Mini-ICF in der Psychiatrie: Beurteilung der Leistungsfähigkeit und Teilhabe

Psychische Störungen können sich häufig ungünstig auf die Leistungsfähigkeit der betroffenen Personen auswirken und in einigen Fällen zu Einschränkungen der beruflichen Teilhabe führen.

Herausforderungen bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit

Im Rahmen der sozialversicherungsrechtlichen psychiatrischen Begutachtung ist es die Aufgabe des Mediziners, die Beurteilung der Leistungsfähigkeit vorzunehmen, welche nur in Kenntnis der konkreten Anforderungen des Arbeitsplatzes möglich erscheint. Da der Zusammenhang zwischen der bestehenden Symptomatik (Psychopathologie und Einschränkungen der psychischen bzw. kognitiven Funktionen) und der Fähigkeit zu arbeiten häufig unklar ist, kann aus der reinen Beschreibung von Symptomen und Beschwerden keine Einschätzung der Arbeitsfähigkeit abgeleitet werden.

Es ist jedoch wichtig, dass die medizinischen Einschätzungen, auf deren Basis über den Leistungsbezug in der Sozialversicherung entschieden wird, möglichst objektiv und zuverlässig sind. In der Realität wird allerdings sowohl von medizinischen wie auch von juristischen Quellen auf eine erhebliche Heterogenität der gutachterlichen Beurteilungen hingewiesen.

Die Vielfalt der Informationen und Informationsquellen und das unterschiedliche methodische Vorgehen stellen eine Herausforderung dar. Genannt werden die unsystematische Vorgehensweise bei der Erhebung der Anamnese und der Befunde, sowie auch unterschiedliche Abklärungstiefen.

Die Rolle der ICF

Die Teilhabestörungen, unter anderem die Störungen der beruflichen Teilhabe, werden in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO beschrieben. Diese Klassifikation unterscheidet dabei die Komponenten des Körpers (Funktionen und Körperstrukturen), die Komponenten der Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe) sowie die Komponenten der Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren).

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Die Teilhabeeinschränkungen werden dabei im Sinne des biopsychosozialen Models als Zusammenspiel von Funktionsstörungen, der Fähigkeitsbeeinträchtigungen und der Kontextfaktoren gesehen. Im psychiatrischen Bereich - mentale Funktionen gemäss ICF - entsprechen die Funktionsstörungen in etwa den psychopathologischen Befunden. Unter den Aktivitäten versteht man beispielsweise die Fähigkeit zu lernen, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, die Fähigkeit, eine tägliche Routine zu entwickeln und diese durchzuführen, sowie die Fähigkeit, mit Stress umzugehen.

Unter der Teilhabe versteht man die Eingliederung des Individuums beziehungsweise die Beteiligung an Lebensbereichen mit der Möglichkeit, selbstbestimmt zu handeln oder Anerkennung zu finden. Dazu gehören beispielsweise die Erwerbstätigkeit, die Partnerschaft und Familie, aber auch Haushaltsführung, ferner Teilnahme an kreativen und rekreativen Freizeitaktivitäten und auch das Führen von Fahrzeugen oder die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln.

Die Aufgabe des (psychiatrischen) Experten im Sozialversicherungsbereich ist folglich die Diagnostik gemäss anerkannten Klassifikationssystemen, ferner die Feststellung der Funktionseinschränkungen und der daraus resultierenden Einschränkungen der Aktivitäten und Teilhabe beziehungsweise auch die Erfassung der nicht krankheitsbedingten Einschränkungen.

Bei der Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit wird vom Auftraggeber die Beurteilung im Kontext des spezifischen beruflichen Anforderungsprofils im bisherigen Aufgabengebiet, ferner auch in einer leidensangepassten Tätigkeit verlangt. Es soll in diesem Zusammenhang ein negatives und ein positives Anforderungsprofil (was kann der Proband und was kann er nicht mehr) erstellt werden.

Das Mini-ICF-APP

Mit Hilfe des ebenfalls auf der ICF basierten Mini-ICF-APP, welches explizit für sozialmedizinische Fragestellungen entwickelt wurde, kann der Rater 13 verschiedene Fähigkeiten (Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen, Fähigkeit zur Planung und Strukturierung von Aufgaben, Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, Kompetenz- und Wissensanwendung, Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit, Proaktivität und Spontanaktivitäten, Widerstands- und Durchhaltefähigkeit, Selbstbehauptungsfähigkeit, Konversation und Kontaktfähigkeit zu Dritten, Gruppenfähigkeit, Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen, Fähigkeit zur Selbstpflege und Selbstversorgung, Mobilität und Verkehrsfähigkeit) anhand einer fünfstufigen Ratingskala und Kontextbezug beispielsweise zur zuletzt ausgeübten Tätigkeit erfassen. Zur Operationalisierung werden Ankerdefinitionen vorgegeben.

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Sofern ein Kontextbezug zu einer angestammten Tätigkeit nicht möglich oder nicht sinnvoll ist, wird die Erfassung im Kontext des allgemeinen Arbeitsmarktes (von Autoren wird dazu ein hypothetischer Arbeitsplatz in einem Hotel vorgeschlagen, da in diesem Bereich verschiedene Tätigkeiten möglich sind) durchgeführt.

Das Mini-ICF-APP orientiert sich an der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Es ist ein ökonomisches Fremdbeurteilungsinstrument (Ratingverfahren) zur Beschreibung und Quantifizierung von Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen im Kontext psychischer Erkrankungen und ermöglicht somit eine Differenzierung zwischen Krankheitssymptomen und krankheitsbedingten Fähigkeitsbeeinträchtigungen.

Mit dem Mini-ICF-APP soll eingeschätzt werden, in welchem Ausmaß ein Patient in der Durchführung von Aktivitäten, d.h. seinen Fähigkeiten beeinträchtigt ist. Es werden die folgenden Fähigkeiten beurteilt:

  1. Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen
  2. Fähigkeit zur Planung und Strukturierung von Aufgaben
  3. Flexibilität und Umstellungsfähigkeit
  4. Kompetenz- und Wissensanwendung
  5. Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit
  6. Proaktivität und Spontanaktivitäten
  7. Widerstands- und Durchhaltefähigkeit
  8. Selbstbehauptungsfähigkeit
  9. Konversation und Kontaktfähigkeit zu Dritten
  10. Gruppenfähigkeit
  11. Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen
  12. Fähigkeit zur Selbstpflege und Selbstversorgung
  13. Mobilität und Verkehrsfähigkeit

Das Verfahren eignet sich zur Beurteilung des aktuellen Fähigkeitsstatus von Patienten sowie zur Veränderungsmessung, beispielsweise im Rahmen einer Therapieverlaufskontrolle. Es kann zur Erfassung des Bedarfs an therapeutischer und sozialer Hilfe sowie zur Planung von Maßnahmen zur Prävention, Gesundheitsförderung und Unterstützung bei der Partizipation am gesellschaftlichen und beruflichen Leben eingesetzt werden.

Das Mini-ICF-APP hat seit der Erstauflage große Akzeptanz gefunden und wird inzwischen auch in nationalen und internationalen Gutachtenleitlinien als ein Standardinstrument empfohlen.

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Die Neuauflage wurde aufgrund umfangreicher Erfahrungen aus der Praxis und aus Trainingsseminaren überarbeitet. Sie enthält nun Beispielfragen und Operationalisierungen über konkrete Aktivitätsbeispiele.

Es sind Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der Fähigkeitsstörungen und psychopathologischen Maßen (Anzahl der F-Diagnosen, SCL-90-R) sowie Arbeitsfähigkeitsstatus und Dauer von Arbeitsunfähigkeit ermittelt worden.

Erhebung der Aktivitäten und Teilhabe im Rahmen der Begutachtung und Konsistenzprüfung

Die Erfassung der vorhandenen Fähigkeiten und deren Einschränkungen im Kontext der beruflichen und ausserberuflichen Anforderungen kann im Rahmen einer gutachterlichen Expertise auch unsystematisch-narrativ erfolgen, wobei die Berücksichtigung des ICF-Konzeptes als zentrales Paradigma gemäss aktuellen Begutachtungsleitlinien erwartet wird.

Eine unsystematische Erhebung und Darstellung erschwert allerdings die Vergleichbarkeit und verringert möglicherweise auch die Zuverlässigkeit der Beurteilung. In Anlehnung an die SGPP-Leitlinien sollen Informationen zum Tagesablauf der Probanden, ihrer Freizeitgestaltung, Hobbys, benötigte Hilfen in Haushalt und Alltag, Benutzung von Verkehrsmitteln, Art der Anreise zum Begutachtungstermin, Ferienreisen etc. eingeholt werden.

Bei der Erhebung der oben erwähnten Information muss berücksichtigt werden, dass es sich dabei in der Regel um die Leistung (Performance) handelt. Im Sozialversicherungskontext ist allerdings nicht die aktuelle Leistung, sondern die sogenannte Leistungsfähigkeit bedeutend.

Die im Rahmen der Erhebung gewonnenen Informationen über die Leistung des Probanden in verschiedenen sozialen Kontexten können von der theoretischen Leistungsfähigkeit divergieren.

In der Praxis werden, bedingt durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Sozialversicherung, in den meisten Fällen Probanden begutachtet, welche seit Monaten oder sogar Jahren de facto nicht erwerbstätig oder nur noch teilerwerbstätig sind. Eine direkte Erhebung der aktuellen Defizite im beruflichen Kontext durch kollaterale Informationsquellen (z.B. Informationen des Arbeitgebers) oder auch eine Eigenanamnese beziehungsweise Beobachtungen vor Ort sind somit mehrheitlich nicht möglich.

Dabei geht es unter anderem darum, die Konsistenz der vorhandenen Informationen zu überprüfen. So verlangt die Rechtsprechung, dass die «Gleichmässigkeit der Einschränkungen in allen vergleichbaren Lebensbereichen» geprüft werden soll. Konkret wird ausgeführt, dass die Einschränkungen im beruflichen Bereich mit den sonstigen Lebensbereichen abgeglichen werden soll. Zudem wird ein Abgleich mit dem Niveau der sozialen Aktivitäten vor Eintritt der psychischen Störung (des Gesundheitsschadens) empfohlen, was auch den Einbezug der zeitlichen Dimension voraussetzt.

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