Dürfen Psychotherapeuten Krankschreiben? Eine Analyse der aktuellen Situation in der Schweiz

Die Frage, ob Psychotherapeuten Krankschreibungen ausstellen dürfen, ist Teil einer umfassenderen Diskussion über die Rolle und Befugnisse von Psychotherapeuten im Gesundheitswesen. In der Schweiz hat sich das System der psychologischen Psychotherapie in den letzten Jahren stark verändert, was zu neuen Herausforderungen und politischen Forderungen geführt hat.

Die Rolle der Psychiater

Den Psychiaterinnen und Psychiatern kommt eine zentrale Rolle zu im Hinblick auf den Verbleib ihrer Patientinnen und Patienten im Arbeitsmarkt: Sie kennen deren Einschränkungen und Ressourcen normalerweise sehr gut, weil sie diese oft über längere Zeit behandeln, und sie sind eine zentrale Bezugsperson.

Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern mit einer geringeren Psychiaterdichte übernehmen die Spezialisten in der Schweiz nicht nur diagnostische und psychotherapeutische Aufgaben, sondern oft auch solche der Grundversorgung wie Kontakte mit Behörden, Versicherungen und dem sozialen Umfeld der Patienten oder Notfalldienste.

Jährlich begibt sich rund eine halbe Million Personen in psychiatrische Behandlung, sei es bei einem freipraktizierenden Psychiater oder in einer psychiatrischen Einrichtung.

Erfahrungsgemäss ist die Kooperation zwischen den psychiatrischen Spezialisten und anderen Akteuren (Sozial- und Privatversicherer, Arbeitgeber etc.) wegen unterschiedlicher Perspektiven nicht immer optimal. Eine übereinstimmende Sicht der beruflichen Einschränkungen und der nötigen Interventionen sowie eine gute Zusammenarbeit sind jedoch gerade bei psychisch kranken Personen eine Grundvoraussetzung für den Arbeitsplatzerhalt und die Re-Integration.

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Im Länderbericht der OECD (2014) zur psychischen Gesundheit und Beschäftigung in der Schweiz wurde die Rolle der Psychiater denn auch hoch gewichtet und kritisch analysiert.

Behandlungsepidemiologie

Über 80 Prozent der mehr als 600 psychiatrischen Patienten, zu denen sich über die Befragung ihrer Ärzte Daten erheben liessen, sind im erwerbsfähigen Alter und davon sind rund 60 Prozent im ersten Arbeitsmarkt aktiv.

Rund ein Drittel dieser Erwerbstätigen hat aktuell Probleme am Arbeitsplatz und/oder ist krankgeschrieben (rund 20%) und/oder von einer Kündigung bedroht (knapp 10%).

Jeweils rund 10 Prozent der Patienten sind arbeitslos, in einer betreuten Beschäftigung oder beziehen Sozialhilfe, rund 20 Prozent sind invalidisiert.

Rund ein Fünftel der IV-Rentenbeziehenden und Sozialhilfeabhängigen (Säule ganz rechts) verfügt gemäss Psychiater über ein Erwerbspotenzial im ersten Arbeitsmarkt das wegen mangelndem Selbstvertrauen und Resignation nicht aktiviert werden kann.

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Aber auch die Angst vor den finanziellen Konsequenzen bei einem möglichen Wegfall der IV-Rente oder die mangelnde Bereitschaft der Arbeitgeber, sich auf nötige Arbeitsanpassungen für diese Personen einzulassen, spielen eine Rolle.

Mindestens die Hälfte der über die Befragung erfassten psychiatrischen Patienten weist keine oder eine prekäre Arbeitsmarktzugehörigkeit auf.

Der Bedeutung und Häufigkeit der schwierigen Erwerbsbiografie psychiatrischer Patienten wird bisher in der ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung zu wenig Rechnung getragen.

Familiärer und beruflicher Hintergrund von Patienten mit Arbeitsproblemen

Die von der Studie erfassten psychiatrischen Patientinnen und Patienten, die im ersten Arbeitsmarkt tätig sind und mit konkreten Problemen am Arbeitsplatz kämpfen, sind mehrheitlich Frauen, im Durchschnitt 45 Jahre alt, mit abgeschlossener qualifizierter Berufsbildung oder Studium.

Auf den ersten Blick (Hauptdiagnose) werden meist depressive und neurotische Störungen (Anpassungsstörungen, Belastungsreaktionen, Ängste) diagnostiziert. Betrachtet man auch die Nebendiagnosen, so wird deutlich, dass in mehr als 40 Prozent der Fälle eine Persönlichkeitsstörung vorhanden ist, dabei handelt es sich hauptsächlich um ängstlich-vermeidende, emotional instabile, abhängige und narzisstische Persönlichkeitsstörungen.

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Hinsichtlich Diagnose und Alter zeigen diese Patientinnen und Patienten dasselbe Profil wie die IV-Rentner und -rentnerinnen aus sogenannt psychogenen und milieureaktiven Gründen - also diejenige Gruppe psychisch kranker IV-Rentner, die in den letzten Jahrzehnten entscheidend zum Anstieg der Invalidisierungen beigetragen hat (Baer et al. 2009). Die hier berichteten Fälle verweisen somit stark auf spätere IV-Rentenfälle.

Patienten mit Schwierigkeiten am Arbeitsplatz bringen eine Reihe von frühen familiären Belastungen schon ins Berufsleben mit (vgl. Grafik G2): Rund die Hälfte hatte zumindest ein Elternteil mit einer psychischen Krankheit und je rund 40 Prozent wurden schwer vernachlässigt, erfuhren Gewalt und Missbrauch bzw. übermässig rigide, strafende Erziehungsmethoden.

Rund 40 Prozent der Patienten bringen nicht nur eine, sondern mindestens drei dieser Belastungen mit.

Bemerkenswert und praktisch relevant ist, dass zwei Drittel aller Patienten mit Arbeitsproblemen ein typisches Problemmuster in ihrer Arbeitsbiografie aufweisen.

Bei der Hälfte aller Patienten lässt sich gar ein ‚roter Faden‘ von den frühen Belastungen über die Arbeitsbiografie bis hin zur Arbeitsproblematik zum Zeitpunkt der Befragung benennen. Dies zeigt zum einen, dass das Bild des rein arbeitsbedingten Burnouts zu kurz greift. Zum anderen ergibt sich die Chance, aus der Arbeitsbiografie viel für künftige arbeitsbezogene Interventionen zu lernen.

Damit fundierte Eingliederungsmassnahmen geplant werden können, braucht es das Wissen der Spezialisten.

Die von den Befragten frei geschilderten Problemmuster der Patienten wurden inhaltlich kategorisiert (vgl. Tabelle T1).

Die Tabelle zeigt, wie unterschiedlich die psychologischen Hintergründe von Problemen am Arbeitsplatz sein können und wie eng Biografie, subjektives Erleben, Pathologie und Problemeskalation oft miteinander verknüpft sind.

Die zwölf Problemmuster lassen sich bezüglich der Kombination ihres Verhaltens, ihrer Persönlichkeit, Arbeitsbiografie und wirtschaftlichen Situation zu fünf Typen zusammenfassen:

  • Typ 1 ‚überengagiert, rigid, anerkennungsbedürftig‘ (45%): Weist meist einen beruflichen Aufstieg vor und war kaum je arbeitslos oder sozialhilfeabhängig, Arbeitskonflikte und Kündigungen nicht selten.
  • Typ 2 ‚undiszipliniert, externalisierend, konflikthaft‘ (37%): Geht fast immer mit früheren Arbeitskonflikten einher, häufig gefolgt von Kündigungen, einem beruflichen Abstieg und wiederholter Abhängigkeit von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
  • Typ 3 ‚ängstlich-abhängiges Vermeidungsverhalten‘ (45%): Weist meist eine relativ unauffällige Arbeitsbiografie auf, oft mit beruflichem Aufstieg, allerdings auch oft mit längeren Arbeitsunfähigkeiten.
  • Typ 4 ‚Suchtprobleme‘ (21%): Zeigt eine besonders auffällige Arbeitsbiografie. Hat häufig unter Ausbildungsniveau gearbeitet, wiederholte Konflikte und Kündigungen. Gruppe hat höchsten Anteil von Patienten mit längeren Arbeitsunterbrüchen, mit vielen Stellen kurzer Dauer und mit mehrmaliger Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit.
  • Typ 5 ‚häufige und längere Arbeitsunfähigkeiten‘ (11%): Wiederholt Leistungsprobleme und entsprechend beruflicher Abstieg.

Die Schilderung der Problemmuster durch die Psychiater ergibt oft präzise und relevante Informationen über die Zusammenhänge und Hintergründe von Arbeitsproblemen. Dieses Wissen macht die psychische Beeinträchtigung überhaupt erst verständlich und ist unverzichtbar für die Prävention und Frühintervention bei Problemen am Arbeitsplatz sowie für die Reintegration.

Die Identifikation und Beschreibung solcher Muster ist eine Syntheseleistung unter Berücksichtigung von Biografie, Pathologie, Patientenerleben und -verhalten, welche in dieser Prägnanz nicht von anderen Akteuren geleistet werden kann.

Der Einbezug von Psychiatern bzw. Psychotherapeuten bei der Problemanalyse und Interventionsplanung zwecks Arbeitsplatzerhalt und Reintegration wäre deshalb an sich in allen relevanten Problemfällen zwingend. Aktuell kommt es jedoch lediglich in rund 30 Prozent der Fälle zu einem Kontakt zwischen Psychiater und Arbeitgeber, und wenn dann meist erst bei eskalierten Problemsituationen.

Theoretische und praktische Einschätzung der Funktionseinschränkungen

Die gute Kenntnis der Problem- und Leidensgeschichten der Patienten steht womöglich im Zusammenhang mit einem anderen Resultat der Befragung, welches für die Arbeitsrehabilitation von zentraler Bedeutung ist, nämlich der Einschätzung der Funktionseinschränkungen.

Die Befragungsteilnehmer haben für je eines von sechs verschiedenen Störungsbildern anhand von 28 möglichen Funktionsdefiziten ein theoretisches Einschränkungsprofil erstellt. Die resultierenden Profile sind gut nachvollziehbar und differenzieren gut zwischen den einzelnen Störungen.

Da die Psychiater dasselbe Profil auch für ihre eigenen realen Patienten erstellen mussten, können ihre theoretischen mit den Einschätzungen ihrer eigenen Patienten mit demselben Störungsbild verglichen werden (vgl. Grafik G3).

Der Vergleich zeigt, dass die Befragten gewisse Einschränkungen im theoretischen Kontext weniger stark gewichten als bei ihren Patienten.

Bei den eigenen Patienten, die man wie beschrieben sehr gut kennt, werden bei diesem Störungsbild im Vergleich zur theoretischen Einschätzung die jeweiligen Defizite insgesamt doppelt so häufig als hauptsächliches Problem angegeben - bei einigen Einschränkungen, die theoretisch kaum je eine Rolle spielen, ist die Diskrepanz noch viel grösser (z. B. „perfektionistisch“, „mangelnde Energie“ oder „psychomotorisch verlangsamt“).

Umgekehrt werden gewisse Defizite bei den eigenen Patienten schwächer gewichtet als in der Theorie, zum Beispiel bei der „Impulskontrolle“, der „Akzeptanz des Vorgesetzten“ oder der „Empathie“ und „Pünktlichkeit“.

Die Einschätzung der eigenen Patienten zeigt auch kein klares Profil mehr, da der Grossteil aller möglichen Defizite als sehr wichtig betrachtet wird.

Diese Diskrepanz zeigt sich bei allen Störungsbildern und ist insbesondere bei der Beurteilung von Patienten mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung besonders deutlich.

Es wäre aus verschiedenen Gründen wichtig, die Differenz zwischen praktischer und theoretischer Einschätzung fachlich zu klären. Denn hier bildet sich genau der Unterschied in den Beurteilungen von Gutachtern und Behandlern ab, welcher die Zusammenarbeit zwischen den behandelnden Ärzten, den Arbeitgebern, Versicherern und Beh...

Die aktuelle Situation der Psychotherapeuten in der Schweiz

Viele Therapeutinnen und Therapeuten erleben selbst eine psychische Krise bei ihrer Arbeit, wie beispielsweise ein Burn-out.

Mehr Menschen suchen psychologische Hilfe - doch Krankenkassen wollen sparen. Psychologen wehren sich nun mit politischen Forderungen und einer Demonstration gegen das System, das sie ausbrennt.

Schon in ihrer ersten Ausbildungsstelle warnte man S.M., dass die Arbeit belastend werde. Als Assistenzpsychologin machte sie aufsuchende Familientherapie - sie besuchte Kinder in schwierigen Lebenssituationen zu Hause. Ein Job, der Kraft kostet.

Doch nicht die Schicksale der Familien brachten sie an ihre Grenzen, sondern die Bedingungen in der Klinik: 90-Prozent-Pensum, kaum Einarbeitung, 2700 Franken Lohn bei 1000 Franken Ausbildungskosten - pro Monat. Noch in der Probezeit kündigte sie.

S.M. fand eine Stelle bei einer Abklärungsstelle. Ihr Chef hatte einen Namen in der Fachwelt, war auch Ausbildner. Eineinhalb Jahre blieb sie dort. Dann kam das Burn-out und mehrere Wochen stationärer Aufenthalt in einer Psychiatrie.

Doch die Arbeitsverhältnisse zerrten nicht nur an ihren eigenen Nerven: Kurz vor und während ihrer Krankschreibung verliessen zwei Drittel des therapeutischen Personals die Klinik, darunter die Klinikleitung. Zwei Personen liessen sich mehrere Wochen krankschreiben, eine wies sich ebenfalls in eine Klinik ein.

Geschichten wie die von S.M. sind keine Ausnahme. Das bestätigen mehrere Psychologinnen, mit denen CH Media gesprochen hat.

Olenka Dworakowski ist Mit-Organisatorin der Demonstration gegen die Arbeitsverhältnisse in der Psychotherapie.

Gemeinsam mit einem Kollegen hatte sie die Idee, eine Demonstration gegen die Zustände in ihrem Arbeitsbereich zu organisieren. Die Einladung zur ersten Planungssitzung schickten sie in privaten Chats an Bekannte. Sie rechneten mit etwa dreissig Interessierten.

«Das reicht überhaupt nicht», sagt Dworakowski. Bei komplexen Fällen erreicht man diese Stunden bereits in einer Woche. Teilweise würden Arbeitgeber die zusätzlichen Stunden als Arbeitszeit verrechnen lassen, oft führen die Fachpersonen die Gespräche aber in ihrer Freizeit, weil ihnen die Kinder am Herzen liegen.

Für S.M. waren diese Abrechnungsprobleme der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Sie bekam Panikattacken und war reizüberflutet, konnte nur noch über die Arbeit sprechen, hatte fast wahnhafte Zustände und weinte in ihrer Freizeit andauernd.

Als sie ihrem Team ihre Krankschreibung mitteilte, waren die Reaktionen fast zu verständnisvoll. «Die leitende Oberärztin sagte mir, alle hätten ihr persönliches Päckchen zu tragen, deshalb kämen Krankschreibungen oft vor», erzählt S.M. «Aber wenn Mitarbeitende regelmässig krankgeschrieben werden, liegt das Problem nicht bei allen auf individueller Ebene. Dann liegt das Problem im System.»

Gemäss der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie besteht seit 10 Jahren eine Unterversorgung mitpsychologischer und psychiatrischer Hilfe.

Lange Wartezeiten gebe es vor allem im Kinder- und Jugendbereich sowie bei Erwachsenen im ländlichen Bereich, bei schwer kranken Personen und in Notfallsituationen. Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber gemäss einer Umfrage der Demonstrationsorganisation unter 411 psychotherapeutisch tätigen Personen haben 30 Prozent der Befragten eine Wartezeit von 3 bis 6 Monaten. 13 Prozent führen nicht einmal mehr Wartelisten.

Schlechte Arbeitsbedingungen wirken sich auch auf Patientinnen und Patienten aus: «Es lohnt sich, selbstständig zu arbeiten, weil die Arbeitsbedingungen dort oft besser sind. In den Kliniken fehlt deshalb gutes Personal, worunter die Grundversorgung leidet», sagt Dworakowski.

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