Die Anzeichen von emotionaler Vernachlässigung sind vielfältig und manchmal subtil. Ein Kind wird emotional vernachlässigt, wenn es keine angemessene Fürsorge erfährt oder diese ganz fehlt. Dem Kind fehlt es an Zuwendung, Liebe, Respekt, Geborgenheit sowie an einer sicheren Bindung und Beziehung. Seine Bedürfnisse werden nicht wahrgenommen und es wird nicht altersentsprechend angeregt, gefördert und unterstützt. Das heisst, dass die motorischen, kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen nicht gelernt werden können. Konkret: Niemand spielt oder lernt mit dem Kind oder beantwortet kaum je Fragen. Häufig werden emotional vernachlässigte Kinder auch körperlich vernachlässigt.
Emotionale (auch: psychische) Vernachlässigung gilt als eine von fünf Formen häuslicher Gewalt gegenüber Kindern. Unter Vernachlässigung versteht man die durch sorgeverantwortliche Personen wiederholte oder andauernde Unterlassung fürsorglichen Handelns, das zur Sicherung der seelischen und körperlichen Bedürfnisse eines Kindes notwendig wäre. Das Unterlassen dieses Tuns führt zur emotionalen oder körperlichen Vernachlässigung des Kindes. Vernachlässigung wird im Gegensatz zu den «acts of comission», das heisst dem aktiven schädigenden Tun und Übergriff, als überwiegend passive Misshandlungsform, als «act of omission» und damit als Unterlassung beschrieben.
Die autorisierten Bezugspersonen unterlassen aus Unaufmerksamkeit, Vorsatz, mangelnder Einsichtsfähigkeit und unzureichendem Wissen über Notwendigkeiten und Gefahrensituationen die Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse der Kinder. Neben den rein passiven Formen der Vernachlässigung treten auch Formen mit aktiven Aspekten auf. Hierzu zählt beispielsweise die wissentliche Verweigerung von Nahrung, Ausbildung oder Schutz.
Formen der Vernachlässigung
Es können verschiedene kindliche Bedürfnisse unterschieden werden. Man spricht dann von:
- Vernachlässigung körperlicher Bedürfnisse
 - Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Schutz und Sicherheit
 - Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Verständnis und Bindung
 - Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Wertschätzung
 - Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Anregung, Spiel und Leistung
 - Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung
 
Von der emotionalen Vernachlässigung nur schwer abzugrenzen ist die psychische (seelische/emotionale) Misshandlung. Die psychische Misshandlung wird zu den aktiven Misshandlungsformen gezählt, ist inhaltlich und von der Schwere her jedoch eher der Vernachlässigung zuzuordnen, weshalb die Begriffe oft auch synonym verwendet werden. Emotionale Misshandlungen sind im Rahmen der Erziehung durch ein wiederkehrendes Muster feindseliger, ablehnender, einschüchternder und verbal herabsetzender, letztlich schädigender Interaktionen gekennzeichnet, die eine negative Grundeinstellung gegenüber dem Kind widerspiegeln.
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Den Kindern und Jugendlichen wird durch Schmähungen, Herabsetzung, Lächerlichmachen, Einschüchterung oder Ignorieren vermittelt, dass sie wertlos, fehlerhaft, ungeliebt und ungewollt sind. Treten diese Verhaltensmuster regelmässig als Grundhaltung der Eltern gegenüber ihrem Kind auf, besteht die emotionale Misshandlung in erster Linie aus einer gänzlich gestörten Beziehung, die sich schädigend auf das Kind auswirkt.
Es ist bekannt, dass zwischen den verschiedenen Formen der Kindesmisshandlung fliessende Übergänge bestehen und unterschiedliche Misshandlungsformen koexistieren können. Dennoch kann die Vernachlässigung unabhängig von anderer Gewalt auch als eigene Misshandlungsform auftreten. Gesicherte Zahlen, wie viele Kinder in der Schweiz Opfer von Vernachlässigung werden, liegen nicht vor. Das amerikanische Pflichtmeldesystem (mandatory reporting) weist in 70 Prozent der gemeldeten Kindesmisshandlungsfälle Vernachlässigung als Ursache aus. Diese Schätzung kann wahrscheinlich näherungsweise auf die Schweiz übertragen werden.
Die Vernachlässigung kann gemäss den AWMF-Leitlinien in folgende Formen unterteilt werden:
Körperliche und medizinische Vernachlässigung:
Mangel an physischer beziehungsweise gesundheitlicher Fürsorge und Schutz vor Gefahren, zum Beispiel aufgrund des Mangels an adäquater qualitativer und quantitativer Ernährung, adäquater Unterbringung, Bekleidung, Hygiene, Körper- und Zahnpflege, Sicherheit vor alltäglichen Gefahren, Supervision und Aufsicht; Verweigerung oder Verzögerung medizinischer Hilfe, fehlendes kooperatives Verhalten im Rahmen medizinischer Therapie (Non-Compliance), keine oder unzureichende gesundheitliche Vorsorge (z.B. Impfungen, Vitamin-D-Prophylaxe).
Emotionale Vernachlässigung:
Inadäquate oder fehlende emotionale Fürsorge und Zuwendung, unzureichendes oder ständig wechselndes und dadurch insuffizientes emotionales Beziehungsangebot, zum Beispiel durch Mangel an Zuwendung, Liebe, Geborgenheit, Bestätigung, Respekt, Anregung und Förderung (stimulative Vernachlässigung), Wahrnehmung, Unterstützung, Förderung der Schul- und Berufsausbildung, Unterstützung beim Erwerb sozialer Kompetenzen und bei der Vermittlung von «Lebenstüchtigkeit» und Selbstständigkeit, Grenzensetzen, Belehrung über Gefahren; zudem beständige/wiederholte Konfrontation mit chronischer Partnergewalt der Eltern und permissive Haltung der Eltern bei Substanzmissbrauch, gesellschaftlich unerwünschtem Verhalten (z.B. mangelnde Wahrnehmung und Unterstützung des Schulunterrichts.
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Weitere Aspekte sind:
- Inadäquate oder fehlende emotionale Fürsorge und Zuwendung
 - Unzureichendes oder ständig wechselndes emotionales Beziehungsangebot
 - Mangel an Zuwendung, Liebe, Geborgenheit, Bestätigung, Respekt, Anregung und Förderung
 - Fehlende Unterstützung beim Erwerb sozialer Kompetenzen und bei der Vermittlung von Selbstständigkeit
 - Konfrontation mit chronischer Partnergewalt der Eltern
 
Ursachen von Vernachlässigung
Monokausale Erklärungen für das Auftreten von Vernachlässigung gibt es nicht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Zusammentreffen verschiedener, zum Teil interagierender Faktoren auf individueller, familiärer und gesellschaftlicher Ebene sowie des Lebensumfeldes das Auftreten von Vernachlässigung bedingt, auch wenn das Vorliegen eines oder mehrerer Risikofaktoren nicht zwingend zur Vernachlässigung führen müssen.
Auf der individuellen elterlichen Ebene werden Probleme in der mütterlichen emotionalen Gesundheit und die intellektuellen Fähigkeiten sowie Alkohol- und Drogenabusus als Ursachen der Vernachlässigung beschrieben. So werden bei vernachlässigenden Müttern gehäuft Depressionen und das von Polansky beschriebene sogenannte Apathy-Futility-Syndrom beschrieben. Unfähigkeit zur Artikulation oder zum Ausdruck von Gefühlen, passive Aggressivität, Feindseligkeit, mangelnde Problemlösefähigkeit, mangelnde Beziehungsfähigkeit beziehungsweise ein Klammern in schädlichen Beziehungen, das Gefühl der Sinn- und Zwecklosigkeit, Langeweile, Unruhe, generelle Unzufriedenheit und die Tendenz, die Verantwortung für das eigene Schicksal auf andere zu übertragen.
Bei vernachlässigenden Vätern werden aggressive und dissoziale Persönlichkeiten sowie Delinquenz beobachtet. Daneben werden intellektuelle Defizite und niedrige/geringe Schulausbildung sowie Substanzmissbrauch beschrieben, der neben der direkten Schädigung des Konsumenten auch die elterliche Kompetenz und Fürsorgefähigkeit erheblich beeinträchtigen kann.
Die Eigenschaften von Kindern sollten prinzipiell nicht als Ursache für das Auftreten von Vernachlässigung betrachtet werden, da das ein Selbstverschulden impliziert, das per se nicht gegeben ist. Dennoch können die Eigenschaften eines Kindes als Stressoren und damit als Auslöser der Dekompensation der bereits beeinträchtigten elterlichen Kompetenzen angesehen werden. Zu denken ist hier neben chronisch kranken, behinderten und frühgeborenen, also betreuungsintensiven Kindern auch an Kinder mit Regulationsstörungen (Schlaf- und Fütterstörungen) beziehungsweise Schreibabys.
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Gerade bei jungen Eltern und ungeplanten Schwangerschaften kann die Verantwortung für die empfundene Verschlechterung und Einschränkung der individuellen Möglichkeiten dem Säugling übertragen werden. Zudem kann das Kind zu einem unbewusst herbeigesehnten, aber völlig unangemessenen, überhöhten «Sinnstifter» gemacht und als Kompensation für fehlende eigene persönliche oder berufliche Zukunftsperspektiven missbraucht werden. Auch der innige Wunsch von häufig selbst als Kinder misshandelten oder vernachlässigten Eltern, durch das Kind geliebt und angenommen zu werden, führt zu unerfüllbaren und unrealistischen Anforderungen an das Kind, dem dieses in der Regel nicht gerecht werden kann.
Auch soziale Isolation und fehlende Ressourcen, sozialer Stress durch Arbeitslosigkeit, Armut und Wohnungsnot sind als gesellschaftliche Faktoren mitbedingend für das Auftreten von Vernachlässigung. Auch bei psychisch misshandelnden Eltern werden häufig insuffiziente Elternkompetenz, ein autoritärer Erziehungsstil, das Vorliegen psychischer Erkrankungen, Suchtmittelabusus, Suizidversuche, niedriges Selbstwertgefühl, mangelnde Empathiefähigkeit, häusliche Gewalt und familiäre Dysfunktion beschrieben.
Folgen von Vernachlässigung
Die Folgen von Vernachlässigung lassen sich grundsätzlich in vier Gruppen unterteilen:
- Körperliche Entwicklung: Übergewicht, Untergewicht, Gedeihstörung, verzögertes Längenwachstum (spät), schlechter Pflegezustand (z.B. ungewaschene Kinder bei geplanter Arztvorstellung, längeres Tragen eingekoteter/eingenässter Windeln; ungeschnittene Finger- und Zehennägel), hohe Krankheitsanfälligkeit, verzögertes Sauberwerden, mangelnde Zahnhygiene, Tod.
 - Psychische Entwicklung: Interesselosigkeit, Leistungsverweigerung, gemindertes Selbstwertgefühl, emotionaler Rückzug, Depressionen und Ängste, selbstverletzendes Verhalten, suizidales Verhalten, Suchtmittelkonsum und so weiter.
 - Soziale Entwicklung: Unangepasstes Sozialverhalten, mangelnde soziale Intergration, Distanzlosigkeit, Aggressivität, Kontaktabbrüche und so weiter.
 
Welche Symptome ein Kind aufgrund der erlittenen Vernachlässigung entwickelt und welche Folgen die Vernachlässigung hat, ist abhängig von der Art und der Dauer der Vernachlässigung sowie vom Alter und von der individuellen Charakterstruktur des Kindes. Wenn die Bedürfnisse eines Kindes auf verschiedenen Ebenen und über einen längeren Zeitraum hinweg nicht genügend befriedigt werden, ist das Risiko höher, dass sich Langzeitschäden entwickeln, die sich bis in das Erwachsenenalter ziehen können. Die häufigsten Auswirkungen bei Erwachsenen sind psychische Störungen, Beziehungsprobleme sowie vernachlässigendes Verhalten gegenüber den eigenen Kindern.
Diagnose von Vernachlässigung
Wie bei anderen Kindesmisshandlungsformen erfordert es für die Diagnose einer Vernachlässigung zunächst die Bereitschaft, den Verdacht auf eine Vernachlässigung überhaupt zuzulassen. Nicht immer lässt sich eine Vernachlässigung prima vista, wie beispielsweise am klinischen Bild einer nicht organischen Gedeihstörung, erkennen. Häufiger wird der Verdacht auf das Vorliegen einer Vernachlässigung aufgrund unspezifischer Symptome geweckt. Zu diesen unspezifischen Symptomen gehören eine gestörte Entwicklung der Sprache, der Motorik und der Kognition, das Fehlen des reaktiven Lächelns bei Kleinkindern, geringer/fehlender Blickkontakt oder Apathie.
In der Eltern-Kind-Interaktion zeigt sich oft ein wenig wertschätzender und wenig freundlicher Umgang mit dem Kind, der von wenig Zärtlichkeit und Schutz sowie vielen verbalen Zurechtweisungen geprägt ist. Bei älteren Kindern und Jugendlichen kann das gesamte Spektrum an unspezifischen emotionalen, psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten beobachtet werden. Vernachlässigte Kinder fallen zudem oft durch ihre mangelnde soziale Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten, und ein ambivalentes Verhalten gerade bei Verabschiedungen und Wiederbegegnungen auf.
Nicht selten entstehen aus Vernachlässigung internalisierende psychische und emotionale Störungen. Die Diagnose kann in diesen Fällen - wenn überhaupt - nur im Rahmen eines längeren Beobachtungszeitraums und in Zusammenschau aller Aspekte gestellt werden, wobei auch Beobachtungen anderer Fachpersonen (z.B. Kindergarten, Schule), die mit Kind und Familie in engerem Kontakt stehen, mit einbezogen werden sollten.
Prävention und Intervention
Viele schwerwiegende Fälle von Vernachlässigung können verhindert werden, wenn Eltern bereits im Stadium der beginnenden oder latenten Vernachlässigung durch geeignete Beratungs- und Unterstützungsangebote gezielt in ihren Beziehungsstrukturen gestärkt werden.
Es ist wichtig, (werdende) Eltern frühzeitig auf bestehende Beratungs- und Unterstützungsangebote hinzuweisen und die (werdenden) Eltern zur Inanspruchnahme solcher Angebote zu motivieren. Ansprechpartner für frühe Hilfen sind Kinderschutzstellen (z.B. Kinderschutz Schweiz) oder auch Mutter-Väter-Beratungen, daneben stehen auch die Erwachsenen- und Kinderschutzbehörden und die Kinderschutzgruppen der schweizerischen Kinderspitäler als Ansprechpartner zur Verfügung.
Die Vermittlung und Inanspruchnahme früher Hilfen basiert zunächst auf Freiwilligkeit ohne Eingriff in das Elternrecht. Besteht der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung, und sind die Eltern nicht bereit, freiwillig an einer Veränderung der Situation mitzuwirken, ist die Erwachsenen- und Kinderschutzbehörde unverzüglich einzubeziehen. Für Ärzte besteht in diesen Fällen - je nach Kantonszugehörigkeit - eine Meldepflicht beziehungsweise ein Melderecht, das heisst, die ärztliche Geheimhaltungspflicht ist von Gesetzes wegen aufgehoben (Meldepflicht) oder kann von den Ärzten selbst aufgehoben werden (Melderecht), um das höhere Rechtsgut des Kindeswohls zu unterstützen.
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