Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist ein komplexes Thema, das in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus von Forschung und öffentlicher Diskussion gerückt ist. Mittlerweile gehört ADHS gemäss den Diagnose-Manualen primär zu den neuronalen Entwicklungsstörungen. Als solche betrifft sie die Entwicklung des Gehirns, zum Beispiel der Nervenbahnen des Gehirns.
Was ist ADHS?
Bereits die Komplexität des Begriffswandels zeigt, dass die Frage «Was ist eigentlich ADHS?» gar nicht so einfach zu beantworten ist. ADHS ist eine neurobiologische Störung, die sich durch Probleme mit Aufmerksamkeit, Selbstorganisation, Impuls- und Emotionsregulation auszeichnet. Unerkannt oder nicht behandelt führt die ADHS zu Selbstwertproblemen, Ängsten und Depressionen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen und Abhängigkeitserkrankungen. Die Kernsymptome sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität, wobei es auch eine «verträumte» Variante ohne äusserliche Hyperaktivität gibt.
Ursachen und Entstehung von ADHS
Die Ursachen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sind nicht vollständig bekannt und die Entstehung wird von vielen Faktoren beeinflusst. Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei ADHS um eine genetisch mitbedingte neuronale Entwicklungsstörung handelt. Heute weiss man, dass ADHS gehäuft in Familien auftritt. Es hat sich gezeigt, dass diese Erblichkeit vor allem auf genetischen Faktoren basiert. Es wird vermutet, dass nicht nur ein Gen dafür verantwortlich ist, sondern dass es sich um ein Zusammenspiel mehrerer Gene handelt.
Umweltrisiken können nicht eindeutig ausgemacht werden, da so viele Faktoren an der Entstehung beteiligt sind. Insgesamt sind kausale Einflüsse von Umweltrisiken auf ADHS vorsichtig zu betrachten und schwierig zu bestätigen. Es wird davon ausgegangen, dass im Rahmen der Entstehung einer ADHS Gene und die Umwelt der betroffenen Person miteinander interagieren. So kann sich die Umwelt auf die Übersetzung gewisser Gene auswirken, während gewisse genetische Faktoren das Risiko bestimmter Umwelteinflüsse erhöhen.
Besonderheiten des Gehirns bei ADHS
Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Kindern, die an ADHS erkrankt sind, bestimmte Gehirnareale ein kleineres Volumen haben und in vorderen Abschnitten die Hirnrinde schmaler als bei gleichaltrigen gesunden Kindern ist. Der Hirnreifungsverlauf scheint verändert zu sein. Ausserdem wurde entdeckt, dass gewisse Hirnregionen übermässig aktiv sind und veränderte Aktivierungsmuster zeigen. Weiter ist auch hier unklar, ob es sich dabei um eine Ursache oder Folge einer ADHS handelt.
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Ein anderes klassisches Erklärmodell zu ADHS fokussiert sich weniger auf Gehirnstrukturen an sich, sondern auf Neurochemie, etwa die Rolle des Botenstoffs Dopamin im Hirn. Dabei haben Menschen mit ADHS zwar theoretisch gesehen gleich viel Dopamin im Hirn wie neurotypische Menschen, das Dopamin wird aber schneller «abtransportiert», was bedeutet, dass das Dopamin dort weniger verfügbar ist, wo es gebraucht wird. Sprich: Wie das Gehirn von Menschen mit ADHS mit Dopamin umgeht, ist in gewisser Weise «ineffizient».
Mittlerweile gehört ADHS gemäss den Diagnose-Manualen primär zu den neuronalen Entwicklungsstörungen. Eine relativ neue Studie gibt zum Beispiel Hinweise, dass bei manchen neurodivergenten Menschen Synapsen nicht auf dieselbe Weise eliminiert werden, wie bei neurotypischen Menschen. Eine mögliche Deutung davon: Das Hirn von Menschen mit Neurodivergenzen filtert Reize weniger stark und erlaubt so grössere Räume für Assoziationen und somit kreatives Denken, ist dafür weniger klassisch «effizient».
Diagnose von ADHS
Noch immer erfolgt die Diagnosestellung primär klinisch, d.h. aufgrund der Anamnese und des psychopathologischen Befundes. Die Exploration sollte neben der aktuellen Symptomatik auch die Familienanamnese, die frühkindliche und die intellektuelle Entwicklung, somatische und psychiatrische Erkrankungen und die aktuelle Lebenssituation erfassen. Die Exploration kann durch strukturierte Interviews wie das DIVA 2.0 (Diagnostisches Interview für ADHS bei Erwachsenen), das CAADID (Conners’ Adult ADHD Diagnostic Interview for DSM-IV) oder auch das WRI (Wender-Reimherr-Interview) erfolgen.
Erleichtert wird die Diagnostik zudem durch Fragebogen. Analog zum CAADID existiert die CAARS (Conners Skalen zu Aufmerksamkeit und Verhalten für Erwachsene). Die WURS-k (Wender Utah Rating Scale - deutsche Kurzform) fragt nach Symptomen in der Kindheit und die ADHS-SB (ADHS-Selbstbeurteilungsskala) nach Symptomen in der Gegenwart; beide sind Teile des erwähnten HASE (Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene).
Es gibt keine neuropsychologischen Tests, die eine ADHS beweisen oder ausschliessen könnten. Finden sich Defizite, so handelt es sich typischerweise um eine erhöhte Fehler- und Auslassungsquote und eine erhöhte Reaktionszeitvariabilität bei Konzentrationsverlaufstests.
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Differentialdiagnose
Verschiedene psychiatrische Störungen, neurologische und auch internistische Krankheiten können zu Konzentrationsproblemen, Nervosität und Impulsivität führen und damit wie eine ADHS aussehen. Im Erwachsenenalter tritt eine ADHS jedoch selten isoliert auf, sodass neben neurologischen und internistischen Erkrankungen auch Komorbiditäten evaluiert werden müssen. Dabei stellen diese häufig Folgeerkrankungen einer in der Kindheit/Jugend nicht diagnostizierten und damit nicht behandelten ADHS dar.
Behandlung von ADHS
Die Therapie sollte nicht einfach als ein Wegbehandeln der Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität verstanden werden. Wie bei allen psychischen Störungen sollte die Behandlung multimodal erfolgen, d.h. aus Psychoedukation, Coaching (Selbstbeobachtung, Selbstmanagement Selbstinstruktion), Medikation und allenfalls auch Psychotherapie und psychosozialen Massnahmen bestehen. Auch von Seiten der Versicherer wird als Bedingung zur Kostenerstattung gefordert, dass eine integrierte psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erfolgt.
Medikation
Bei einer starken Beeinträchtigung in einem Lebensbereich, einer mässigen Beeinträchtigung in mindestens zwei Bereichen und Komorbiditäten wie Depressionen, Angststörungen und auch Abhängigkeitserkrankungen ist die Behandlung mit einem Psychostimulans als erste Wahl anzusehen. Neben der Milderung der Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität stellt die Stimmungsstabilisierung ein wichtiges Therapieziel dar. Zudem ist die Stimulantien-Behandlung einer ADHS im Erwachsenenalter mit einer signifikanten Reduktion von Verkehrsunfällen assoziiert.
Neben dem Methylphenidat stehen Lisdexamfetamin und Atoxometin zur Verfügung, wobei letzteres kein Psychostimulans im engeren Sinne, sondern ein hochselektiver und potenter Hemmstoff des präsynaptischen Noradrenalin-Transporters ist. Alle drei zeigen gute Effektstärken und gehören damit neben Lithium (Behandlung der bipolaren affektiven Störung) zu den besten Medikamenten, die man in der Psychiatrie kennt.
Im Gegensatz zur Behandlung von Kindern kann bei Erwachsenen nicht vom Körpergewicht auf die notwendige Dosierung geschlossen werden, wenn die Dosierungen auch meist zwischen 0.5 und 1.2 mg/kg Körpergewicht liegen. Für Erwachsene sind nur retardierte Präparate zugelassen. Obwohl die Wirkung nicht verzögert einsetzt wie bei Antidepressiva, bewährt sich ein langsames Herantasten durch Steigerung der Dosis alle paar Tage. Dies einerseits, um ein gutes Gefühl der Wirkung unabhängig von der Tagesform zu erhalten und andererseits, um mögliche Nebenwirkungen gut monitorisieren zu können. Wie oben ausgeführt, ist die Komorbiditätsrate sehr hoch, so dass eine Kombinationstherapie häufig notwendig wird.
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Neurofeedback
Das Neurofeedback (EEG-Biofeedback) hat eine lange Tradition in der Behandlung der ADHS. Es handelt sich um ein computergestütztes Mentaltraining zur Verbesserung der Selbstregulation, mit dem Ziel, einen konzentrierten und gleichzeitig entspannten Zustand zu erreichen und diesen dann auch im Alltag abrufen zu können.
Die Rolle von Ritalin
Bei einer ADHS-Diagnose ist das Medikament Ritalin häufig die Therapie der Wahl. Der Wirkstoff Methylphenidat gehört zu den Psychostimulanzien, die normalerweise anregend wirken. Bei ADHS passiert aber genau das Gegenteil: Betroffene werden ruhiger, sind fokussierter. Methylphenidat erhöht die Aktivität der Nervenzellen in den Basalganglien in etwa auf das Niveau von Personen ohne ADHS. Ein anderes Bild zeigt sich, wenn Menschen ohne ADHS Ritalin einnehmen. Bei ihnen hören die Nervenzellen in den Basalganglien auf, aktiv zu sein, vergleichbar wie bei unbehandelten ADHS-Patient:innen. In diesen Fällen stimuliert das Medikament die Neuronen im Gehirn, die Personen werden unruhiger, hyperaktiver. Bei ADHS wirkt Methylphenidat somit anders.
Die neuste Forschung zeigt, dass die Medikation keinen negativen Einfluss auf das Wachstum oder andere Entwicklungsaspekte der betroffenen Kinder hat. Die Studie fand keine signifikanten Unterschiede in der Entwicklung zwischen behandelten und unbehandelten Kindern.
Wichtig: Obwohl die Resultate der vorliegenden Studien vielversprechend klingen, raten wir dringend, das Medikament nur ärztlich begleitet einzunehmen. Methylphenidat ist ein Arzneistoff und birgt bei unsachgemässer Anwendung hohe Risiken. Lassen Sie sich unbedingt von Fachärzten beraten und begleiten. Falls Sie mit der Wirkung nicht zufrieden sind wenden Sie sich an eine Fachperson - es gibt auch noch andere Therapiemöglichkeiten.
ADHS im Alter
Lange galt ADHS als Störung, die vor allem Kinder betrifft. Heute weiss man: Auch rund drei Prozent der Erwachsenen leiden daran. Kaum erforscht ist hingegen ADHS bei Seniorinnen und Senioren. Viele Kompensationsmechanismen kommen im Alter aber ins Wanken. Die Tagesstruktur fällt mit der Pensionierung weg. Der Körper macht die viele Bewegung nicht mehr mit. Es fehlt die Energie, um all die Aufgaben zu erledigen, die sich ansammeln, weil man sie aufgeschoben hat.
Für ADHS Betroffene kann der Wegfall von Strukturen im Alter dramatisch sein. Eine mögliche Folge: Die Betroffenen verzweifeln an sich selbst und fallen in eine Depression. Die dann als Depression behandelt wird und nicht als Folgeerkrankung des ADHS. Das heisst, die Ursache der Depression bleibt ungelöst - was eine nachhaltige Behandlung erschwert. Gerade bei älteren Patienten besteht zudem die Gefahr, dass ADHS fälschlicherweise als Demenz interpretiert wird. Und ebenfalls falsch behandelt.
Behandelt wird ADHS mit Medikamenten, Psychotherapie und Verhaltenstraining für den Alltag. Das ist jedoch nicht unproblematisch. Denn ADHS-Medikamente, die für über 65-Jährige zugelassen sind, gibt es nicht - weil die Medikamente an 18- bis 65-Jährigen getestet wurden. Es kann deshalb sein, dass die Krankenkasse die Kosten nicht übernimmt.
Herausforderungen und Perspektiven
Wir stehen hier also nicht nur vor einem wissenschaftlichen, sondern vor einem erkenntnistheoretischen Problem: Wollen wir vom Gehirn auf ADHS schliessen - oder vom Phänomen ADHS auf das Gehirn? Gibt es das vermutete «ADHS-Gehirn», müssten die Symptome in den Diagnose-Manualen darauf zurückzuführen sein. Wenn das nicht möglich ist, was messen die Manuale dann? Nimmt man hingegen die Diagnose-Manuale - als pragmatisches Instrument, das sich im klinischen Alltag bewährt hat - als primäres Erklärmodell, dann wird es problematisch, ADHS als rein neurologisches Phänomen zu behandeln.
Es wird immer klarer, dass sich die «Tatsache ADHS» nicht rein medizinisch in Isolation betrachten lässt, sondern andere Dimensionen bei ihrer Erforschung bewusst mitgedacht werden müssen - schlicht schon deswegen, weil das schon immer schon so geschehen ist, manchmal aber eben nur unbewusst. Das bedeutet auch, sich zu fragen, wann, weshalb und für wen bestimmte menschliche Verhaltensweisen als krank, auffällig oder störend empfunden werden. Und ebenso, wie wir letztlich gesellschaftlich - und nicht nur isoliert wissenschaftlich - damit umgehen wollen.
«Studien, die uns nicht die gewünschten Antworten liefern, offerieren uns trotzdem Wissensbausteine, die in verschiedenen Kontexten Verständnis schaffen können. Sie erweitern dennoch unser Wissen und das Verständnis davon, was ADHS ist», sagt Elena Haegi.
In den bisherigen Erklärmodellen vermengen sich diverse Dinge: moralische Bewertungen der Betroffenen, Neurowissenschaft, aber sogar Aktivismus - und somit soziale und politische Ebenen. Und welche Teile einer Diagnose sich rein durch die Entwicklung des Gehirns und dessen Stoffwechsel und Genetik erklären lassen und bei welchen Teilen Umweltfaktoren oder soziale Gegebenheiten mit in die Beurteilung fliessen, wird in der ADHS-Forschung höchst kontrovers diskutiert.
Tabelle: Medikamente zur Behandlung von ADHS
| Medikament | Wirkstoff | Wirkungsweise | 
|---|---|---|
| Ritalin | Methylphenidat | Psychostimulans, erhöht die Aktivität der Nervenzellen in den Basalganglien | 
| Lisdexamfetamin | Lisdexamfetamin | Psychostimulans | 
| Atoxometin | Atoxometin | Hemmstoff des präsynaptischen Noradrenalin-Transporters |