Dieser Artikel befasst sich mit der Berechnung von ADHS-Punkten im Kontext der Invalidenversicherung (IV) und der damit verbundenen Fragestellungen zur Arbeitsfähigkeit und Eingliederung. Grundlage bilden verschiedene Gesetzesartikel und medizinische Gutachten.
Rechtliche Grundlagen
Gemäss Art. 7 ATSG, Art. 28 IVG, Art. 21 Abs. 4 ATSG besteht ein Anspruch auf eine Dreiviertelsrente, solange die attestierte, erst nach adäquater Behandlung und Eingliederung mögliche Arbeitsfähigkeit noch nicht erreicht ist.
Der Fall A.___
A.___ meldete sich am 12. Februar 2003 erstmals wegen Rückenleiden und Depression bei der Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug an. Der Versicherte hatte am 5. Juli 1996 das Fähigkeitszeugnis als Forstwart erlangt und anschliessend während kurzer Zeit als Strassenbauarbeiter gearbeitet. Vom 13. September 1999 bis 10. Mai 2000 hatte der Versicherte im Gartenbau gearbeitet und diese Stelle wegen mehrmaligen unentschuldigten Fernbleibens verloren. In den Jahren 1998 - 2002 hatte er sich mehrfach stationären Drogen-Entzügen bzw. Behandlungen unterzogen.
Psychiatrisches Gutachten
Med.prakt. D.___, Oberarzt Forensik Psychiatrische Klinik Wil, kam in einem psychiatrischen Gutachten vom 13. Oktober 2003 zum Schluss, der retrospektiv anzuwendende ADHS-Fragebogen spreche deutlich für die Möglichkeit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Primarschulalter. Unter Berücksichtigung seiner bisherigen Lebensgeschichte müsse man beim Beschwerdeführer nebst einer ADH-Störung von einer spezifischen Persönlichkeitsstörung gemäss ICD-10 ausgehen. Weiter sei eine Störung durch multiplen Substanzgebrauch und sonstiger psychotroper Substanzen, Abhängigkeitssyndrom, gegenwärtig Teilnahme an einem ärztlich bewachten Ersatzdrogenprogramm (Methadon, kontrollierte Abhängigkeit; ICD-10: F19.22) zu diagnostizieren. Rein psychiatrisch gesehen lägen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die vom Beschwerdeführer zuletzt ausgeübte Tätigkeit im Gartenbau nicht mehr durchführbar sei. Die ADHS sei nicht arbeits¬limitierend und bedürfe sicherlich einer medikamentösen Intervention (Ritalin). Die Suchtmittelproblematik sei iv-rechtlich nicht relevant. Allenfalls sei bei scheinbar vorhandener Abstinenz auch hierin kein arbeitslimitierender Faktor zu sehen.
Orthopädische Begutachtung
Eine orthopädische Begutachtung durch Dr.med. B.___, Spezialarzt Orthopädische Chirurgie FMH, vom 8. Juni 2004 ergab einen leicht dehydrierten Discus intervertebralis Th 9 bis 12 sowie eine minimale dorsale Diskusprotrusion L2 bis S1. Tätigkeiten, bei denen häufig unphysiologische gebeugte Körperhaltungen eingenommen werden müssten und die mit regelmässigem Heben und Tragen von Gegenständen über 10 kg verbunden seien, seien nicht mehr vollumfänglich zumutbar. Die Arbeitsfähigkeit als Förster (richtig: Forstwart) oder Gärtnereiangestellter betrage bei voller Stundenpräsenz ca. 80%. Körperlich leichte Tätigkeiten, bei denen nicht regelmässig Gegenstände über 3 bis 5 kg gehoben oder getragen und keine unphysiologisch gebeugte Körperhaltung regelmässig eingenommen werden müsse, seien dem Beschwerdeführer vollumfänglich zumutbar (Arbeitsfähigkeit 100%).
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Weitere Entwicklungen
Nachdem der Versicherte gegenüber dem Berufsberater betont hatte, dass er zuerst die anderen Probleme in seinem Leben lösen möchte und auf die Hilfestellung der IV vorerst verzichte, schloss die Berufsberatung am 24. Februar 2005 den Fall ab, da die Suchtproblematik (Cannabiskonsum) sowie die diagnostizierte ADHS den Versicherten daran hinderten, eine berufliche Neuorientierung bzw. berufliche Massnahmen anzugehen. Die IV-Stelle erliess am 3. März 2005 eine Mitteilung über den Abschluss beruflicher Massnahmen.
Der Beschwerdeführer meldete sich am 3. November 2005 unter Hinweis auf ausgeprägte ADHS-Symptome und Rückenprobleme seit der Ausbildung zum Forstwart erneut bei der IV zum Leistungsbezug an.
Die Berufsberatung schloss die berufliche Abklärung am 27. Februar 2007 ab, da sich der Versicherte zur Teilnahme an beruflichen Massnahmen nicht in der Lage fühle bzw. daran nicht interessiert sei. Die vom RAD geforderte Prüfung der praktischen Eingliederungsfähigkeit habe nicht durchgeführt werden können. Aufgrund des gezeigten Verhaltens mit teils aggressiven Durchbrüchen und teils unrealistischen Ansichten und Forderungen an die Gesellschaft sei die praktische Eingliederungsfähigkeit ebenfalls in Frage gestellt bzw. der Versicherte keinem Arbeitgeber zumutbar. In Anbetracht dieser Umstände sei die Verwertbarkeit aus Sicht der Berufsberatung nur in einem geschützten Rahmen gegeben und keinesfalls in der freien Wirtschaft.
Mit Mitteilung vom 22. Mai 2007 setzte die IV-Stelle den Versicherten über den Abschluss der Berufsberatung in Kenntnis und stellte ihm mit Vorbescheid vom selben Tag in Aussicht, das Rentenbegehren bei einem Invaliditätsgrad von 10 % abzuweisen. Der Versicherte erhob dagegen am 13. Juli 2007 Einwand und erklärte sich gegenüber der IV-Stelle bereit, an beruflichen Abklärungen mitzuwirken. Mit Verfügung vom 9. April 2008 erteilte die IV-Stelle Kostengutsprache für eine berufliche Abklärung in der Dreischiibe vom 31. März bis 15. August 2008. Am 26. September 2008 beantragte der Berufsberater die Rentenprüfung. Die Abklärung in der Dreischiibe habe nach wenigen Tagen abgebrochen werden müssen. Die Bereitschaft des Versicherten, sich einzulassen und das Beste zu geben, sei spürbar gewesen. Der Versicherte fühle sich aufgrund Schwindels sowie Rückenbeschwerden im Moment nicht in der Lage, eine berufliche Massnahme durchzustehen.
Im Arztbericht des Psychiatrischen Zentrums St. Gallen vom 28. Mai 2009 wurde festgehalten, die dortige ambulante Behandlung in Form von derzeit lockeren Gesprächen alle zwei Monate finde seit 16. April 2008 statt. Im Vordergrund ständen eine Angst-/Panikstörung sowie die durch die persistierende ADHS bedingten kognitiven Auffälligkeiten wie Konzentrationsstörungen, Gedächtnisauffälligkeiten sowie Aufmerksamkeitsstörung. Ebenso erscheine die mangelnde Kompetenz in Planung und Durchführbarkeit von alltäglichen Aufgaben, welche sich in spezifischen beruflichen Anforderungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auswirken dürften, glaubhaft. Die Behandlung erschwere sich durch die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ sowie den Beikonsum von Cannabis und Heroin. Eine Wiedereingliederungsmassnahme sei bei besserer Compliance und regelmässiger psychiatrischer Behandlung mit einer Arbeitsfähigkeit von 50% möglich.
Der Versicherte wurde durch die Psychiatrischen Dienste Süd, Klinik St. Pirminsberg, Forensischer Dienst, begutachtet (Gutachten Klinik Pfäfers vom 24. März 2010). Der Gutachter hielt fest, betrachte man die Krankheitsentwicklung im Längsverlauf unter Einbezug der fremdanamnestischen Angaben sowie der Querschnittsuntersuchungen im Rahmen der Exploration, so sei unstreitig, dass der Beschwerdeführer seit Kindheit an einer ADHS leide und dass sich, möglicherweise hierdurch begünstigt, sekundär in der Adoleszenz zusätzlich eine Abhängigkeitserkrankung (sog. Polytoxikomanie) ausgebildet habe. Der Drogenabusus könne als Versuch einer missglückten Selbsttherapie angesehen werden. Der Gutachter empfahl eine Suchtbehandlung auf einer Spezialstation für Doppeldiagnosen, eine medikamentöse Einstellung mittels länger wirksamen Stimulanzien (Ritalin, Concerta), eine psychiatrisch/psychotherapeutische Begleitung (inkl. ADHS-Coaching) sowie Verhaltenstherapie (Ergo- und Arbeitstherapie). Die bisherige Tätigkeit als Forstwart sei grundsätzlich möglich, mit Einschränkung des Umgangs mit gefährlichen Maschinen oder Arbeiten mit Gefahr durch Unachtsamkeit (Arbeiten in grosser Höhe). Aus psychiatrischer Sicht bestehe aktuell eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit von bis zu 50%. Durch die vorgeschlagenen Therapien (optimale medikamentöse und sozialintegrativ-psychiatrische Behandlung und Drogenabstinenz) dürfte die Arbeitsfähigkeit über längere Zeit steigerbar sein. Die Therapieoptionen seien noch nicht ausgeschöpft und das vorgeschlagene Behandlungssetting (vollstationär, teilstationär) sei im Sinne der Mitwirkungspflicht zumutbar. Aktuell sei eine direkte Eingliederung in der freien Wirtschaft verfrüht. Bei dieser Einschätzung sei aber nicht klar, inwieweit ein möglicher Konsum von Heroin, Cannabis oder anderen Substanzen das Bild des Beschwerdeführers verschlechtert habe. Mittelfristig sei der Wechsel aus einem arbeitsintegrativ-geschützten Rahmen in eine anfangs tagesklinische und später ambulante Anbindung möglich. Dannzumal sei die Arbeitsfähigkeit in der freien Wirtschaft neu einzuschätzen.
RAD-Arzt Dr. E.___ nahm am 3. Juni 2010 Stellung, auf das Gutachten könne in vollem Umfang zurückgegriffen werden. Auflagen bezüglich Schadenminderungs-/Mitwirkungspflicht seien notwendig zum Ausschluss eines Beigebrauchs bei laufender Methadonsubstitution, um damit die Überleitung in arbeitstrainierende Massnahmen erreichen zu können.
Die IV-Stelle erliess am 7. Juni 2010 Auflagen: Der Versicherte habe sich einer fachärztlichen psychiatrischen Behandlung und einer voll-/tagesstationären Einstellung auf Stimulantien und einer langfristigen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung mit Suchtmittelkontrollen mit aktiver Mitwirkung zu unterziehen. Sie wies dabei auf die gesetzlichen Folgen der Missachtung hin (vorübergehende oder dauernde Kürzung oder Verweigerung der Leistungen, Verfügung aufgrund der Akten oder Nichteintreten).
Die behandelnden Ärzte des Ambulatoriums des Psychiatriezentrums St. Gallen hielten im Arztbericht vom 1. Oktober 2010 fest, der Versicherte sei zwischen 2008 und November 2009 in ein- bis zweimonatigem Abstand (ambulante Gespräche) behandelt worden und habe sich Anfang September 2010 wieder gemeldet. Als Diagnosen, welche Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit hätten, nannten sie eine ADHS mit Konzentrations- und Behandlungsschwierigkeiten und kognitiven Auffälligkeiten, mit Persistenz im Erwachsenenalter (ICD-10: F90.0), episodisch auftretende Panikattacken, zurzeit ca. alle zwei Wochen einmal (ICD-10: F41.0), sowie psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide, schädlicher Gebrauch (ICD-10: F12.1). Zusammenfassend seien vor allem die Schwierigkeiten in Planung und Strukturierung und Organisierung des eigenen Lebens sowie die rezidivierenden Angstbeschwerden für die Arbeitsunfähigkeit massgebend. Eine Verbesserung der Symptomatik sei nur durch eine engmaschige strukturierende Begleitung, z.B. in einer betreuten Wohngemeinschaft, möglich. Ein Arbeitsablauf könne wegen der Unstrukturiertheit und Desorganisation des Versicherten nur schwer gewährleistet werden. Er benötige eine intensive Betreuung und Anleitung in den einzelnen Arbeitsschritten. Wegen der mangelnden Compliance und Absprachefähigkeit, welche jedoch als Teil des Krankheitsbildes zu werten seien, seien keine Tätigkeiten zumutbar. Eine Verbesserung der Symptomatik wäre durch engmaschige Betreuungsstrukturen (Wohn- und Arbeitsbegleitung) zu gewährleisten, welche der Versicherte jedoch ablehne.
RAD-Arzt Dr. E.___ nahm am 2. November 2010 Stellung, bei grosszügiger Betrachtungsweise seien die Auflagen vom 7. Juni 2010 durch die wieder aktivierte Betreuung im Ambulatorium und verbesserte Zusammenarbeit mit der Spitex erfüllt. Die Eingliederung auf dem freien Arbeitsmarkt sei derzeit sicherlich nicht möglich; es bestehe eine Arbeitsfähigkeit angestammt und adaptiert von derzeit 0%.
Gemäss Verlaufsbericht des Psychiatriezentrums St. Gallen, Ambulatorium, vom 15. April 2011 war der Gesundheitszustand stationär. Neu wurden eine generalisierte Angststörung (ICD-10: F41.1) und eine rezidivierende depressive Störung (ICD-10: F33) diagnostiziert. Seit Oktober 2010 erfolgten regelmässig alle drei bis vier Wochen psychiatrisch/psychotherapeutische Gespräche. Der Beschwerdeführer werde nach wie vor zur Unterstützung seiner Alltagsbewältigung durch die psychiatrische Spitex betreut, dies mit dem Schwerpunkt der Alltagsstrukturierung und der Organisation des Haushaltes. Es bestehe weiterhin eine 100%-ige Arbeitsunfähigkeit aufgrund der im Rahmen des Krankheitsbildes bestehenden Schwierigkeiten in der Absprachefähigkeit und der verminderten Frustrationstoleranz. Dr. E.___ schätzte die Arbeitsfähigkeit in abweichender Beurteilung derselben Sachlage (keine neuen fallrelevanten Gesichtspunkte gegenüber dem Gutachten vom 24. März 2010) auf 50%, steigerbar bei Drogenabstinenz und medikamentöser Behandlung der ADHS. Gemäss der behandelnden Ärztin sei von der Behandlung mit Ritalin/Concerta bislang wegen der Suchtdiathese abgesehen worden.
Mai 2011 gestützt auf die Schadenminderungs- und Mitwirkungspflicht die Auflagen, eine medikamentöse ADHS-Therapie durchzuführen und sich einem konsequenten Drogenentzug (Cannabis) zu unterziehen. Der Versicherte teilte der IV-Stelle am 28. Mai 2011 mit, er wolle die fachärztliche Behandlung beim Sozialpsychiatrischen Dienst St. Gallen beginnen. Die IV-Stelle forderte ihn mit Schreiben vom 6. Juni 2011 und vom 5. August 2011 auf, ihr den Termin des Behandlungsbeginns mitzuteilen bzw. die Auflagen zu erfüllen. Am 30. August 2011 erliess sie androhungsgemäss die Verfügung, auf das Leistungsbegehren nicht einzutreten. Nachdem der Versicherte gegen diese Verfügung am 8. September 2011 Beschwerde erhoben und das Ambulatorium des Psychiatrischen Zentrums St. Gallen ihm am 9. September 2011 bescheinigt hatte, er nehme seit 9. September 2010 therapeutische Gesprächstermine wahr und zeige eine gute Kooperationsbereitschaft und Veränderungsmotivation, widerrief die IV-Stelle am 26. September 2011 die Verfügung vom 30. August 2011.
Zusammenfassung
Dieser Fall zeigt, wie komplex die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei ADHS in Kombination mit Suchtproblematiken sein kann. Die verschiedenen medizinischen Gutachten und die Auflagen der IV-Stelle verdeutlichen die Notwendigkeit einer umfassenden Behandlung und Eingliederung, um die Arbeitsfähigkeit langfristig zu steigern.