Schizophrenie und Religion: Ein Zusammenhang

Religion ist für viele Menschen ein psychischer Stabilisator. In einer Welt voller Unwägbarkeiten schafft Religion Ordnung und definiert, was gut und böse ist. Vielen religiösen Menschen gibt der Glaube ein Gefühl der Sicherheit.

Allerdings kann der Glaube andere in Abhängigkeit und Krise treiben. Zu einer Zeit, wo Menschen noch unter Engeln und Mächten gelebt haben, war ihre ganze Welt das Ergebnis von Taten oder Unterlassungen: Dämonen machten sie fürchten, Engel retteten sie, dunkle Mächte führten sie in Versuchung.

Diese Menschen hatten Angst, waren verliebt, konnten geniessen und leiden, verzweifeln und sich freuen. Übel, das ihnen widerfahren ist, konnte viele Ursachen haben und es wurde nicht durch etwas, sondern durch jemanden bewirkt. Wenn es dir schlecht geht oder dir Übel widerfährt, ist das ein Zeichen für eine gestörte Beziehung mit Gott. Sünden waren nicht nur schlechte Handlungen, sondern ein Beziehungsangebot an eine finstere Welt, der durch solche Handlungen oder Unterlassungen Tür und Tor in das eigene Leben geöffnet wurde. Krankheit konnte eine Folge von Sünde sein oder eine Prüfung, an der man wachsen kann.

Wie anders ist unsere Welt! «Böse» ist kein Wort, das etwas in unserer Welt beschreibt, sondern ein Wort, das wir benutzen, um Menschen und v.a. ihre Handlungen zu deklassieren. Ein Teil «des Bösen» wurde durch naturwissenschaftliche Erklärungen beseitigt und wird mittels technologischer Anstrengungen bearbeitet: Missernten, Tsunamis, Blitzeinschläge, Blutvergiftungen, Viren oder Hangrutsche. Dadurch hat sich auch unser Erklärungsbedarf selbst verändert. Wir fragen nicht mehr: «Weshalb ereignet sich diese Pandemie? Was sollten wir daraus lernen? Wie könnten wir besser leben, damit uns Gott davor verschont?»

Wir fragen uns: «Weshalb muss das gerade mir und gerade jetzt passieren? Wir entwickeln Impfstoffe, waschen uns die Hände, richten Tsunami-Frühwarnsysteme ein (wo man es sich leisten kann) oder verlegen unser Frustshopping ins Internet. Wir neigen viel weniger dazu, die Welt zu interpretieren und nach einem Sinn hinter den Ereignissen zu fragen, sondern erklären und gestalten die Welt. Das betrifft unseren Konsum, die Art wie wir lieben und Kinder bekommen, alt werden und lernen genauso, wie unseren Umgang mit Katastrophen und Krankheiten.

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Ein ganz beliebtes Auswanderungsland ist die Krankheit. Indem wir Mitmenschen pathologisieren, die seltsame Dinge tun, entmoralisieren wir ihre Handlungen. Die Alkoholikerin wir nicht «vom Teufel Alkohol» heimgesucht, sondern leidet an einer Krankheit. Ein Präsident, der notorisch lügt und Kinder von ihren Eltern trennt, ist nicht böse, sondern krankhaft narzisstisch. Der Kopilot, der sich im Cockpit eingeschlossen hat, um den Absturz der Airbus A320 in den französischen Westalpen herbeizuführen, ist kein Monster, sondern litt an einer psychotisch-depressiven Episode. Kranke kann man therapieren.

So weit, so gut. Die Pathologisierung birgt allerdings zwei Gefahren: Die Erklärung kann leicht umgedreht werden. Dann sind kranke Menschen gefährlich. Und jemand ist verantwortlich dafür, dass sich ihre Gefährlichkeit nicht realisiert. Wir kennen diese Gefahr, von bewilligten Hafturlauben, die schief gehen, von Straftäter*innen mit vielversprechender Diagnose, die «rückfällig» werden und den ganzen emotionalen Debatten, die sich um diese Fälle herum spinnen. Wer durch eine Krankheit getrieben Leid verursacht, ist zwar nicht böse aber auch nicht mehr frei. Und nicht selten fällt die Krankheitsdiagnose dort, wo ein Urteil stehen könnte: Wenn die Kinder verwahrlosen, der Präsident im Amt ist und das Flugzeug abgestürzt ist.

Unwahrscheinlich, dass es aus der Perspektive der Betroffenen, der Kranken, einfacher ist, krank zu sein, als böse. Einer der schrecklichsten Verbrecher der letzten Jahre, der norwegische Massenmörder Breivik, wollte partout nicht an paranoider Schizophrenie leiden, sondern als voll zurechnungsfähig gelten. Fälle wie diese zeigen: Unsere Gesellschaft kennt Kranke, die nicht mehr gesund werden können und dabei für immer eine Gefahr für andere Menschen bleiben. Sie werden ins Offside gestellt. Lebenslängliche Verwahrung.

Diese Menschen sprengen den Rahmen dessen, was wir mit Krankheit erfassen können. Darum therapieren wir sie nicht. Darum haben sie auch keinen Platz in der Gesellschaft und keine Aussicht ihn je irgendwie zurück zu bekommen. Die Lebenslängliche Verwahrung ist der Restbestand des Bösen, der sich in Krankheit nicht auflösen will. Viel grössere Restbestände gibt es bei manchen religiösen Menschen.

Vereinfacht gesagt, verstehen sie die Welt als eine Schöpfung Gottes, der sich ihnen liebevoll zuwendet. Aber wie kann es dann Krankheit, Katastrophen, Tod und Schmerz geben? Aber warum überwindet dann Gott seinen Gegner nicht? Warum lässt er zu, dass Menschen leiden? Man könnte sich ein perfides Bild denken: Wissenschaft vs Gott. Die Wissenschaft läge weit vorne mit Impfstoffen, Antibiotika, Frühwarnsystemen, Wetterkarten, Ambulanzen etc. Man kann natürlich behaupten, dass Gott durch diese Technologien hindurch wirke. Aber wirklich befriedigend ist das nicht.

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Die Welt wäre dann ein makaberes Escape-Room-Game. Gott hat ein Rätsel gestellt und Menschen so programmiert, dass sie es lösen können. Kann ja sein. Man kann nun zweierlei tun. Denken oder im Glauben denken. Wer denkt wird sagen: Die Welt und all das, was passiert, kann ich nicht mit einem guten Gott vereinbaren. Also: Da ist kein guter Gott. Wer im Glauben denkt kann sagen: Ja, all das gibt es. Aber in mir ist auch die Hoffnung, dass mich nichts davon endgültig von Gott trennen wird. Und das gilt auch für den lebenslang Verwahrten. Denn böse, ist nicht was wir tun oder was uns geschieht. Sondern nur, was mich von dieser Hoffnung trennen könnte. Ich glaube nicht an das Böse.

Trance und Besessenheit gehören in vielen aussereuropäischen Gesellschaften zum Alltag - ein Phänomen, das in den zunehmend ethnisch und religiös gemischten europäischen Städten immer wichtiger wird.

Samuel Pfeifer, Sie haben vor 30 Jahren in der Notfallabteilung eines Spitals in Israel gearbeitet, wo viele Palästinenser behandelt wurden. Was haben Sie dort erlebt?

Samuel Pfeifer ist leitender Arzt in der Klinik Sonnenhalde in Riehen, die sich an christlichen Grundwerten orientiert.

Samuel Pfeifer: Wenn ein Patient ein psychisches oder auch ein körperliches Problem hatte, sagten die Leute: «Das ist ein ‹Dschinn!›» So heissen im islamischen Raum unsichtbare, dämonenartige Wesen. Ich erinnere mich an eine junge Frau, die in einem scheinbar bewusstlosen Zustand ins Spital kam. Mein arabischer Kollege sagte, das sei keine richtige Bewusstlosigkeit. Er hatte Recht: Sie war noch nicht verheiratet, wurde in ihrer Familie benachteiligt, missbraucht als Dienstmädchen. Als man sie her brachte, war die junge Frau kaum ansprechbar und hatte einen völlig fixierten Ellbogen. Sie war in einer Art Trance. Man sagte mir, sie sei «madschnun», also von einem «Dschinn» besessen. Als wir ihr Valium gaben, liess sich der Arm wieder völlig frei bewegen.

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Seither hat Sie dieses Thema nicht mehr losgelassen. Kürzlich haben Sie in London einen Kongress besucht zum Thema «Spirit Possession and Mental Health». Es ging dort auch um Geisterbesessenheit in den muslimischen Communities in Europa. In London leben viele islamische Ethnien aus dem asiatischen Raum, aus Pakistan, Bangladesch. In ihren Quartieren gibt es traditionelle Heiler, teilweise sind sie auch Imame. An diese wenden sich viele Gläubige mit körperlichen wie psychischen Problemen zuerst. Häufig lautet dann die Erklärung, es handle sich um eine «dschinn possession».

Was für Therapien wenden diese Heiler an?

Die WHO definiert «Trance und Besessenheit» als «Störungen, bei denen ein zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung auftritt». Die Heiler schreiben zum Beispiel einen Koranvers auf einen kleinen Zettel, verstauen ihn in eine Kapsel, und diese Kapsel sollen die Patienten dann als Amulett auf dem Körper tragen. Oder sie empfehlen, ein Huhn zu opfern oder ein Schaf, bei besonders hartnäckigen Geistern wird auch mal eine Summe Geld gefordert. Der Anthropologe und Psychiater Simon Dein, der diese Forschungen vorgestellt hat, sprach auch von Heilern, welche die Notsituation der Leute ausnützen und relativ viel Geld verlangen. Es gibt also auch dort eine Subkultur, in der Geld und Geist sich mischen.

Gehen diese Menschen nicht zu Ärzten?

Häufig gehen sie zu ihrem Familienarzt. Aber unser westliches Modell, unser Verständnis von Krankheit und Medizin macht die Menschen aus diesen Kulturen eher misstrauisch. Sie können nicht glauben, dass all ihre Probleme einfach auf Stress zurückzuführen sind oder auf eine genetische Veranlagung für eine bestimmte Krankheit. Sie sind oft überzeugt, dass eine Kraft dahinter ist, die ihre Probleme verursacht. Ausserdem befürchten Menschen aus völlig anderen Kulturen oft, dass der westlich orientierte Arzt sie nicht versteht und sie für rückständig hält, wenn sie davon sprechen, dass sie eine geistige Macht hinter ihren Problemen vermuten. Daher verschweigen sie dem Arzt, dass sie sich zum Beispiel von einem «Dschinn» besessen fühlen. Oder sie fahren zweigleisig: der Doktor gibt ihnen Schmerztabletten oder Tabletten gegen die Depression, aber um wirklich nichts zu verpassen gehen sie auch zum lokalen Heiler.

Wie bewerten Sie solche Praktiken?

Als Psychiater habe ich starke Vorbehalte. Es mag sein, dass so etwas in leichteren Fällen einen gewissen subkulturellen Trost gibt. Aber bei schweren psychischen Erkrankungen reicht das leider nicht. Ich habe 2010 in Bali erlebt, dass man schizophrene Patienten derart fürchtet, dass man sie in einem Hinterhof ankettet. Die dortige animistisch-hinduistischen Kultur kennt durchaus Besessenheit und Trance-Rituale von Heilern. Doch bei schweren Zuständen nützen diese Rituale nicht viel.

Luh Ketut Suryani ist Leiterin der psychiatrischen Fakultät der Udayana Universität in Denpasar (Bali). Für ihr Engagement für psychisch Kranke hat sie in Europa verschiedene Preise gewonnen. Ihre Arbeit wurde im Film «Bali’s Shame» dokumentiert. (Film auf Youtube anschauen).

Ich habe in Bali eine eindrückliche Psychiaterin getroffen, Luh Ketut Suryani. Sie stiess in entlegenen Dörfern der Insel auf schwer psychisch gestörte Menschen, die von ihren Verwandten während Jahren in Käfigen oder Ketten gehalten werden. Ich habe selber angekettete Menschen im Hinterhof gesehen. Die Angehörigen haben Angst, sie könnten im Dorf die Menschen angreifen. Oft haben die Rituale von Heilern keine Fortschritte gebracht, und es fehlt das Geld für eine Behandlung. Die Psychiaterin bringt diesen Patienten Neuroleptika, also Medikamente gegen Psychosen. Sie und ihre Helfer verabreichen den Patienten regelmässig Depotspritzen mit diesen Medikamenten. Viele von ihnen können heute dank der Behandlung ohne Ketten leben.

Wie fliessen diese Erfahrungen in Ihren psychiatrischen Alltag ein?

Bevor ich in den Nahen Osten reiste, kannte ich nur die christliche Sicht von Exorzismus und Besessenheit. Ich war fasziniert, dass es dieses Phänomen auch in anderen Kulturen gibt. Man kann sagen, dass fast jede Kultur das ultimativ Böse, das Unverständliche in einem Konzept von personalisierter Kraft fasst. Eine Kraft, die man dann vielleicht austreiben muss, oder begrenzen, besänftigen. Das scheint ein Grundmuster zu sein über die verschiedenen Kulturen hinweg.

Ist die moderne Psychiatrie gerüstet für den Umgang mit diesen Kulturen?

Ein Hoffnungssignal ist, dass die Deutsche Gesellschaft der Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie reagiert hat: Sie hat ein Fachreferat «Religiosität und Spiritualität» gegründet. Dort können spirituelle Erklärungsmodelle für psychische Erkrankungen diskutiert werden, in einer sachlichen und vielleicht auch ethnologisch einfühlsamen Art und Weise.

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