Vor knapp sechzig Jahren schrieben Gilles Deleuze und Félix Guattari "Anti-Ödipus". Damit landeten sie einen Bestseller des postmodernen Denkens. Am 18. Januar wäre Deleuze hundert Jahre alt geworden.
Das Leben und Werk von Gilles Deleuze
Gilles Deleuze wurde am 18. Januar 1925 in Paris geboren und starb dort am 4. November 1995. Er verbrachte fast sein gesamtes Leben in Paris. Er studierte Philosophie an der Sorbonne und unterrichtete dann an einem Gymnasium in Amiens. Nach seiner Habilitation folgte Deleuze einem Ruf an die Universität Lyon, wo er von 1964 bis 1969 Philosophie lehrte. Mit Porträts europäischer Denker von David Hume über Nietzsche bis zu Henri Bergson und Spinoza machte er sich in akademischen Kreisen einen Namen.
Der Wechsel an die Reformuniversität Vincennes bedeutete für ihn eine Zäsur. An der im Nachgang zu den 1968er Unruhen eingerichteten Institution, die zu einer Hochburg linker Intellektueller wurde, traf Deleuze den umtriebigen Psychoanalytiker Félix Guattari. Deleuze, von Natur aus neugierig und bereit, aus der Tradition philosophischer Reflexion auszubrechen, interessierte sich für Guattaris Tätigkeit in einer psychiatrischen Klinik südlich von Paris.
Zwischen den beiden Männern entwickelte sich eine enge Freundschaft: auf der einen Seite der analytisch-ordnende Geist, auf der anderen der kreativ-sprudelnde Aktivist. Deleuze & Guattari waren eine Art Simon & Garfunkel der Philosophie: Mit dem «Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1» landeten die beiden, die sich ein Leben lang siezten, 1972 einen Hit, der den Nerv der Zeit traf. Der zweite, acht Jahre später veröffentlichte Teil, «Tausend Plateaus», wurde kein Verkaufsschlager mehr. Die Zeiten hatten sich geändert.
Kritik an der Psychoanalyse im "Anti-Ödipus"
Schon die ersten Sätze des «Anti-Ödipus» machen deutlich, dass es sich nicht um ein klassisches philosophisches oder psychologisches Buch handelt: «Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, isst. Es scheisst, es fickt.» Das Es meint das «elternlose Unbewusste», das unablässig Wünsche produziert. Um diese - vielmehr um deren Befreiung - geht es Deleuze und Guattari.
Lesen Sie auch: Schizophrenie und Spiritualität
Denn die Psychoanalyse hat mit ihrer Theorie des Ödipuskomplexes, so die Hauptthese, den Produktionsprozess ins Stocken gebracht. «Ödipus setzt eine ungeheure Repression der Wunschmaschinen voraus.» Die Polemik richtet sich gegen Sigmund Freud, der die Wunsch- und Triebproduktion nach Ansicht der Autoren auf das ödipale Dreieck von Mutter - Vater - Kind reduziert: Im bürgerlichen Mief der Kleinfamilie droht das Individuum zu ersticken. Anstatt zu neuen Ufern aufzubrechen, kreist es ein Leben lang um seine Kindheit. So entwickeln sich Neurosen, zu deren Heilung es der psychoanalytischen Behandlung bedarf. Sollte Karl Kraus recht bekommen mit seinem Diktum, dass die Psychoanalyse jene Geisteskrankheit ist, für deren Therapie sie sich hält?
Der in «Anti-Ödipus» beschriebene Maschinenraum befindet sich nicht an der Oberfläche, wo die von Freud beschriebenen Neurosen entstehen, sondern auf der tieferliegenden Ebene der Psychosen. Um die wahren Probleme zu erkennen, müsse man in den Abgrund schauen und Schizoanalyse, nicht Psychoanalyse, betreiben. Im Wahnsinn erkennen Deleuze und Guattari sogar eine revolutionäre Kraft im Kampf gegen den Kapitalismus - ganz im Sinne ihres politischen Bekenntnisses, wonach ihr Buch eine «Folgeerscheinung des Mai 68» sei.
Unter dem Joch von Papa und Mama versklavt die Psychoanalyse die europäische Menschheit, so Deleuze und Guattari. Sie wollen zeigen, dass und wie die «Psychoanalyse die europäische Menschheit unter dem Joch von Papa-Mama» versklavt. Auch wenn der «Anti-Ödipus» ein langanhaltendes Echo auslöst, bleibt ein bitterer Beigeschmack. Die Zertrümmerung eines Dogmas geht einher mit der Errichtung eines neuen: Gilles Deleuze und Félix Guattari romantisieren die Psychotiker und verklären die Schizoanalyse.
Raumkonzepte: Glatt und Gekerbt
Wie können wir den Raum, in dem wir leben, als ein Medium begreifen, dessen Form die Art unseres Zusammenlebens prägt? Die physische Form unserer Umwelt limitiert die Art, wie wir in ihr leben: Umso definierter ein Raum, desto leichter vorhersehbar sind die Aktionen, die in ihm stattfinden können.
In „Das Glatte und das Gekerbte“ skizzieren Deleuze und Guattari zwei grundlegend verschiedene Typen von Raum: Der „Gekerbte“ beschreibt für sie jenen Raum des Staates und der Sesshaftigkeit, während der „Glatte“ dem Nomadischen gleichgesetzt wird. Glatter Raum ist offen, irregulär. Gekerbter Raum gerastert und geordnet. Beide Typen von Raum werden mit bestimmten Herrschaftsformen in Verbindung gebracht, mit grundlegend verschiedenen Machtverhältnissen und Lebensstilen, die sich in gegensätzlichen Auffassungen von Territorium und Raum niederschlagen. Raum lässt sich für die beiden Autoren also nur in Relation zu Macht denken.
Lesen Sie auch: Die Verbindung: Schizophrenie & Kunst
Deleuze und Guattari nutzen einige Modelle, anhand derer sie die Unterteilung in „gekerbt” und „glatt” verbildlichen. Der glatte Raum entspreche zum Beispiel eher Filz oder Patchwork statt Gewebe, er ist „unendlich, offen und in alle Richtungen unbegrenzt” und „breitet eine kontinuierliche Variation aus”.
Interessanterweise warnen Deleuze und Guattari jedoch selbst vor einer Vereinfachung ihres Denkmodells als Romantisierung des undefinierten, unendlich offenen Raumes: „Man sollte niemals glauben, dass ein glatter Raum genügt, um uns zu retten.“ In ihrer theoretischen, absoluten Form gleichen sich der glatte und der gekerbte Raum in ihrer Über- beziehungsweise Unterdeterminiertheit: Sie sind beide dystopisch. In der Realität jedoch sind beide Arten des Raumes immer „unrein“ und mit einander vermischt, man kann nur Intensitäten von „Glattheit“ und „Gekerbtheit“ bestimmen. Laut den Autoren sind beide Arten von Raum immer eng miteinander verwoben und „treiben einander voran”.
Abschließend lässt sich sagen, dass Deleuzes und Guattaris Werk auch heute noch relevant ist, um über Freiheit und gesellschaftliche Normen nachzudenken.
Lesen Sie auch: Normales Leben trotz Schizophrenie
tags: #Kapitalismus #und #Schizophrenie #Zusammenfassung