5-Punkte-Test in der Neuropsychologie: Eine Anleitung

Im Bereich der Neuropsychologie spielen Intelligenztests eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung kognitiver Fähigkeiten. Um die Qualität und Aussagekraft dieser Tests zu gewährleisten, ist es wichtig, bestimmte Gütekriterien zu berücksichtigen. Dieser Artikel bietet eine detaillierte Anleitung zu fünf zentralen Punkten, die bei der neuropsychologischen Testung beachtet werden sollten.

1. Objektivität von Intelligenztests

Intelligenztests müssen objektiv sein. Deshalb erfolgt die Durchführung, Auswertung und Interpretation in möglichst hohem Masse standardisiert. Genaue Testanweisungen, Einführungs- und Übungsaufgaben sowie Auswertungsschlüssel, -tabellen und -schablonen sollen dies sicherstellen.

Das Durchführungs- und Auswertungsmanual des WISC-5 umfasst inklusive Normtabellen 401 Seiten. Dieser Test stellt insbesondere bei der Durchführung sehr hohe Anforderungen an Testleitende. Komplizierte Regeln und Anweisungen müssen exakt befolgt werden. In verschiedenen Subtests mit offenen Antwortformaten ist die Auswertung beziehungsweise Punktevergabe nicht immer eindeutig. Die differenzierten Altersnormentabellen gewährleisten die Interpretationsobjektivität.

Die digitale Durchführungsvariante mit zwei iPads, die während der Testung per Bluetooth miteinander verbunden sind, und das digitale Auswertungsprogramm steigern die Objektivität des Verfahrens.

2. Zuverlässigkeit von Intelligenztests

Intelligenztestes müssen zuverlässig sein. Deshalb werden die Aufgaben an einer ausreichend grossen repräsentativen Stichprobe von Personen im Hinblick auf Messfehler überprüft. Für den WISC-V wurde die Reliabilität auf zwei verschiedene Arten überprüft.

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Die Testhalbierungsreliabilität (Split-Half-Reliabilität), bei der die Aufgaben des Gesamttests beziehungsweise die Subtests in zwei äquivalente Hälften aufgeteilt werden, ergab ausreichende bis gute Zuverlässigkeitskoeffizienten.

Bei der Wiederholung des WISC-V bei 94 Personen im durchschnittlichen Abstand von 26 Tagen (Retestreliabilität) weisen die ermittelten Koeffizienten auf eine gute Zuverlässigkeit hin, allerdings nicht in allen Subtests.

3. Validität von Intelligenztests

Intelligenztests müssen valide sein. Deshalb werden die Aufgaben überprüft, ob sie wesentliche kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten erfassen, ob sie einen Zusammenhang mit Schulleistungen beziehungsweise Arbeitsleistungen haben und ob sie eine Prognose im Hinblick auf die Bewältigung künftiger Leistungsanforderungen beziehungsweise kognitiv verschieden anspruchsvoller Bildungswege oder Arbeitstätigkeiten ermöglichen. Intelligenztests müssen auch untereinander korrelieren.

Abwechslungsreiche Subtests und die Reihenfolge der Darbietung sollen die Motivation unterstützen. Mit Verzerrungen der Testresultate durch Konzentrationsprobleme ist aufgrund der Art der Testaufgaben und der langen Dauer der Testdurchführung zu rechnen.

Da der WISC-V verschiedene bewährte Aufgabenarten umfasst und er relativ hoch mit anderen Intelligenztests korreliert, kann er als valides Verfahren (Inhalts- und Konstruktvalidität) bezeichnet werden. Allerdings lässt sich seine Faktorenstrukur nicht replizieren. Die Validität ist nur für die Messung der allgemeinen Intelligenz (g-Faktor) gegeben.

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Zu Bedenken sind generelle Grenzen der Tests: Nicht alle wesentlichen kognitiven menschlichen Fähigkeiten können durch Intelligenztest erfassbar gemacht werden.

4. Fairness von Intelligenztests

Intelligenztests müssen fair sein. Deshalb werden die Aufgaben überprüft, ob sie für alle Personen in gleichem Masse zugänglich sind und niemanden diskriminieren. In einzelnen Subtests finden sich Aufgaben, die Kinder und Jugendliche aus benachteiligten sozialen Schichten in Nachteil setzen dürften.

5. Normen von Intelligenztests

Intelligenztests müssen Normen ausweisen. Deshalb werden mit Hilfe der Daten einer grossen repräsentativen Personenstichprobe, die den Test gelöst haben, Werte, Normen und Skalen berechnet respektive erstellt. Damit können die Leistungen einer Person mit gleichaltrigen Personen der Eichstichprobe (synonym: Normierungsstichprobe) verglichen werden sowie Prozentränge, Standardabweichungen und IQ-Werte ausgewiesen werden.

1087 Kinder und Jugendliche aus Deutschland und Österreich, eingeteilt in elf Altersgruppen, bilden die Normierungsstichprobe des WISC-V. Das ergibt nur ca. hundert Personen pro Altersgruppe - eine (zu) kleine Eichstichprobe. Bei der Auswahl wurde auf Repräsentativität in Bezug auf Schulform, Bildungshintergrund, soziodemografische Variablen und Migrationsstatus geachtet. Der WISC-V stellt Normentabellen in Intervallen von jeweils vier Monaten für Kinder im Alter von 6;0 bis 16;11 Jahren zur Verfügung. Damit reiht sich dieser Test in vergleichbare Intelligenztests ein. Leider wurde bislang auf eine grosse schweizerische Normierungsstichprobe verzichtet.

Überprüfung von Intelligenztests

Selbst bei etablierten und aufwändig produzierten Intelligenztests finden sich Fehler, die in der Praxis oft übersehen werden. Der WISC-V gibt vor, folgende fünf Faktoren zu messen: Sprachverständnis, visuell-räumliches Denken, fluides Schlussfolgern, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit.

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Diese Faktorenstruktur konnten Canivez et al. (2021) allerdings nicht replizieren. Sie weisen nur vier Gruppenfaktoren aus. Diese basieren auf Subtests, die stärker die Allgemeine Intelligenz messen als die einzelnen Gruppenfaktoren. Auf individueller Ebene lassen sich die fünf im WISC-V verwendeten Faktoren nicht interpretieren. In der Praxis führt dies zu Überinterpretationen und Fehlschlüssen. Nicht nur die deutschsprachige, sondern auch die amerikanische und britische Variante des WISC sind diesbezüglich mit Vorsicht zu verwenden (Canivez & Watkins, 2016; Canivez et al., 2016, 2017; Lecerf & Canivez, 2018, 2021).

Im technischen Handbuch (Petermann, 2017) widerspiegeln die theoretischen Aussagen zum Intelligenz- und Arbeitsgedächtniskonstrukt nicht in allen Teilen den aktuellen Forschungsstand und der Test wird zu euphorisch präsentiert. Eine objektivere, wissenschaftlichere Darstellung wäre wünschenswert (cf. AERA, APA & NCME, 2014).

Invalides Faktorenstrukturmodell des WISC-V mit fünf Faktoren

Abbildung 1: Invalides Faktorenstrukturmodell des WISC-V mit fünf Faktoren (den so genannten fünf primären Indizes): «Sprachverständnis», «Visuell- räumliche Verarbeitung», «Fluides Schlussfolgern», «Arbeitsgedächtnis» und «Verarbeitungsgeschwindigkeit» (Canivez et al., 2021, S. 329)

Vier-Faktorenstruktur des WISC-V

Abbildung 2: Vier-Faktorenstruktur des WISC-V (Canivez et al., 2021, S. 343) mit und ohne WM-FW-Pfad (auch eine hier nicht abgebildete Vier-Faktorenstruktur mit und ohne VS-FW-Pfad wäre in Betracht zu ziehen)

Mit seinen 15 Subtests bietet der WISC-V eine grosse Vielfalt verschiedener Intelligenztestaufgaben. In dieser Hinsicht ist er ein gutes Vorbild. Nebst dem WISC-V werden viele andere Intelligenztest mit zum Teil drastisch reduzierteren Aufgabentypen angeboten, unter anderem Folgende:

  • Adaptives Intelligenzdiagnostikum 3 (AID 3; Kubinger & Holocher-Ertl, 2014)
  • Grundintelligenztest Skala 1 - Revision (CFT 1-R; Weiss & Osterland, 2013)
  • Intelligenz und Entwicklungsskalen für Kinder und Jugendliche (IDS-2; Grob & Hagmann-von Arx, 2018)
  • Kaufman Assessment Battery for Children - II (KABC-II; Melchers & Melchers, 2015)
  • Reynolds Intellectual Assessment Scales (RIAS; Hagmann-von Arx & Grob, 2014)
  • Nonverbaler Intelligenztest (SON-R 6-40; Tellegen et al., 2012)
  • Wechsler Nonverbal Scale of Ability (WNV; Petermann, 2014)

Betrachtet man die einzelnen Aufgaben dieser Tests, so stellt man mehr oder weniger grosse Überlappungen fest, aber auch Eigenheiten. Die Beschreibung der gemessenen Intelligenzkomponenten lässt stark zu wünschen übrig. Die erfassten Faktoren werden nicht einheitlich benannt. Das hat auch damit zu tun, dass diese Intelligenztestverfahren weder kognitionspsychologisch noch neurowissenschaftlich fundiert sind. Primär werden sie faktorenanalytisch und nicht theoretisch begründet. Deshalb sind Labels der Subtests wie Matrizen, soziale und sachliche Folgerichtigkeit, Wort- und Sachwissen, Unpassendes ausschliessen, verbales Gedächtnis, allgemeines Verständnis oder rechnerisches Denken nur mit grosser grosser Vorsicht zu verwenden.

Weiter ist zu beachten, dass verschiedene sehr bedeutsame kognitive Fähigkeiten in keinem Intelligenztest „gemessen“ werden, zum Beispiel Rationalität (Stanovich, 2009, 2011; Stanovich et al., 2018), probabilistisches Denken, Fähigkeiten der Entscheidungsfindung und der Risikoabschätzung (Cokely et al., 2018; Gigerenzer, 2013), adaptive Intelligenz (Sternberg, 2021) oder kreatives Denken.

Wesentliche Facetten der Intelligenz (ebenso z.B. Klugheit und Weisheit) lassen sich nicht standardisieren. Solche Leistungen beziehen sich stets auf bestimmte Situationen und Kontexte, die einem permanenten Wandel unterliegen.

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