Der Rosenthal-Effekt: Psychologie, Definition und Bedeutung

Die Konzepte der Manifestation und der selbsterfüllenden Prophezeiung sind tief in der psychologischen und philosophischen Literatur verankert. Aber bieten sie neben dem Hype wirklich einen Einblick in die Macht des menschlichen Geistes und seine Fähigkeit, die Realität zu formen? Beide Konzepte teilen die Überzeugung, dass das Innere, unsere Gedanken und Überzeugungen, unsere äussere Welt beeinflussen können, unterscheiden sich jedoch in ihren Mechanismen und theoretischen Hintergründen.

Manifestation: Der schöpferische Geist

Manifestation, oft mit der Idee des Gesetzes der Anziehung verbunden, basiert auf der Vorstellung, dass positive Gedanken und Visualisierungen zu positiven Ergebnissen führen. Rhonda Byrne beschreibt in ihrem Bestseller «The Secret» (2006) Manifestation als Prozess, bei dem Menschen durch das bewusste Lenken ihrer Gedanken und Emotionen ihre Realität gestalten können: «Whatever you think about and thank about, you bring about.» Dieses Konzept findet Unterstützung in der positiven Psychologie, die sich auf die Förderung von Wohlbefinden und Glück konzentriert.

In der Praxis bedeutet Manifestation, dass Individuen klare, positive Absichten setzen, die sie durch Visualisierung, Affirmationen und Dankbarkeit verstärken. Psychologisch betrachtet kann Manifestation als Selbstwirksamkeit (self-efficacy) verstanden werden, ein Konzept, das von Albert Bandura eingeführt wurde. Selbstwirksamkeit ist das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, bestimmte Ziele zu erreichen, und spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie Menschen Herausforderungen angehen und ihre Lebensziele verfolgen.

Als Beispiel für Manifestation dient die Erfolgsgeschichte des Schauspielers Jim Carrey. Bevor er berühmt wurde, schrieb er sich einen Scheck über 10 Millionen Dollar für «erbrachte Dienstleistungen» und datierte ihn auf Thanksgiving 1995. Er trug den Scheck jahrelang in seiner Brieftasche und visualisierte seinen Erfolg. Tatsächlich erhielt er 1994 eine Gage von 10 Millionen Dollar für den Film «Dumb and Dumber».

Die selbsterfüllende Prophezeiung: Ein selbst verwirklichender Zyklus

Im Gegensatz zur Manifestation, die aktiv positive Ergebnisse anstrebt, beschreibt die selbsterfüllende Prophezeiung einen passiveren, oft unbewussten Prozess, bei dem Erwartungen über die Zukunft dazu führen, dass diese Erwartungen wahr werden. Robert K. Merton prägte den Begriff 1948 und definierte ihn als «a false definition of the situation evoking a new behavior which makes the originally false conception come true.»

Lesen Sie auch: Psychologie des Dunning-Kruger-Effekts

Die selbsterfüllende Prophezeiung basiert auf kognitiven und sozialen Mechanismen. Erwartungseffekte beeinflussen Wahrnehmung und Verhalten, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die erwarteten Ereignisse eintreten. Diese Dynamik wird durch psychologische Konzepte wie den Placebo-Effekt und die Attributionstheorie unterstützt, die zeigen, wie Überzeugungen und Erwartungen physiologische und psychologische Reaktionen beeinflussen können.

Ein klassisches Beispiel für die selbsterfüllende Prophezeiung ist das Experiment von Rosenthal und Jacobson (1968, «Pygmalion-Effekt»), bei dem Lehrerinnen und Lehrern gesagt wurde, dass bestimmte Schüler:innen (willkürlich ausgewählt) besonders intelligent seien. Diese Schüler:innen zeigten am Ende des Jahres tatsächlich bessere Leistungen, nicht weil sie wirklich intelligenter waren, sondern weil die Lehrer:innen ihre Erwartungen entsprechend anpassten und mehr positive Interaktionen und Unterstützung boten.

Der Pygmalion-Effekt: Rosenthal-Effekt

Der Pygmalion-Effekt besagt, dass sich gewisse Erwartungen in Bezug auf das Verhalten von Menschen tatsächlich auf deren Leistungen und Entwicklungen auswirken können. Der Pygmalion-Effekt wird auch Rosenthal-Effekt oder Versuchsleiter-Erwartungseffekt genannt. Dieser geht auf die klassischen Untersuchungen von Rosenthal und Jacobson (1966) zurück. Die SozialpsychologInnen Robert Rosenthal und Leonore Jacobson hatten im Rahmen eines Experiments eine Reihe von Grundschulkindern zufällig ausgewählt. Den Lehrkräften hatten sie mitgeteilt, dass sich diese Kinder im Verlauf des nächsten Jahres intellektuell hervorragend entwickeln würden. In späteren Studien wurden die Ergebnisse mehrfach bestätigt. Insbesondere in den unteren Schulklassen wirkt der Pygmalion-Effekt stark.

Videoanalysen von Chaiken et al (1974) zeigten, dass Lehrer*innen die „intelligenten“ Schüler*innen mehr anlächeln, mehr Augenkontakt haben und ihre Kommentare mehr loben. Dieses meist unbewusste Verhalten beeinflusst die tatsächlichen Leistungen der Betroffenen. Dies gilt selbst dann, wenn die Schüler*innen von den Erwartungen nichts wissen und die Lehrer*innen glauben, sich neutral zu verhalten (vgl. Zudem können die aufbauenden oder demoralisierenden Effekte deutlich größer sein, wenn die Betroffenen aus benachteiligten oder stigmatisierten Gruppen kommen, wie z.B. Migrant*innen, ethnische Minderheiten, sozial schwachen Schichten usw.

Die zwei Konzepte verglichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Beide Konzepte betonen die Rolle der Gedanken und Überzeugungen bei der Gestaltung der Realität, unterscheiden sich jedoch in ihrer Anwendung und den zugrunde liegenden Mechanismen.

Lesen Sie auch: Vermeiden Sie den Sunk Cost Effekt

  • Mechanismus: Manifestation ist ein aktiver Prozess, der bewusste Gedanken und Visualisierungen nutzt, um positive Ergebnisse zu erzielen. Selbsterfüllende Prophezeiungen sind eher unbewusste Prozesse, bei denen Erwartungen Verhaltensänderungen hervorrufen, die die Erwartungen bestätigen.
  • Zielorientierung: Manifestation ist gezielt und intentional, wobei Individuen spezifische Ziele und Wünsche anstreben. Selbsterfüllende Prophezeiungen entstehen oft ohne bewusste Zielsetzung und können sowohl positive als auch negative Ergebnisse haben.
  • Psychologische Basis: Manifestation ist eng mit Konzepten wie Selbstwirksamkeit und positiver Psychologie verbunden. Selbsterfüllende Prophezeiungen basieren hingegen auf sozialen und kognitiven Theorien wie dem Rosenthal-Effekt und der Attributionstheorie.

Philosophisches: Fragen zur Natur der Realität und der Macht des menschlichen Geistes

Philosophisch betrachtet werfen sowohl Manifestation als auch selbsterfüllende Prophezeiungen Fragen zur Natur der Realität und der Macht des menschlichen Geistes auf. Der Idealismus, wie von Philosophen wie George Berkeley vertreten, postuliert, dass die Realität ein Produkt des Geistes ist. Dies resoniert mit der Idee der Manifestation, dass Gedanken und Überzeugungen die äussere Welt formen können.

Im Gegensatz dazu zeigt der Pragmatismus, vertreten durch Philosophen wie William James, dass Überzeugungen und Erwartungen praktisch wirksam sind, indem sie Verhaltensweisen und Ergebnisse beeinflussen. Dies unterstützt das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung, bei der Erwartungen reale Konsequenzen haben, unabhängig davon, ob sie ursprünglich wahr waren oder nicht.

Manifestation und selbsterfüllende Prophezeiung: bloss Humbug?

Die Konzepte der Manifestation und der selbsterfüllenden Prophezeiung sind in der Tat umstritten und verdienen eine eingehende Betrachtung, besonders im Hinblick auf ihre wissenschaftliche Grundlage und gesellschaftliche Auswirkungen.

Manifestation basiert auf der Idee, dass durch das Fokussieren auf positive Gedanken und Visualisierung bestimmte Ziele und Wünsche erreicht werden können. Diese Idee ist eng mit dem «Gesetz der Anziehung» verbunden, das besagt, dass positive Gedanken positive Ergebnisse anziehen und umgekehrt. Die wissenschaftliche Unterstützung für diese Konzepte ist jedoch schwach.

Studien zeigen, dass positives Denken allein nicht ausreicht, um komplexe Ziele zu erreichen. Eine Meta-Analyse von Forschungen über das positive Denken, die im Psychological Bulletin veröffentlicht wurde, hat beispielsweise ergeben, dass, während positives Denken kurzfristig das Wohlbefinden steigern kann, es langfristig zu weniger Anstrengung und schlechteren Ergebnissen führen kann, wenn keine konkreten Handlungen folgen. Dies ist besonders problematisch, wenn Menschen glauben, dass sie durch blosse Visualisierung ihrer Ziele diese ohne weiteres Zutun erreichen können.

Lesen Sie auch: Mehr zum Rumpelstilzchen-Effekt

Zudem kann die Manifestation unrealistische Erwartungen wecken und dazu führen, dass Menschen ihre individuelle Verantwortung für den Erfolg unterschätzen. Dies kann besonders in sozialen Kontexten gefährlich sein, in denen strukturelle Ungerechtigkeiten eine bedeutende Rolle spielen. Der Glaube, dass Erfolg nur eine Frage der Einstellung ist, kann dazu führen, dass gesellschaftliche Ungleichheiten ignoriert werden, was letztlich bestehende Machtstrukturen zementiert.

Die selbsterfüllende Prophezeiung hingegen hat eine stärkere wissenschaftliche Basis und ist gut durch empirische Forschung belegt. Sie beschreibt den Prozess, bei dem eine ursprünglich falsche Annahme eine Verhaltensänderung herbeiführt, die diese Annahme letztlich wahr macht.

Das klassische Beispiel für selbsterfüllende Prophezeiungen ist die oben beschriebene Studie von Rosenthal und Jacobson. Diese Forschung hat weitreichende Implikationen für Bildungspraktiken und zeigt, wie Erwartungen das Verhalten beeinflussen können. Ein weiteres Beispiel ist der «Stereotype Threat», der beschreibt, wie die Angst, ein negatives Stereotyp zu erfüllen, tatsächlich zu schlechteren Leistungen führen kann. Claude Steele und seine Kollegen haben gezeigt, dass wenn Menschen befürchten, auf der Grundlage von negativen Stereotypen beurteilt zu werden, ihre Leistung in entsprechenden Aufgaben buchstäblich beeinträchtigt wird. Dies zeigt die Macht von Erwartungen und Überzeugungen in sozialen und Bildungskontexten.

Manifestation und selbsterfüllende Prophezeiung: unterschiedliche Relevanz und Anwendung

Die Manifestation, wie sie oft in der populären Psychologie und Selbsthilfeliteratur dargestellt wird, ist häufig überbewertet und kann zu problematischen Annahmen führen. Das Konzept basiert auf dem Glauben, dass allein durch die Konzentration auf positive Gedanken und die Visualisierung von Zielen diese Ziele erreicht werden können. Während positive Gedanken in der Tat das Wohlbefinden und die Motivation fördern können, zeigt die Forschung, dass sie allein nicht ausreichen, um tatsächliche Erfolge zu erzielen.

Eine Studie von Gabriele Oettingen, einer Professorin für Psychologie an der New York University, untersuchte die Rolle des positiven Denkens in der Zielerreichung. Ihre Forschung ergab, dass reines positives Denken ohne realistische Planung und Handlung eher kontraproduktiv sein kann. In einer ihrer Studien zeigte sie, dass Menschen, die nur auf positive Visualisierungen setzen, oft weniger Anstrengungen unternehmen, um ihre Ziele zu erreichen, was letztlich zu schlechteren Ergebnissen führt. Oettingen entwickelte daraufhin das Konzept des «mentalen Kontrasts», bei dem positive Visualisierung mit der realistischen Einschätzung möglicher Hindernisse kombiniert wird, um eine effektivere Zielerreichung zu fördern.

Im Gegensatz dazu ist die selbsterfüllende Prophezeiung ein wissenschaftlich gut belegtes Phänomen, das tiefgreifende Auswirkungen auf das Verhalten und die Leistung von Menschen haben kann. Das oben beschriebene Experiment von Robert Rosenthal und Lenore Jacobson demonstrierte diesen Effekt eindrucksvoll. Weitere Forschungen bestätigen diese Ergebnisse in verschiedenen Kontexten. Studien im Arbeitsumfeld haben so etwa gezeigt, dass Manager:innen, die hohe Erwartungen an ihre Mitarbeiter:innen stellen, oft bessere Leistungen von diesen erhalten («Pygtmalion-Effekt»). Umgekehrt können niedrige Erwartungen zu einem «Golem-Effekt” führen, bei dem die Leistung der Mitarbeiter:innen unter den negativen Erwartungen leidet.

Gesellschaftliche Implikationen

Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse haben weitreichende Implikationen für Bildung, Arbeitsplatzgestaltung und soziale Gerechtigkeit. Im Bildungsbereich ist es entscheidend, dass Lehrer:innen ihre Erwartungen an alle Schüler:innen bewusst reflektieren und potenziell schädliche selbsterfüllende Prophezeiungen vermeiden. In der Arbeitswelt können Führungskräfte durch bewusstes Setzen von hohen, aber realistischen Erwartungen die Leistung ihrer Teams positiv beeinflussen.

Gleichzeitig sollte das Konzept der Manifestation nicht als Ersatz für tatsächliche Anstrengungen und strategische Planung missverstanden werden. Positive Gedanken können motivierend wirken, aber ohne konkrete Schritte und eine realistische Einschätzung der Situation sind sie wenig wert.

Tabelle: Vergleich von Manifestation und selbsterfüllender Prophezeiung

Merkmal Manifestation Selbsterfüllende Prophezeiung
Mechanismus Aktiver Prozess durch bewusste Gedanken und Visualisierungen Unbewusster Prozess, bei dem Erwartungen Verhaltensänderungen hervorrufen
Zielorientierung Gezielt und intentional Oft ohne bewusste Zielsetzung
Psychologische Basis Selbstwirksamkeit, positive Psychologie Soziale und kognitive Theorien (Rosenthal-Effekt, Attributionstheorie)
Wissenschaftliche Grundlage Schwach Stark durch empirische Forschung belegt

tags: #Rosenthal #Effekt #Psychologie #Definition