Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die in Kultur und Gesellschaft oft ein hohes Medieninteresse hervorruft. Der Begriff Autismus wird vom griechischen Begriff "autos" abgeleitet und bedeutet "selbst; auf sich selbst bezogen".
In den 40er Jahren wurden von den Österreichern Hans Asperger und Leo Kanner jeweils unabhängig voneinander unterschiedliche autistische Störungsbilder beschrieben: das Asperger Syndrom und der frühkindliche Autismus. Diese beiden sehr unterschiedlichen Störungsbilder werden heute zur Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst.
Symptome der Autismus-Spektrum-Störung
Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine grundlegende Beeinträchtigung der gesamten Entwicklung eines Menschen. Sie kennzeichnet sich durch folgende drei Symptomgruppen, welche in der Regel frühkindlich zu erkennen und lebenslang vor zu finden sind:
- Defizite im Umgang mit anderen Menschen: Betroffene Personen einer Autismus-Spektrum-Störung haben besonders Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen. Bereits in den frühen Lebensmonaten eines Kindes zeigen sich Defizite: Sie halten nur selten und flüchtig Blickkontakt, initiieren weniger Kontakt zu den Eltern und lächeln nicht zurück, wenn sie angelächelt werden.
 - Kommunikationsdefizite: Kommunikationsdefizite bei Betroffenen können sich auf verschiedene Arten bemerkbar machen. Einerseits kann die Sprachentwicklung verzögert sein oder ganz ausbleiben. Andererseits bestehen Probleme in der verbalen Sprachkommunikation: es wird z.B. von sich in der Dritten Person gesprochen (Pronominalumkehr) und es werden unangepasste Fragen gestellt oder Feststellungen getroffen.
 - Repetitive Verhaltensweisen: Die dritte Symptomgruppe einer Autismus-Spektrum-Störung beinhaltet eingeschränkte, sich wiederholende Verhaltensweisen. Tagesabläufe erfolgen in Ritualen. Abweichungen von ritualisierten Tagesabläufen führen zu einer Verunsicherung und beunruhigen Betroffene.
 
Die Anforderungen an einen Menschen verändern sich über die gesamte Lebensspanne - von der frühen Kindheit mit hauptsächlich familiären Bezugspersonen hin zum Erwachsenenalter und der Anforderung der Selbstständigkeit. Folglich verändert sich auch das klinische Erscheinungsbild einer Autismus-Spektrum-Störung über die gesamte Lebensspanne. Die Diagnose ist somit für das psychologische und medizinische Fachpersonal besonders herausfordernd.
Diagnose der Autismus-Spektrum-Störung
Aufgrund der sich verändernden Symptomatik verläuft die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung in zwei Stufen. Die erste Untersuchung (Stufe 1) erfolgt bei Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung. Dabei werden die altersspezifischen Symptome untersucht und eine erste klinische Evaluation der Person wird vorgenommen.
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Wenn sich der Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung erhärtet, erfolgt die zweite Stufe der Untersuchung. Dabei wird die betroffene Person an eine spezialisierte Stelle überwiesen, um eine vollständige Diagnostik durchzuführen und mögliche andere Ursachen der Symptome ab zu klären.
Für eine Diagnose müssen die drei Symptomgruppen (Defizite in Kommunikation und sozialer Interaktion sowie repetitive Verhaltensweisen) bereits in früher Kindheit vorliegen. Manchmal können sie sich aber erst in späteren Lebensphasen deutlich machen.
Auf der Grundlage der Beeinträchtigung der betroffenen Person werden drei Schweregrade bestimmt: Schweregrad 1 (erfordert Unterstützung), Schweregrad 2 (erfordert umfangreiche Unterstützung) und Schweregrad 3 (erfordert sehr umfangreiche Unterstützung).
Was ist das Savant-Syndrom?
Das Savant-Syndrom oder auch Inselbegabung beschreibt das Phänomen, dass Menschen eine aussergewöhnliche Begabung in einem speziellen Teilbereich besitzen. Meist haben sie eine geistige Behinderung oder eine Entwicklungsstörung. Nicht selten erlangen diese Ausnahmetalente Berühmtheit als Maler, Musiker oder Rechenprofis.
Der Begriff "Savant" stammt aus dem Französischen und bezeichnet einen "Wissenden". Aufgrund ihrer Erkrankung verfügen die Betroffenen oft über eine verminderte Intelligenz. So sind Autisten oder geistig retardierte Personen in den meisten Lebensbereichen überfordert und auf Hilfe angewiesen.
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Doch in einem ganz bestimmten Gebiet, einer Insel, besitzen sie aussergewöhnliche Fähigkeiten. Die Savants widmen sich dabei mit aller Hingabe und Zeit oft nur diesem einen, äusserst speziellen Interessensgebiet. Liegt der Intelligenzquotient vieler Savants unter dem Wert von 70, also weit unter dem Durchschnitt, so ist er oft gerade in ihrem speziellen Bereich überdurchschnittlich hoch.
Häufig haben autistische Menschen das Savant-Syndrom. So zählt etwa die Hälfte aller bekannten Inselbegabten zum autistischen Spektrum. Meistens handelt es sich bei dem Autismus um das Asperger-Syndrom. Savants sind vor allem Männer - von acht Inselbegabten sind sieben männlich.
Wie zeigt sich das Savant-Syndrom?
Man unterscheidet zwischen einer talentierten und einer erstaunlichen Begabung:
- Die talentierten Inselbegabten besitzen in einem Teilbereich eine Fähigkeit, die dem Durchschnitt entspricht. In Anbetracht ihrer Behinderung stellt sie jedoch schon eine besondere Fähigkeit dar.
 - Die erstaunlich begabten Savants stechen durch ein überdurchschnittliches, aussergewöhnliches Talent in einem detaillierten Teilbereich aus der Masse heraus.
 
Diese Talente sind oft so erstaunlich, dass sie das öffentliche Interesse auf sich ziehen. Viele Savants sind anerkannte Maler oder Musiker. Manche besitzen ein herausragendes fotografisches Gedächtnis und sind etwa in der Lage, Bilder aus ihrer Erinnerung detailgetreu nachzuzeichnen.
Häufige Talente beim Savant-Syndrom
- Fotografisches Gedächtnis
 - Perfektes Gehör
 - Aussergewöhnliches Langzeitgedächtnis
 - Mathematisches Talent
 - Schnelles Erlernen von Sprachen
 - Musikalisches Talent
 
Adnan und seine Leidenschaft für die Wynental-Suhrental-Bahn
Die Wynental-Suhrental-Bahn ist quasi der Lebensnerv im Einzugsgebiet der Stiftung Schürmatt. Auch Adnan fährt jeden Tag aus Menziken mit der WSB in die Schürmatt, wo er die Heilpädagogische Schule besucht.
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Doch Adnan fährt nicht einfach mit der WSB. Wohl niemand sonst weiss so viel über Geschichte, Wagenkompositionen, Fahrpläne und Sonderbarkeiten der Wynental-Suhrental-Bahn, wie der 14-jährige Schüler.
Adnan ist Autist. Er denkt anders. Er nimmt seine Umgebung anders wahr. Typisch für Menschen mit einer Beeinträchtigung aus dem Autismus-Spektrum sind sogenannte Inselbegabungen. Bei Adnan geht diese Inselbegabung mit einem Inselinteresse einher. Vieles in seinem Alltag dreht sich um die Wynental-Suhrental-Bahn.
In der Schule hat er kürzlich einen Vortrag über die WSB gehalten und damit Mitschüler und Lehrpersonen schwer beeindruckt. So sagt auch die Leiterin der Heilpädagogischen Schule Zetzwil, Christine Schricker Zimmermann: «Mich fasziniert Adnan ungemein. Es ist so beeindruckend, was er alles weiss. Und vor allem, dass er sich all das Wissen selber angeeignet hat.»
So war Adnan auch sofort für einen Ausflug zum Bahnhof Gränichen zu begeistern. Dort nämlich, im Untergeschoss, steht eine grosse Modelleisenbahnanlage. Die Eisenbahn- und Modellbaufreunde EMF-WSB haben sie über Jahre aufgebaut. Die meisten Mitglieder sind ehemalige WSB-Lokführer oder -Disponenten.
Sobald Adnan vor der Modellbahn steht, ist er so begeistert, dass er sichtlich in eine andere Welt eintaucht. Er schaut, er staunt, er überlegt, er hinterfragt, wie das wohl alles funktioniert. Er lässt sich alles erklären, hört genau zu, beobachtet ruhig und konzentriert. Und dann legt Adnan selber an der komplexen Schaltanlage Hand an.
So verwundert es nicht, dass Adnan einen ganz grossen Traum hat. «Für die WSB arbeiten? Das wäre schon cool.» Ein Traum, der erlaubt sein muss. Mit seiner Einzigartigkeit hat Adnan, wie alle anderen Klienten der Stiftung Schürmatt ganz eigene Träume und Vorstellungen von seiner Zukunft.
Die Neurodiversität verstehen
Mein Hirn ist auf eine Weise verkabelt, die Fachleute neurodivers nennen - in Abgrenzung zu neurotypisch. In den Reigen der Neurodiversität gehören neben Autismus auch AD(H)S, Dyskalkulie, Legasthenie, Dyspraxie und Hochbegabung. Nicht selten trifft man bei neurodiversen Menschen gleich mehrere dieser Eigenschaften an.
Neurotypische Menschen verfügen über einen eingebauten Filter, der unnötige oder störende Reize reguliert oder sogar ausblendet. Mir fehlt diese Software. Licht, Geräusche, Gerüche, Oberflächen und manchmal sogar Menschen - ich erlebe alles auf einmal und alles in gleicher Intensität. Und was davon ist jetzt wichtig? Während Neurotypen die Auswahl intuitiv treffen, muss ich sie aktiv errechnen.
Die Schwierigkeit, Gedanken und Gefühle von anderen richtig zu deuten, ist die Quelle des alten Vorurteils, Autisten würden nichts fühlen. Das ist Schwachsinn. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind nicht blockiert, weil wir nichts wahrnehmen, sondern weil wir zu viel wahrnehmen. Alles, was auf uns einprasselt, müssen wir aktiv verarbeiten. Und wenn es zu viel wird, machen wir dicht.
Alltag nach Plan
Autisten können sehr wohl in ihren eigenen Abläufen gefangen sein. Das passiere zum Beispiel dann, wenn sie kein «verbindliches Umfeld» vorfinden. Denn der Alltag von autistischen Menschen müsse bis ins Detail sinnvoll strukturiert und vorhersehbar sein. «Treffen sie auf Spontanes und Intuitives, bringt sie das in Stress und Not.»
Autismus ist aber kein Defizit. Autisten fokussieren aufs Detail, statt das Ganze zu sehen. «An einem Hund fällt ihnen etwa nur der eine Punkt auf im Fell statt das ganze Tier.» Für Betroffene ist es zudem schwierig, non-verbale Codes zu deuten.
Thierry Bouvard: Autist und Maler
Thierry Bouvard ist Autist. Er kann nicht sprechen, aber er hat eine Inselbegabung. Er kann malen. Und er malt, wo immer er Platz für Papier und Stifte findet. Dabei hat er sich seine ganz eigene, geniale Technik angeeignet. Thierry Bouvard aus dem zürcherischen Dietlikon ist 19-jährig.
Diese interpretiert er auf seine ganz eigene Art: Er malt nicht, sondern setzt einzelne Striche zu Flächen zusammen und interpretiert Farben.
Epidemiologie der Autismus-Spektrum-Störung
Die Prävalenzrate (Anzahl der aktuell Betroffenen in der Gesamtbevölkerung) für eine ASS liegt - je nach Quelle - zwischen 0.1% bis 1 %. Dabei ist die häufigste Form die des Frühkindlichen Autismus, gefolgt vom Atypischen Autismus bis hin zu der kleinsten Prävalenz für das Asperger-Syndrom.
Mit zunehmendem Interesse in den Medien und der Bevölkerung sowie vermehrter Aufklärung scheint sich auch die Prävalenzrate der ASS-Diagnose zu erhöhen, einerseits durch vermehrtes vorstellig werden beim Arzt, andererseits wahrscheinlich auch durch vermehrtes diagnostizieren.
Es wird angenommen, dass sich die Ausprägungen bei Mädchen anders äußern, weniger offensichtlich sind und entsprechend erst später oder nicht erkannt werden (v.a. für milde Varianten) oder mit geringerem Leidensdruck einhergehen und entsprechend keine ärztliche Beratung in Anspruch nehmen.
Genetik und Ätiologie der Autismus-Spektrum-Störung
Die ASS weist definitiv eine genetische Komponente auf, da das Syndrom in Familien gehäuft vorkommt mit erhöhter Konkordanz bei eineiigen Zwillingen und erhöhtem Risiko für Geschwister. Ein Kind wird mit einer grösseren Wahrscheinlichkeit autistisch sein, wenn ein Angehöriger betroffen ist.
Neben der oben erläuterten erbliche Komponente spielen auch Umweltfaktoren eine gewisse, jedoch untergeordnete Rolle. Sie scheinen eher über die Symptomausprägung und Begleiterscheinungen als über die Erkrankung als solche bestimmen.
Diagnostische Kriterien im Überblick
Im Klassifikationssystem DSM-V hat man eine Differenzierung in Unterformen weitgehend aufgegeben und spricht ‘nur noch’ zusammenfassend von der Diagnose einer Autismus-Spektrums-Störung (299.00). Im System der WHO, dem ICD-10 werden die Unterformen aktuell noch getrennt innerhalb der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F84) beschrieben.
Kernsymptome (Trias) bei allen Unterformen mit Erstmanifestation in der Kindheit sind:
- Eine qualitative Beeinträchtigung im sozialen Verständnis und der sozialen Interaktion
 - Abweichende Kommunikationsmuster
 - Eingeschränktes, stereotypes und repetitives Repertoire an Handlungs- oder Bewegungsmuster, Interessen oder Vorlieben
 
Ferner bestehen oftmals psychopathologische Begleitsymptome in folgenden Bereichen:
- Aufmerksamkeitsdefizite (Aufmerksamkeitsdefizite und Konzentrationsstörung; auch als komorbide ADHS möglich)
 - Störung der Emotionsregulation (Emotionsausbrüche bis hin zu Auto- und Fremdaggression)
 - Schlafstörungen (gestörte Schlafarchitektur, z.B. vermehrter REM-Schlaf)
 - Auffälligkeiten im Essverhalten (eigentümliche Essrituale, restriktives Essverhalten)
 - Abweichungen in der Motorik (mot. Unbeholfenheit, Manierismen, Tics)
 - Sensorik (Hypersensorik: Abneigung gegenüber taktile, olfaktorische, nozizeptorische Reize oder Thermorezeption; intensive Detailwahrnehmung)
 
Subtypen der Autismus-Spektrum-Störung
Im Folgenden werden die Subtypen der ASS vorgestellt. Allen Störungen gemeinsam ist:
- der Beginn im Kindesalter/Kindheit (Manifestation i.d.R. vor dem 5. Lebensjahr)
 - eine Entwicklungseinschränkung oder -verzögerung von Funktionen, die eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems verknüpft sind
 - stetiger Verlauf ohne Remissionen und Rezidive, wobei sich Symptome im Verlauf des Erwachsenenalters vermindern oder aber auch (in Abhängigkeit des Kontextes) verstärken können.
 
Die Subtypen im Überblick:
- Frühkindlicher Autismus (ICD-10 F84.0): Charakterisiert durch eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung, welche sich zwingend vor dem dritten Lebensjahr manifestiert (meist bereits schon ab Geburt) und Auffälligkeiten in den Kernsymptomen aufweist.
 - Atypischer Autismus (ICD-10 F84.1): Charakterisiert durch eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung, welche sich erst nach dem dritten Lebensjahr manifestiert oder nicht alle Kriterien der Kernsymptome erfüllt.
 - Asperger-Syndrom (ICD-10 F84.5): Charakterisiert durch eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung, welche sich im Kindesalter nach dem 3.Lebensjahr manifestiert und die Kriterien der Kernsymptome erfüllt, jedoch ohne fehlende allgemeine Entwicklungsverzögerung bzw. den fehlenden Entwicklungsrückstand der Sprache und der kognitiven Entwicklung (i.d.R. normaler bis hoher IQ!).
 
Zusammenfassung
Inselbegabungen sind faszinierende Phänomene, die oft im Zusammenhang mit Autismus auftreten. Sie zeigen, dass Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen trotz Herausforderungen aussergewöhnliche Fähigkeiten entwickeln können. Ein besseres Verständnis dieser Besonderheiten trägt dazu bei, Inklusion zu fördern und die Potenziale aller Menschen wertzuschätzen.
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