Hirschhausen und ADHS: Eine persönliche Auseinandersetzung mit der Aufmerksamkeitsstörung

Die Aufmerksamkeitsstörung ADHS bekommt derzeit in den Medien viel Aufmerksamkeit. Ist das Problem wirklich so gross oder handelt es sich um eine Modeerscheinung? In seiner neuen WDR-Doku "Hirschhausen - ADHS" klärt Mediziner Eckart von Hirschhausen über die Störung auf - und bekommt während der Dreharbeiten selbst die Diagnose.

ADHS: Mehr als nur "Zappelphilipp"

Bei sehr lebhaften Kindern steht die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung) schnell im Raum. ADHS ist die häufigste psychiatrische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Statistisch betrachtet sitzt in jeder Schulklasse ein Kind mit ADHS - doch eine reine Kinderkrankheit, wie lange angenommen wurde, ist es nicht: 1,8 Millionen Erwachsene sind in Deutschland von ADHS betroffen, wie man in der WDR-Reportage "Hirschhausen - ADHS" erfährt.

Es ist nicht die erste Reportage von Eckart von Hirschhausen - aber vielleicht seine persönlichste. Vor 30 Jahren habe er als Arzt im Praktikum selbst mit jungen ADHS-Patientinnen und -Patienten gearbeitet. Damals sei man davon ausgegangen, dass sich das "Zappelphilipp"-Syndrom irgendwann herauswachsen würde. Ein Irrtum, wie man heute weiss - der mit dazu führe, dass die Störung bei vielen Erwachsenen nicht oder erst sehr spät erkannt wird.

Auch die Publizistin Samira El Ouassil gehört zu den vielen übersehenen Patientinnen: Erst mit 38 Jahren erhielt sie die Diagnose ADHS. "Das war einer der wichtigsten Momente in meinem Leben", erzählt sie im Gespräch mit Hirschhausen.

Symptome und Folgen von ADHS

Betroffene von ADHS haben mit gleich mehreren Problemen zu kämpfen: Sie können sich schlechter auf eine Sache konzentrieren, schlechter vorausschauend planen und schlechter an einer Sache dranbleiben. Ihr Gehirn kann Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden, weshalb sie einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt sind - insbesondere in einer Welt, die immer mehr Ablenkungen bietet.

Lesen Sie auch: Kleinkind-ADHS: Worauf achten?

Doch wie bei allen psychischen Erkrankungen gibt es auch hier kein Schwarz oder Weiss. Jeder sei mehr oder weniger von ADHS-typischen Verhaltensweisen betroffen, erklärt Andreas Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie an der Universitätsklinik Frankfurt, im Gespräch mit Hirschhausen.

Hirschhausen selbst von ADHS betroffen

Eckart von Hirschhausen erkennt sich in der Beschreibung der ADHS-Symptome wieder. Er habe im Alltag Schwierigkeiten, Aufgaben zu priorisieren und Ordnung zu halten. Schon in der Grundschule sei er als "ständiger Unruheherd" aufgefallen. In der Universitätsklinik Bonn lässt er sich deshalb von Alexandra Philipsen, einer Expertin für ADHS bei Erwachsenen, in Augenschein nehmen. "Ich würde schon sagen, dass ADHS etwas mit Ihnen zu tun hat", sagt sie. "Vom ersten Eindruck würde ich sagen, ADHS ist bei Ihnen moderat ausgeprägt."

Moderat heisst: Symptome sind da - könnten aber noch wesentlich schwerwiegender sein. Die Ausprägungen variiert und kann sich zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen Jungen und Mädchen unterscheiden, was die Diagnose erschwert. Wird ADHS nicht erkannt und entsprechend behandelt, kann das gravierende Folgen haben. "Die Konsequenzen sind dramatisch", erklärt Philipsen. Denn ADHS gehe mit einer ganzen Reihe von Folge- und Begleiterkrankungen wie Depressionen, Essstörungen und Suchterkrankungen einher. Rund 40 Prozent aller jungen männlichen Gefängnisinsassen haben ADHS.

ADHS bei Mädchen und Frauen

Insbesondere bei Frauen und Mädchen werde die Erkrankung häufig übersehen, denn bei ihnen äussert sich ADHS anders als bei Jungen und Männern. Sie können die Symptome besser kompensieren und verbergen. So auch die 13-jährige Finja Franke, deren Familie Hirschhausen zu Hause besucht. Dort erfährt er, wie das Leben aussieht, wenn gleich mehrere Familienmitglieder betroffen sind - denn nicht nur bei Finja wurde eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung diagnostiziert.

Während sich ADHS bei ihrem kleinen Bruder Mattis als typisches "Zappelphilipp"-Syndrom mit Impulsivität und äusserer Unruhe zeigt, leidet die 13-Jährige an ADS - also ohne die Hyperaktivität: Ihre Unruhe richtet sich nach innen und sie neigt zur Flucht in ihre eigene Gedankenwelt. Bei beiden Kindern hatte das schlechte Schulnoten zur Folge, ein normales Familienleben war nicht möglich. Vor der Behandlung geriet die Familie regelmässig an den Rand der Verzweiflung, bei den Eltern stellten sich Scham- und Schuldgefühle ein. Was haben wir nur falsch gemacht?

Lesen Sie auch: Unterstützung für ADHS Betroffene in Freiburg

Ursachen von ADHS

Die Schuldfrage zu stellen, sei typisch für Betroffene und Angehörige, jedoch völlig fehl am Platze, erklärt Philipsen: "Da ist keiner schuld." Zwar spielten Umweltfaktoren eine Rolle - die Hauptursache liege jedoch in den Genen. Durch eine genetische Veranlagung stehen bei ADHS-Betroffenen Botenstoffe zur Reizübertragung im Gehirn nicht in ausreichendem Masse zur Verfügung. Um das zu kompensieren, suchen sie nach immer neuen Reizen.

Demnach ist ADHS letztlich eine körperliche Erkrankung, die sich mit Medikamenten behandeln lässt. Der Wirkstoff Methylphenidat verstärken die Informationsübertragung im Gehirn. Dadurch werden die Betroffenen ruhiger und können sich besser konzentrieren. "Es gibt kein Medikament in der Psychiatrie, das eine höhere Effektstärke hat als Methylphenidat", sagt Andreas Reif. Bei Personen, die nicht an ADHS leiden, hat Methylphenidat hingegen die umgekehrte Wirkung: Sie werden unruhiger.

Behandlung und Kosten von ADHS

In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Verschreibung von Methylphenidat verdoppelt. Das wirft die Frage auf: Wer profitiert vom "Hype" um ADHS? Handelt es sich um eine Modeerscheinung, die Pharmafirmen Geld in die Kassen spült? Alexandra Philipsen dreht die Frage um: "Was kostet uns ADHS?" Die Antwort sei: Millionen von Euro jährlich. "Wir wissen, dass ADHS ein Risikofaktor für weitere Erkrankungen ist." Das habe einen hohen Preis - nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft.

Samira El Ouassil geht es heute dank Therapie und Medikamenten besser. Auch der neunjährige Mattis kommt durch die Medikamente besser in der Schule mit und ist ruhiger geworden. Seine Schwester Finja ist dagegen anderer Meinung: "Ich hasse es." Sie habe zwar Hunger, aber keinen Appetit. Appetitlosigkeit sei eine typische Nebenwirkung von Methylphenidat - aber je nach Abwägung oftmals immer noch der beste Weg, um mit ADHS zu leben.

Hirschhausens Selbsttest mit Medikamenten

Hirschhausen hat Methylphenidat nach seiner ADHS-Diagnose an sich selbst getestet. "Erst spürte ich wenig davon, ich hatte sogar eher das Gefühl, unruhiger zu werden statt konzentrierter." In Absprache mit seiner Ärztin habe er dann ein anderes Medikament ausprobiert. "Das fand ich erhellend und fokussierend. Verspannt im Nacken? Seine Sorge, durch die Medikamente weniger interaktiv zu sein und weniger spontan reagieren zu können, habe sich nicht bestätigt. Er komme gut ohne das Medikament zurecht, nehme es aber weiterhin an besonders anspruchsvollen und stressigen Tagen."

Lesen Sie auch: Lernerfolg steigern

"Hirschhausen - ADHS" ist eine Dokumentation im Auftrag des WDR. Die Sendung lief am 30. Oktober 2023 um 20:15 Uhr im Ersten und ist auch in der ARD-Mediathek verfügbar.

ADHS im Wandel der Zeit

ADHS wird heute gerne als Modediagnose oder als Problem unserer digitalen Zeit abgetan, wurde jedoch bereits vor 250 Jahren erstmals beschrieben. Es ist davon auszugehen, dass auch schon Schüler vor hunderten von Jahren Probleme mit der Konzentration hatten. Was heute gerne als Modediagnose oder als Problem unserer digitalen Zeit abgetan wird, wurde jedoch bereits vor 250 Jahren erstmals beschrieben. Was inzwischen zunehmend als eine Variante der Hirnentwicklung anerkannt ist, wurde in der Vergangenheit häufig als moralisches oder erzieherisches Problem betrachtet.

Die Geschichte von ADHS lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, als der deutsche Arzt und Wissenschaftler Melchior Adam Weikard erstmals Verhaltensweisen beschrieb, die heute als Symptome von ADHS erkannt werden könnten. In seinem 1775 veröffentlichten Werk „Der Philosophische Arzt“ widmete Weikard den Aufmerksamkeitsstörungen einen ganzen Artikel unter dem Titel „Mangel der Aufmerksamkeit, Attentio Volubilis“.

Im Jahr 1902 beschrieb der englische Arzt Sir George Frederic Still in einer Reihe von Vorträgen Kinder, die sich rücksichtslos über Autoritäten hinwegsetzten und nicht in der Lage waren, sich angemessen zu verhalten. Still prägte den Begriff der „abnormalen Störung der moralischen Kontrolle“ und deutete bereits an, dass diese Verhaltensauffälligkeiten möglicherweise auf eine Störung des Nervensystems zurückzuführen sein könnten.

ADHS bei Erwachsenen

Obwohl bereits Ende der 1970er Jahre der Psychologe Paul H. Wender Erwachsene untersuchte, deren minimale cerebrale Dysfunktion (MDB) nach der Kindheit weiterbestand, wurde die adulte Form von ADHS erst in den 1990er Jahren verstärkt beachtet.

Die späte Anerkennung von ADHS im Erwachsenenalter hat auch dazu geführt, dass viele Erwachsene, insbesondere Frauen, erst spät im Leben diagnostiziert werden. Frauen wurden historisch seltener diagnostiziert, da ihre Symptome oft weniger auffällig waren und sie eher dazu neigten, ihre Unruhe und Impulsivität nach innen zu richten, was häufig zu emotionalen Problemen führte, die nicht sofort mit ADHS in Verbindung gebracht wurden.

Heute keine Kolumne. Sondern ein Bekennerbrief zur Aufmerksamkeitsstörung - Attention deficit disorder. Nicht verbunden mit Hyperaktivität, nur im Kopf. Ich hab das. In milder Form. Und ich lebe sehr gut damit. Ich lebe sogar davon.

Behandlungsmöglichkeiten

Durch das Verständnis von ADHS - im Rahmen der sogenannten Psychoedukation - eröffnen sich viele hilfreiche Erkenntnisse. Diese ermöglichen es, das eigene Leben und das Umfeld so zu gestalten, dass die individuellen Stärken in den Vordergrund rücken. Psychoedkukation ist auch für Eltern wichtig, deren Kinder eine ADHS-Diagnose erhalten. Sie lernen dadurch, wie ihr Kind tickt, was sie von ihm erwarten können und was eben nicht.

Es gibt verschiedene Medikamente, die die Gehirnfunktion von Menschen mit ADHS so beeinflussen, dass sie den Funktionen eines neurotypischen Gehirns näherkommen. Konkret bedeutet dies, dass der Botenstoff Dopamin während der Einnahme im Gehirn länger verfügbar ist. Dies hilft, die Konzentration zu steigern, die Impulsivität besser zu kontrollieren und insgesamt ruhiger zu werden. Diese Medikamente bewirken jedoch keine nachhaltige Veränderung der Gehirnfunktion, sondern wirken ähnlich wie ein Schmerzmittel nur für ein paar Stunden.

Psychotherapie kann eine wertvolle Unterstützung für Menschen mit ADHS sein, insbesondere wenn eine Diagnose vorliegt und die Psychotherapeutin oder der Psychotherapeut über fundiertes Wissen in Bezug auf ADHS verfügt. Warum ist das so wichtig? Eigenschaften von Menschen mit ADHS wie Vergesslichkeit, innere Unruhe, Impulsivität, Hochsensibilität und andere Aspekte überschneiden sich oft mit Symptomen psychischer Erkrankungen und Traumata.

Je nach dem wie stark die Familie oder die Beziehung durch die ADHS Merkmale mitbetroffen sind, kann auch Familien- oder Paartherapie sinnvoll sein. Therapeutinnen und Therapeuten, die sich auf dem Gebiet von ADHS auskennen, findest du z.B.

Statistiken und Fakten

Die Aufmerksamkeits-Defizit- und Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS (ohne Hyperaktivität: ADS), ist eine Erkrankung, die bei rund 5% aller Kinder auftritt. Bei 1/3 aller Betroffenen klingen die Symptome im Laufe des Lebens ab, bei den übrigen 2/3 zeigen sich auch im erwachsenen Alter noch gewisse Symptome, welche das private und berufliche Leben manchmal belasten können.

ADHS wird bei Jungen ungefähr dreimal mehr diagnostiziert als bei Mädchen. ADS ist bei Mädchen stärker vertreten.

ADHS: Stärken und Herausforderungen

Bei Menschen mit ADHS können wir ganz besondere Eigenschaften beobachten. Viele von ihnen haben:

  • einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn
  • eine spontane, ausgesprochene emphatische Hilfsbereitschaft
  • eine ausgeprägte Offenheit für alles Mögliche
  • oft eine grosse Liebe zu Tieren und zur Natur
  • reagieren, wenn es wirklich drauf ankommt, prompt und meist souverän
  • erkennen höchst sensibel (und oft mit intuitiver Begabung) Stimmungen bei ihm bekannten Menschen (wenn sie nicht selbst übererregt sind)
  • sind oft äusserst kreativ
  • haben häufig eine guten Orientierungssinn
  • sind oft begeisterungsfähig und schnell von etwas fasziniert

Nicht umsonst gibt es unter Künstlerinnen, Schauspielern und Literaten viele AD(H)S-Betroffene! Diese Stärken gilt es zu erkennen und selbstbewusst einzusetzen.

Tabelle: Kernsymptome von AD(H)S

Symptom Beschreibung
Leichte Ablenkbarkeit Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit auf eine Aufgabe oder ein Thema zu richten.
Oft unkontrolliertes Handeln Impulsivität und Schwierigkeiten, Handlungen zu planen und zu überdenken.
Starker Bewegungsdrang Hyperaktivität, die sich in ständiger Unruhe und Schwierigkeiten, still zu sitzen, äussert (nicht vorhanden bei ADS).

tags: #hirschhausen #adhs