Philosophie und Theologie haben das in der abendländischen Kultur vorherrschende dualistische Menschenbild zweieinhalb Jahrtausende lang entscheidend beeinflusst. Das methodische Instrumentarium der Geistes- und Kulturwissenschaften ist nicht für die Erforschung der Ursachen funktioneller Störungen geeignet.
Das Götterbild Homers
Von idealtypischer Bedeutung für den Stellenwert des Körpers war von Anfang an das Gottesbild Homers. Die Götterwelt Homers trug noch deutlich erkennbare menschliche Züge. Die Götter benahmen sich nicht anders als die Menschen, sie verhielten sich ebenso begehrlich, rachsüchtig, neidisch und launisch wie diese, waren jedoch mit Machtinsignien ausgerüstet, die es ihnen erlaubten, sich nach Belieben zu verkörpern und sogar Tiergestalten anzunehmen. Zeus etwa bevorzugte bei der Verführung einer Frau den Körper eines Schwans oder eines Stiers. Körperlichkeit war demnach für den Göttervater und seine Nachkommenschaft nichts Anstössiges, sondern wie ein Kleid, das der Gott je nach Bedarf an- und ablegen konnte, um in der Welt der Sterblichen als sichtbares Gegenüber wahrgenommen zu werden, wenn er aus dem Olymp herabstieg.
Das homersche Götterbild änderte sich mit dem Übergang vom Mythos zum Logos, dem die Philosophie ihr Entstehen verdankt. Der Gott verschwand vollständig aus dem Bereich des Irdischen, in welchem alles organische Wachstum den Bedingungen von Raum und Zeit unterworfen und damit vergänglich ist.
Der Kosmos als Abbild des Göttlichen
Beide Götterbilder der griechischen Antike - sowohl das mythische als auch das philosophische - tauchten dann im Christentum wieder auf, allerdings in veränderter Reihenfolge und Form. Der Schöpfergott lässt den Logos gleichsam Fleisch werden, indem er die Welt ausspricht und durch das Wort zur Existenz bringt. Obwohl man sich den Gott in der Genesiserzählung des Alten Testaments durchaus bildlich vorstellt wie einen Künstler, der in mehreren Etappen das Universum hervorbringt, ist er seinem Wesen nach ein rein geistiges Formprinzip: Prinzip hier wörtlich aus dem lateinischen Wort principium übersetzt mit «Anfang»: Gott wird gedacht als ein absoluter Anfang, dem kein anderer Anfang vorausliegt. Es wird ausdrücklich gesagt, Gott habe die Welt aus nichts geschaffen, aus nichts anderem als sich selbst, sodass er als der unhintergehbare Ausgangspunkt von allem, was ist, begriffen werden muss.
Erst durch das göttliche Prinzip wird ihr Geist eingehaucht, der sie zu etwas Lebendigem macht und eine Vielfalt von Organismen generiert, die imstande sind, sich selbst aus eigener Kraft zu entwickeln. Das Universum als sichtbares Abbild des Göttlichen hiess bei den griechischen Philosophen «Kosmos». Der Kosmos präsentierte sich ihnen als ein gegliedertes schönes Ganzes und diente als Vorbild für die menschlichen Sinnproduktionen. Es war nun nicht mehr vorstellbar, dass sich die Götter wie in der Götterwelt Homers nach Lust und Laune in körperliche Wesen verwandelten und Umgang mit den Menschen pflegten. Die unendliche Überlegenheit des Geistigen gegenüber dem Sinnlich-Materiellen schloss eine Verkörperung aus. Im Grunde war es schon für die menschliche Seele unerträglich, in einem Körper residieren zu müssen. Die Seele als Sitz des Geistigen empfand den Körper als Gefängnis, wie es die Anhänger von Pythagoras auf die Kurzform brachten: soma - sema (der Körper ist das Grab der Seele).
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Um das Eingekerkertsein, die Inkorporation des Geistes ertragen zu können, musste der antike Mensch einsehen, dass schuldhafte Verfehlungen in einem vorangegangenen Leben die Verkörperung der Seele als eine lebenslängliche Strafe nach sich gezogen hatten. Das verpflichtete den Sträfling, sich sein ganzes Leben lang darum zu bemühen, die alten Fehler zu vermeiden, indem er in allem, was er dachte, fühlte, wollte und tat, dem Geistigen den Vorrang vor dem Sinnlich-Materiellen gab.
Der Körper als Sündenfall im Christentum
Das Christentum hat die Verachtung der Materie von den Griechen übernommen und wie diese den Aufenthalt des Geistes in einem sterblichen Körper als Folge einer Schuld, eines Sündenfalls gedeutet. Anstatt sich für das reine Geistprinzip des körperlosen, unsichtbaren Gottes zu entscheiden, hätten die ersten Menschen mit dem Biss in den Apfel als Symbol für die von der Schlange verheissenen sinnlichen Freuden das Körperlich-Materielle vorgezogen. Konsequenterweise wurde die Bestrafung dann auch am Körper vollzogen, der Krankheiten und Schmerzen erdulden muss, einen Prozess zunehmenden Verfalls durchläuft und am Ende untergeht.
Im griechisch-christlichen Körperbild stellt der Körper als opake schmutzige Masse und wertlose Materie einen äussersten Gegensatz zum reinen, transparenten Geist dar. All die während Jahrhunderten propagierten rituellen Waschungen und Selbstkasteiungen, die Züchtigungen und Geisselungen bis aufs Blut sind einerseits ein Indiz für die Geringschätzung des Materiellen schlechthin und weisen andererseits den Weg, wie der Makel des Körpers als Inbegriff des nicht Begehrenswerten durch systematisch betriebene Reinigungsprozesse und Hygienemassnahmen zur Ausmerzung des Unreinen eliminiert werden kann.
Vor dem Hintergrund dieses Körperbildes wird allererst die Ungeheuerlichkeit der Menschwerdung Gottes verständlich, auf die sich das Christentum gründet. Der reine, unbefleckte göttliche Geist soll sich freiwillig in einen Körper begeben und mit Materie verunreinigt haben: welch eine Demütigung und Selbsterniedrigung des Göttlichen. Jesus, der Fleisch gewordene Gott, der anders als die Götter Homers nicht herabsteigt, um sich unter den Menschen zu verlustieren, sondern um ihnen ein Ideal vorzuleben: das Ideal eines Menschen, der sich bereits zeit seines Lebens auf den Tod vorbereitet, indem er materielle Anreize, insbesondere die Ansprüche seines Körpers, so weit wie möglich ignoriert und damit Platz für die Bedürfnisse des Geistig-Seelischen schafft. Die Botschaft des gekreuzigten Jesus springt ins Auge: Leiden lohnt sich. Es ist ja der Körper, der leidet, während die Seele frohlockt. Je grösser das Leiden, desto sicherer die ewige Seligkeit.
Der mit Wunden bedeckte, gemarterte Körper wird durch den Geist erlöst und überwunden. Als solcher bekommt er einen neuen Namen: Von nun an wird er nicht mehr Körper, sondern Leib genannt - der Leib als der durch Leiden und Schmerzen einer Katharsis unterzogene Körper, der dem körperlosen Göttlichen ebenbürtig wird. Die Auferstehung des Körpers als spiritualisierter, geistig verklärter Leib macht die Selbsterniedrigung Gottes durch die Erhöhung des Menschen wieder rückgängig.
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Leiden lohnt sich
In Kirchen, Klöstern und Schulräumen sind die Kruzifixe vielerorts noch allgegenwärtig. Auch wenn sie ihren Sitz im Leben der Menschen verloren haben, ist ihre Botschaft dem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben: Leiden lohnt sich. Nicht nur gläubige Menschen beziehen daraus Trost in verzweifelten Situationen, wenn alles sinnlos erscheint. Wo der Geist triumphiert, wird alles Körperliche nebensächlich.
Wie hat sich das griechisch-christliche Körperbild auf das kulturelle Selbstverständnis ausgewirkt? In Ethik und Moral dahingehend, dass seit zweieinhalb Jahrtausenden die Kontrollfunktion der Vernunft unbestritten ist. Die Vernunft masst sich unumschränkte Herrschaft über den Körper an, sie verlangt rigorose Zurückdrängung von Begierden, Trieben und Affekten. Man soll hart sein gegen sich selbst und unnachgiebig auf den Forderungen der Vernunft beharren, um ihrem Machtanspruch, welcher die Ausrottung alles Irrationalen bezweckt, Nachdruck zu verleihen. Francisco de Goyas Bild Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer macht anschaulich, was im Körper an Schrecklichem haust, das nur durch die Kontrolle der Vernunft im Zaum gehalten wird und ungehemmt aus ihm herauskriecht, sobald diese Kontrolle nachlässt.
Wie im Gegensatz dazu die auf Vernunft setzende Ethik den Körper formt, kann man ebenfalls an bildlichen Darstellungen studieren. Der männliche nackte Körper vermittelt den Eindruck von Härte und Disziplin: Muskulöses, sehniges, festes Fleisch, in exakt berechneten Proportionen zur Schau gestellt, macht den Triumph des Geistes über den Körper sinnfällig. Ein Zeugnis dafür ist Leonardo da Vincis Musterbild der perfekten, geometrisch vermessenen männlichen Vorderseite. Der weibliche Körper hingegen präsentiert sich auf vielen klassischen Bildern in weichen Rundungen, fleischig und voluminös, den Eindruck von Nachgiebigkeit und Hingabe erweckend. Frauen, so suggerieren diese Darstellungen, sind nicht fähig zur Härte gegen sich selbst. Sie gehen mehr oder weniger auf in ihrer Körperlichkeit. Über zweieinhalb Jahrtausende war das griechisch-christliche Körperbild Mainstream.
Neuzeit: Kooperation von Körper und Seele
Erst in der Neuzeit, mit Descartes und den französischen Materialisten, begann man sich für die Leistungen des Körpers zu interessieren, doch weniger um des Körpers willen, als um eine Lösung auf die Frage zu finden, wie man sich eine Kooperation von Körper und Seele vorstellen kann. Seltsame Theorien wurden in diesem Zusammenhang offeriert, denen zufolge ein göttliches Wesen entweder mittels Errichtung einer prästabilierten Harmonie dafür gesorgt hätte, dass Körper und Seele wie zwei gleichgeschaltete Uhrwerke ohne jegliche Wechselwirkung von vornherein parallel funktionierten (Leibniz). Oder - wie die sogenannten Okkasionalisten behaupteten - Gott würde in jedem Augenblick seelische Impulse zum Körper leiten und umgekehrt. Wenn ich zum Beispiel die Hand heben will, überträgt Gott diesen Entschluss auf meine Hand, die infolgedessen in Bewegung versetzt wird. Descartes hatte Gott nicht so viel Mühe zugemutet, sondern angenommen, dass die Zirbeldrüse als Schaltstelle im Kopf wirkt, wo sie körperliche Regungen in seelische umwandelt und umgekehrt. Wie sie als Körperorgan eine solche Versinnlichung des Geistigen beziehungsweise eine Vergeistigung des Sinnlichen zu bewerkstelligen vermag, bleibt freilich ein Rätsel.
In der Nachfolge Descartes’ gewann die Maschinenmetapher zur Beschreibung des Körpers an Bedeutung. Der Körper als Lebens-, ja Überlebensmaschine muss optimal gewartet werden, weil sonst die Aktivitäten der Seele leiden. Wird die Seele zu sehr abgelenkt durch körperliche Beeinträchtigungen wie überschiessende Emotionen oder starke Schmerzen, kann sie ihren eigentlichen Geschäften nur unzulänglich nachgehen. Um Vernunfteinbussen zu vermeiden, muss sich die Seele daher so weit um den Körper kümmern, wie das für reibungslose Abläufe im organischen Getriebe erforderlich ist.
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No body is perfect
Beim Blick auf die heutige Zeit fällt auf, dass Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung nach wie vor sehr geschätzt werden. Was gut für den Körper ist, bestimmt der Geist, für den von vornherein unwiderruflich feststeht: No body is perfect. Erstaunt nimmt er zur Kenntnis, dass sein Knecht trotz aller Bemühungen um ihn manchmal schlapp macht und ausgebrannt seinen Dienst verweigert, weil ihm die Selbstzweckhaftigkeit abgesprochen wird und die durchgehende Instrumentalisierung ihn schwächt. Vielleicht deutet auch die sich weltweit ausbreitende Fettleibigkeit nicht nur auf ein falsches Konsumverhalten hin, sondern bringt mittels Vervielfältigung der Fettmassen einen Protest des Körpers zum Ausdruck, der sich den Schablonen, in die er gepresst werden soll, eigensinnig widersetzt. Dieser EigenSinn, mit dem sich der Körper gegen die ihm einverleibten Körperbilder zur Wehr setzt, kann bis zum Exzess gehen, wie das monströs wuchernde, aufgequollene Fleisch der auf Francis Bacons und Lucian Freuds Gemälden dargestellten Figuren zeigt - gleichsam Zerrbilder des perfekt vermessenen da-Vinci-Mannes.
Auf dem Weg ins Erwachsenenleben werden schon Kinder ständig mit Körperbildern konfrontiert, die ihr Wertbewusstsein normativ infiltrieren und sie ihren eigenen Körper entsprechend begutachten lassen. Da wir in westlichen Zivilisationen Autonomie als Errungenschaft der Aufklärung über alles stellen, zählt das Recht auf freie Selbstbestimmung zu den grundlegenden Menschenrechten. Kinder zur Mündigkeit zu erziehen heisst nichts anderes, als sie darauf vorzubereiten, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und ihre Entscheidungen verantworten müssen. Die Emanzipationsbemühungen, die mit dem Autonomwerden einhergehen, sind - oft schmerzhafte - Abnabelungsprozesse. Man soll sich selbst ein Urteil bilden und sämtliche Normen und Wertüberzeugungen, die einem mehr oder weniger autoritär eingetrichtert wurden, erst einmal verabschieden, um sie kritisch daraufhin zu prüfen, ob man sie aus eigenem Ermessen als verbindlich anerkennen kann oder nicht. Doch das traditionelle Körperbild, das die vorangegangenen Generationen geprägt und sich entsprechend auf die Modellierung des eigenen Körpers ausgewirkt hat, setzt die jungen Leute einer Zerreissprobe aus. Zwar orientieren sie sich vor allem in der Pubertät mehr an den Massstäben ihrer Peer-Group, entziehen sich dem Sauberkeitswahn der Eltern, lassen sich ihre Frisuren, die Haarfarbe und Klamotten nicht vorschreiben und so weiter.
Dabei geht vergessen, dass die mit dem Pochen auf Autonomie verbundene Unabhängigkeitserklärung mit der Übernahme von Eigenverantwortung gekoppelt ist.
Der Körper als Experimentierfeld in der Jugend
Das einzig Feste in dieser schwierigen Zwischen- und Übergangsphase ist der eigene Körper, an dem man die Autonomie ausprobieren kann. Er dient als Experimentierfeld, auf dem sich herausfinden lässt, was man in Bezug auf sich selbst alles kann, und wo die Grenzen dieses Könnens liegen. Dazu muss man jedoch die Signale des Körpers zu deuten lernen, ihm Eigenrechte und vor allem das Recht auf Wohlbefinden zugestehen, was nach einer langen Tradition der Verachtung alles Körperlich-Stofflichen nicht leichtfällt. Gerade reflektierte und intellektuell aufgeschlossene Menschen neigen dazu, ihren Körper zu instrumentalisieren und ihn zum Sündenbock zu machen für erlittenen seelischen Schmerz. Den Körper hungern zu lassen, ihn dauerhaft auf Sparration zu setzen, scheint die logische Konsequenz aus dem alten Körperbild zu sein. Erinnert es nicht an die Selbstgeisselungen und Fastenperioden des Kirchenpersonals im Mittelalter, wenn junge Menschen sich ins Fleisch schneiden und ihren Körper auf Nahrungsentzug setzen?
Es hat durchaus etwas Heroisches, wenn man es schafft, Härte gegen sich selbst zu beweisen durch unnachgiebige Kontrolle des Körpers, dessen Verletzungen und Schrumpfung in früheren Zeiten erkennen liessen, dass die Botschaft des Kreuzes angekommen war, während sie heute zur Bestätigung für gelungene Autonomie dienen. Ich bin Herr meiner selbst und habe mich im Griff, auch wenn es wehtut.
Wir ertragen als Erwachsene das Unerträgliche nur so lange, wie wir uns fürchten zu sehen, dass - und wie - wir als Kinder gezwungen wurden, das Unerträgliche zu ertragen, diesen Zwang als Hilfe anzusehen und uns daran zu klammern. Gemeinsame Leitthemen der in diesem Band enthaltenen drei Studien sind die Ursprünge des Selbstverlustes und Wege der Selbstfindung. Das Drama des begabten, das heisst sensiblen, wachen Kindes besteht darin, dass es schon früh Bedürfnisse seiner Eltern spürt und sich ihnen anpasst, indem es lernt, seine intensivsten, aber unerwünschten Gefühle nicht zu fühlen. Obwohl diese "verpönten" Gefühle später nicht immer vermieden werden können, bleiben sie doch abgespalten, das heisst: Der vitalste Teil des wahren Selbst wird nicht in die Persönlichkeit integriert. Das führt zu emotionaler Verunsicherung und Verarmung (Selbstverlust), die sich in der Depression ausdrücken oder aber in der Grandiosität abgewehrt werden.
Mein Arzt stellte die Diagnose: Depression. Ein Wort, so dunkel wie die Gedanken, die schon seit längerem über mir kreisten und die mich einsogen wie ein Strudel. Die Ursachen dafür können so vielfältig sein wie der Mensch selbst. Verlust der Arbeit, Trennung vom Partner, Rückschläge und Probleme im Familiären. Jeder Mensch steckt Niederlagen und Stolpersteine auf dem Weg anders weg.
Es ist äusserst wichtig, dass SHG mit Survivors durch kompetente Personen geleitet werden, die Erfahrung mitbringen in der Begleitung von traumatisierten Menschen in einem schwierigen, prolongierten Trauerprozess. Betroffenheit allein genügt nicht, um SHG mit Hinterbliebenen nach Suizid zu leiten.
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