wiedereingliederung zu ermöglichen.
Die Massnahmen der Frühintervention sollen verhindern, dass Personen wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung ganz oder teilweise aus dem Arbeitsprozess herausfallen. Ziel ist es, den bisherigen Arbeitsplatz zu erhalten oder einen neuen Arbeitsplatz innerhalb oder ausserhalb des bisherigen Betriebs zu finden.