Alle Menschen haben das Recht auf eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung. Menschen mit Beeinträchtigungen erhalten aber oft nicht den gleichen Zugang und die gleiche Qualität wie Menschen ohne Beeinträchtigung, wie die WHO in ihrem «WHO global disability action plan 2014-2021» festhält.
Aktuelle Situation in der Schweiz
Die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und die HES‑SO Fribourg haben im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) und des Bundesamts für Gesundheit (BAG) eine umfassende Situations- und Bedarfsanalyse vorgelegt. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass zentrale Elemente der Versorgung für Betroffene unzureichend zugänglich sind - von der Terminvereinbarung bis zur Aufklärung und Einwilligung in Behandlungen.
Die Studie identifizierte rund 30 Angebote in der Schweiz, die auf die Bedürfnisse gehörloser und schwerhöriger Personen abzielen. Diese Angebote reichen von Psychotherapie und Physiotherapie in Gebärdensprache über Formulare zur Angabe des Kommunikationsbedarfs bis hin zu Spitälern mit gebärdensprachkompetentem Fachpersonal.
Trotzdem bestehen erhebliche Versorgungslücken: Vor allem in den Bereichen Gesundheitsförderung, Prävention, Psychiatrie und hausärztliche Versorgung fehlen angepasste Angebote. Die Verfügbarkeit variiert nach Region - einige Kantone haben kaum Angebote, andere wie Waadt und Genf sind etwas besser abgedeckt. Ein bedarfsgerechter Zugang ist aktuell nicht gewährleistet.
Im internationalen Vergleich attestiert die FHNW der Schweiz Rückstand. In Frankreich bieten Unités d’Accueil et de Soins pour les Sourds (UASS) an grossen Spitälern eine zentrale Anlaufstelle, in Österreich bestehen Gesundheitszentren für gehörlose Menschen, in Italien steht ein 24/7‑Videodolmetschdienst zur Verfügung - auch für Notfälle.
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Die strukturellen Hindernisse wirken sich unmittelbar auf die Versorgungsqualität aus. Gemäss Studie erschweren Zeitdruck, Personalmangel, fehlender Informationsfluss in Kliniken sowie unpassende räumliche Bedingungen die Behandlung zusätzlich. Unklarheiten bei Zuständigkeiten und Finanzierung - etwa bei Gebärdensprachdolmetschdiensten - belasten Betroffene und Einrichtungen gleichermassen.
Die Studie macht deutlich: Ohne koordinierten Ausbau von Strukturen, Kompetenzen und Hilfsmitteln bleibt der Zugang zur medizinischen Grund- und Spezialversorgung für Betroffene dem Zufall überlassen.
Herausforderungen und Barrieren
Viele Gehörlose stehen vor dem Problem, dass die Kommunikation im Gesundheitsversorgungssystem mit hörenden Fachleuten erschwert ist. Fachleute des Gesundheitssystems sind nicht genug sensibilisiert, informiert oder kompetent, um adäquat auf die Bedürfnisse der Gehörlosen eingehen zu können. Diese Barrieren können zu einer verminderten Gesundheitskompetenz, zu Unter- und Fehlbehandlungen sowie verspäteten Behandlungen führen.
Die befragten gehörlosen und schwerhörigen Personen erleben zahlreiche Hürden im Schweizer Gesundheitssystem: unzureichende Kommunikationskompetenzen des Personals, organisatorische Probleme wie fehlende Dolmetschdienste und Unsicherheiten bei der Finanzierung. Diese Faktoren behindern die Teilhabe und beeinträchtigen das Recht auf Selbstbestimmung. Die Verfügbarkeit von gebärdensprechenden ärztlichem und therapeutischem Personal in sensiblen Bereichen wie Psychiatrie, Psychotherapie und Gynäkologie besonders wichtig, jedoch oft nicht gewährleistet. Auch Fachpersonen berichten von Herausforderungen und beklagen fehlende Ressourcen, Zeit und Schulung für eine angemessene Versorgung.
Bedeutung der Gebärdensprache in der Psychotherapie
Für gehörlose Menschen erscheint ein psychotherapeutisches Angebot in Gebärdensprache zwingend, damit sie sich in ihrer Muttersprache mitteilen und ihre Gefühle, Gedanken und Erlebnisse so natürlich wie möglich ausdrücken können.
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Da die Mimik, Gestik und Körperbewegungen eine wichtige Rolle während des Gesprächs spielen, um auf den Gefühlszustand des Patienten einzugehen, bricht durch die Kommunikation über eine Drittperson der unmittelbare Kontakt zum Patienten weg.
Angebote und Anlaufstellen in der Schweiz
In der Schweiz gibt es diverse Anlauf- und Beratungsstellen für gehörlose und hörbehinderte Menschen. Manche Organisationen bieten auch Angebote für deren Angehörigen und das Umfeld an. Hier eine Auswahl:
- BFSUG - Beratungsstelle für Schwerhörige und Gehörlose: Beratungsstellen für Gehörlose und Schwerhörige in den Regionen Bern, Zentralschweiz, Zürich-Schaffhausen und Aargau-Solothurn. Die Beratungen betreffen die Bereiche Arbeit, Finanzen, Versicherungen, Familie, Erziehung, Wohnen, Persönlichem und Kommunikation.
 - Rechtsdienst vom Schweizerischen Gehörlosenbund: Beratung und Unterstützung für gehörlose und hörbehinderte Menschen bei rechtlichen Fragen und in Fällen von Diskriminierungen.
 - DIMA - Verein für Sprache und Integration: Unterstützung für gehörlose und hörbehinderte Lernende bei der Stellensuche, der Weiterbildung und am Arbeitsplatz sowie gehörlose und schwerhörige Migranten bei der Integration in die Schweizer Gesellschaft.
 - SVEHK - Schweizerische Vereinigung der Eltern hörgeschädigter Kinder: Anlaufstelle für Eltern gehörloser Kinder.
 - SZBLIND - Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen: Fachstelle für gehörlose Menschen mit Sehbehinderung.
 
Weitere Dienstleistungen:
- PROCOM: Vermittlung von Dolmetschenden und Videocom, um mit gehörlosen Personen zu telefonieren.
 - dolmX: Interkulturelles Dolmetschen per Video.
 - Netzwerk Gehörlosendolmetscher: Dolmetsch-Dienstleistungen in DSGS und umgekehrt.
 - SWISS TXT - Accessibility Services: Generalanbieter für Accessibility Services für barrierefreie und multilinguale Medieninhalte: Untertitelung, Online-Schriftdolmetschen, Barrierefreie Live-Streams, Accessible Online Events, Gebärdensprache, Audiodeskription.
 - Pro Audito: Sprache wird zu Text.
 
Gesundheitszentrum Boulevard Santé in Lausanne
Im Herbst 2019 hat in Lausanne das erste Gesundheitszentrum für Menschen mit einer Hörbehinderung in der Schweiz eröffnet. Über ein Dutzend Gesundheitsdienstleister arbeiten dort selbstständig, sie beherrschen oder lernen die Gebärdensprache und sie haben Kenntnisse über die Kultur der Gehörlosen. So ist der Boulevard Santé eine zentrale Anlaufstelle, wo Gehörlose behandelt, beraten und bei Bedarf an andere Stellen weiterverwiesen werden.
Psychologische Beratung und Therapieangebote
Einige Psychologen und Therapeuten bieten spezialisierte Dienstleistungen für Gehörlose und Schwerhörige an. Diese Angebote umfassen:
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- Psychologische Beratung in Gebärdensprache
 - Maltherapie, die besonders für gehörlose oder hörbehinderte Menschen geeignet ist, da die Laut- oder Schriftsprache während des Malprozesses kaum benötigt wird.
 - Online-Beratung für Gehörlose, um den Mangel an gebärdensprachkompetenten Psychotherapeuten zu überbrücken.
 
Silvio Zgraggen: Ein Beispiel für Engagement
Silvio Zgraggen ist studierter Psychologe und arbeitet als delegierter Psychotherapeut in der Praxis von Thomas Schmidt in Zug. Silvio ist hörbehindert und bietet seine Beratung in Gebärdensprache an.
Silvio setzt den Schwerpunkt auf die Erlebnisse seiner Patienten im Hier-und-Jetzt und arbeitet die Konflikte und Blockaden, die sich wiederholen im direkten Kontakt mit seinen Patienten auf.
Empfehlungen und Ausblick
Als Antwort formuliert das Projektteam zehn Empfehlungen. Zentral ist auch der Aufbau spezialisierter Einheiten an Universitäts- und Zentrumsspitälern, die sich regional vernetzen und ambulante Angebote schulen und unterstützen.
Es ist wichtig, das Angebot bekannter zu machen, indem alle relevanten Informationen dazu auf Social Media bereit gestellt werden. Die Studie macht deutlich: Ohne koordinierten Ausbau von Strukturen, Kompetenzen und Hilfsmitteln bleibt der Zugang zur medizinischen Grund- und Spezialversorgung für Betroffene dem Zufall überlassen.
Zusammenfassung der Studien-Ergebnisse
Die folgende Tabelle fasst einige der wichtigsten Ergebnisse der Studie zusammen:
| Bereich | Herausforderungen | Empfehlungen | 
|---|---|---|
| Kommunikation | Unzureichende Kommunikationskompetenzen des Personals, fehlende Dolmetschdienste | Schulung des Personals, Bereitstellung von Dolmetschdiensten | 
| Versorgungsbereiche | Fehlende Angebote in Gesundheitsförderung, Prävention, Psychiatrie und hausärztlicher Versorgung | Ausbau spezialisierter Angebote in diesen Bereichen | 
| Regionale Unterschiede | Unterschiedliche Verfügbarkeit von Angeboten je nach Kanton | Koordinierter Ausbau von Strukturen und Kompetenzen in allen Regionen | 
| Finanzierung | Unklarheiten bei der Finanzierung von Gebärdensprachdolmetschdiensten | Klärung der Zuständigkeiten und Finanzierung | 
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