Eine Rente wird nur dann gezahlt, wenn eine Invalidität im rechtlichen Sinne vorliegt und diese Invalidität einen bestimmten Grad erreicht hat. Auch wer in erheblichem Masse gesundheitlich beeinträchtigt ist, erfüllt nicht immer die Voraussetzungen für eine Rente. Eine Invalidität wird erst anerkannt, wenn sich die gesundheitlichen Probleme auf die Erwerbsmöglichkeiten in der angestammten oder in einer angepassten Tätigkeit bzw. auf die Arbeitsfähigkeit im angestammten Aufgabenbereich auswirken. So kommt es, dass Paraplegiker oft keine Rente beziehen, weil sie beruflich gut eingegliedert sind.
Die Invaliditätsbemessung gibt regelmässig zu rechtlichen Auseinandersetzungen Anlass, da es für die betroffenen Personen um einen existenziellen Anspruch geht. Nur wer über die nötigen Mittel verfügt, kann auch aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Die Ausgaben für Renten belasten die Sozialversicherer und die Öffentlichkeit stark, weshalb diese bemüht sind, die Voraussetzungen restriktiv auszulegen.
Im Folgenden wird erklärt, wann eine Invalidität anerkannt wird und wie der Invaliditätsgrad bemessen wird. Dabei werden nur die wesentlichen Grundsätze dargestellt.
Der Invaliditätsbegriff
Als „Invalidität“ wird gemäss gesetzlicher Definition eine voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit verstanden. Eine „Erwerbsunfähigkeit“ liegt dann vor, wenn als Folge einer Beeinträchtigung der körperlichen, kognitiven oder psychischen Gesundheit auch nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung ein vollständiger oder teilweiser Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt resultiert.
Jeder Invalidität muss somit als erstes eine gesundheitliche Beeinträchtigung zugrunde liegen. Die Ursache dieser gesundheitlichen Beeinträchtigung ist ohne Bedeutung. Es spielt also keine Rolle, ob eine Person von Geburt an beeinträchtigt ist oder ob sie später erkrankt oder verunfallt. Der Gesundheitsschaden kann körperlicher, kognitiver oder psychischer Art sein.
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Während sich körperliche und sensorische Beeinträchtigungen meistens mit bildgebenden Verfahren und im Rahmen von klinischen Untersuchungen nachweisen lassen, bestehen diesbezüglich bei kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen oftmals grosse Schwierigkeiten.
Beispiele
Beispiel 1: Herr S leidet als Folge eines Geburtsgebrechens an einer Intelligenzminderung. In einem Test ist ein IQ von 75 ermittelt worden. Zusätzlich hat eine neuropsychologische Untersuchung erhebliche Defizite in den Bereichen der Wahrnehmung und Konzentration ergeben. Nach geltender Praxis liegt ein kognitiver Gesundheitsschaden vor, wenn der IQ unter 70 liegt. Weil aber bei Herrn S noch zusätzliche Einschränkungen bestehen, wird bei ihm das Vorliegen einer Invalidität bejaht.
Beispiel 2: Frau H ist vor 8 Jahren eingereist und beherrscht die hiesige Sprache nur mässig. Nun ist sie von ihrem Mann verlassen worden. Auch am Arbeitsplatz erhöht sich der Druck und es droht der Verlust der Arbeitsstelle. Frau H reagiert auf diese Geschehnisse mit einer Depression. Solange eine psychische Beeinträchtigung in erster Linie auf persönliche und soziokulturelle Faktoren zurückzuführen ist, liegt gemäss geltender Praxis noch kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor. Erst wenn sich die depressive Störung von Frau H verselbständigt und chronifiziert hat, wird eine Invalidität anerkannt.
Eine gesundheitliche Beeinträchtigung genügt für sich allein nicht zur Annahme einer Invalidität, auch wenn sie die körperliche und seelische Integrität eines Menschen noch so stark beeinflusst. Für die Sozialversicherungen ist sie im Hinblick auf die Beurteilung eines Rentenanspruchs erst dann relevant, wenn sie die Erwerbsfähigkeit einschränkt, und zwar für die Dauer von mehr als einem Jahr.
Massgebend ist somit, wie stark als Folge der gesundheitlichen Beeinträchtigung die Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Eine Invalidität liegt zudem nur vor, wenn die Erwerbsunfähigkeit einer Person wirklich primär Folge ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung und nicht anderer Faktoren ist. Dieser Kausalzusammenhang muss gegeben sein.
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Ausser Acht gelassen werden persönliche Faktoren wie Ausländerstatus, sprachliche Probleme, Alter oder auch Probleme auf dem Arbeitsmarkt (Rezession). Nur wenn eine Person kurz vor Erreichen des AHV-Alters ihre langjährige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen aufgeben muss, wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sie praktisch nicht mehr eingegliedert werden kann.
Es gibt gewisse Personengruppen, bei denen sich die Erwerbsunfähigkeit als untaugliches Kriterium für die Feststellung einer Invalidität erweist. Zu denken ist etwa an Hausfrauen und Hausmänner, die auch ohne gesundheitliche Beeinträchtigung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen würden: Diese Personen gelten dann als invalid, wenn ihre Arbeitsfähigkeit bezüglich ihres Aufgabenbereichs (z.B. der Haushaltführung und Kinderbetreuung) während mehr als eines Jahres beeinträchtigt ist.
Bundesgerichtspraxis zu psychischen Leiden
Früher galten eine ganze Reihe von gesundheitlichen Beeinträchtigungen als objektiv überwindbar und begründeten deshalb in aller Regel keine Invalidität. Es waren dies Schmerz- und Ermüdungszustände, die sich organisch nicht (oder zumindest nicht im geklagten Ausmass) erklären liessen, wie z.B. die somatoformen Schmerzstörungen, die Fibromyalgie, das Chronic Fatigue Syndrom, die Hypersomnie oder das Schleudertrauma ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle.
In einem Urteil des Jahres 2015 (141 V 281) gab das Bundesgericht die bisherige Vermutung auf, wonach somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische Leiden in aller Regel mit zumutbarer Willensanstrengung überwunden werden können. Es hielt fest, dass künftig das tatsächliche Leistungsvermögen jeder Person mit einer derartigen Diagnose „ergebnisoffen“ bewertet werden soll.
An Stelle der bisherigen gesetzlichen Vermutung definierte das Bundesgericht einen strukturierten normativen Prüfungsraster mit Indikatoren. Dabei soll insbesondere geprüft werden, ob die nach dem Stand der Wissenschaft indizierten therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind und ob die betroffene Person bei der Behandlung kooperativ mitgewirkt hat. Weiter soll abgeklärt werden, ob die beklagten Schmerzen konsistent sind und sich im Privatleben im gleichen Ausmass manifestieren wie im Berufsleben. Schliesslich verlangt die bundesgerichtliche Rechtsprechung, dass die persönlichen Ressourcen zur Überwindung des Leidens berücksichtigt werden.
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Ebenfalls zu berücksichtigen sind aber auch weitere somatische oder psychiatrische Diagnosen, die den Heilungsprozess unter Umständen erschweren. Je nach Ausgang der umfassenden Überprüfung wird nun sodann eine Invalidität anerkannt oder nicht.
Seit einem Urteil des Bundesgerichts von Ende 2017 (143 V 418) gilt das strukturierte Prüfungsraster auch für die Beurteilung psychischer Erkrankungen und somit insbesondere auch für die Beurteilung von Depressionen. In einem Urteil von Mitte 2019 (145 V 215) hat das Bundesgericht das strukturierte Prüfungsraster sodann auch auf Suchterkrankungen ausgedehnt.
Beispiele
Beispiel 1: Frau T leidet seit vielen Jahren an diffusen Schmerzen, welche von ihren Ärzten als Fibromyalgie diagnostiziert worden sind. Sie hat deswegen ihre Arbeit vor 3 Jahren aufgegeben. Alle therapeutischen Versuche sind bisher gescheitert. Die Invalidenversicherung wird anhand der vom Bundesgericht definierten Indikatoren prüfen müssen, ob die Fibromyalgie und ihre Auswirkungen als invalidisierend anerkannt werden können und Anspruch auf IV-Leistungen ergeben.
Beispiel 2: Herr B trinkt übermässig Alkohol und hat deswegen seine langjährige Stelle verloren. Die Ärzte halten ihn aufgrund seiner Suchterkrankung auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr für vermittelbar. Suchterkrankungen (wie z.B. Alkoholismus, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit) galten lange nur dann als invalidisierende Beeinträchtigungen im Sinn der Sozialversicherungen, wenn die Sucht selber Folge einer anderen gesundheitlichen Beeinträchtigung (z.B. einer schweren Persönlichkeitsstörung) war oder wenn sie ihrerseits zu einer irreversiblen Beeinträchtigung (z.B. neuropsychologische Störung) geführt hatte.
Um Letzteres beurteilen zu können, verlangten die Sozialversicherer häufig, dass sich die betreffende Person einer Entzugsbehandlung unterzog. Seit dem Bundesgerichtsurteil von Mitte 2019 (145 V 215), wonach das strukturierte Prüfungsraster auch bei Suchterkrankungen anzuwenden ist, muss die IV den Rentenanspruch von Herrn B mittels strukturiertem Prüfungsraster abklären.
Je nach Konstellation kann die IV Herrn B nach der Zusprechung einer IV-Rente gestützt auf die grundsätzliche Schadenminderungspflicht aber zur Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen (z.B. Entzugsbehandlung) auffordern.
Verschiedene Methoden der Invaliditätsbemessung
Die Bemessung des Invaliditätsgrades ist oft komplex und gibt zu vielen rechtlichen Auseinandersetzungen Anlass. In der Invalidenversicherung wird zwischen drei verschiedenen Methoden unterschieden:
- Die Methode des Einkommensvergleichs
 - Die Methode des Betätigungsvergleichs
 - Die gemischte Methode
 
Die Methode des Einkommensvergleichs kommt zur Anwendung, wenn eine Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Umfang von 100% einer Erwerbstätigkeit nachgehen würde. Die Methode des Betätigungsvergleichs kommt zur Anwendung, wenn eine Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keiner Erwerbstätigkeit nachgehen würde, dafür aber in einem „Aufgabenbereich“ tätig wäre (z.B. Haushaltführung oder Kinderbetreuung). Die gemischte Methode kommt zur Anwendung, wenn eine Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung einer Teilerwerbstätigkeit nachgehen würde und daneben noch in einem anderen Aufgabenbereich tätig wäre.
Massgebend für die Wahl der Methode ist immer, was eine Person ohne ihre gesundheitliche Beeinträchtigung tun würde. Weil diese Frage nie mit absoluter Sicherheit beantwortet werden kann, wird ermittelt, welches die überwiegend wahrscheinliche Konstellation ist. Die Abklärungsdienste der IV-Stellen beurteilen die Frage aufgrund einer Befragung der betroffenen Person und unter Berücksichtigung der Verhältnisse vor Eintritt der Invalidität.
Beispiel
Beispiel: Frau C, 38-jährig, seit 10 Jahren verheiratet, hat bis kurz vor der Geburt ihrer Tochter vor 8 Jahren zu 100% als kaufmännische Angestellte gearbeitet. Seither besorgt sie den Haushalt und betreut ihre Tochter. Vor 5 Jahren ist sie an Multipler Sklerose erkrankt. Nachdem sich ihr Gesundheitszustand erheblich verschlechtert hat, meldet sie sich zum Bezug von IV-Leistungen an. In diesem Fall steht zwar fest, dass Frau C vor Eintritt der Invalidität nicht erwerbstätig gewesen ist.
Es ist aber durchaus denkbar, dass sie ohne ihre Krankheit wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte, beispielsweise seitdem die Tochter zur Schule geht. Für die IV ist massgebend, welche Möglichkeit als die wahrscheinlichste erscheint. Diese Frage wird aufgrund der konkreten Umstände (Beziehung der Frau zu ihrem Beruf, finanzielle Verhältnisse, Betreuungsbedarf des Kindes) beantwortet. In diesem Fall kommt der Abklärungsdienst der IV zum Ergebnis, dass Frau C mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wieder eine 50%-Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte. Es gelangt deshalb die gemischte Methode zur Anwendung.
Anders als in der Invalidenversicherung wird bei der Unfallversicherung und der beruflichen Vorsorge der Invaliditätsgrad immer nach der Methode des Einkommensvergleichs ermittelt.
Die Methode des Einkommensvergleichs
Bei der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs wird der Invaliditätsgrad aufgrund eines Vergleichs zweier Einkommen ermittelt:
- Einerseits des Einkommens, das die betreffende Person mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielen würde (sog. Valideneinkommen).
 - Andererseits des Einkommens, welches die betreffende Person nach Durchführung der zumutbaren Behandlung und Eingliederung auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt theoretisch noch erzielen könnte (sog. zumutbares Invalideneinkommen).
 
Beispiel
Beispiel: Herr T hat vor seinem Unfall als Dachdecker gearbeitet und einen monatlichen Verdienst von 5'900 Franken erzielt. Da Herr T weiter auf seinem Beruf gearbeitet hätte und der Arbeitgeber den Lohn der Teuerung angepasst hätte, ergibt sich ein Valideneinkommen von 6'000 Franken. Herr T kann nun aus ärztlicher Sicht nur noch zu 50% einer angepassten leichten Tätigkeit nachgehen. Die IV-Stelle ermittelt ein zumutbares Invalideneinkommen von monatlich 2'400 Franken. Der Vergleich dieser beiden Einkommen ergibt eine Verdiensteinbusse von 60%. Der Invaliditätsgrad von Herrn T beträgt somit 60%.
Wie wird das Valideneinkommen ermittelt?
Gefragt wird, was eine Person im Moment des Einkommensvergleichs ohne gesundheitliche Beeinträchtigung verdienen würde. Wenn eine Person während vielen Jahren auf ihrem Beruf gearbeitet hat und diesen nur wegen der gesundheitlichen Probleme aufgegeben oder reduziert hat, wird auf das letzte Einkommen vor Beginn der gesundheitlichen Einschränkungen abgestellt und dieses der Nominallohnentwicklung angepasst.
Schwieriger ist es, das Valideneinkommen zu ermitteln, wenn eine Person in den letzten Jahren oft die Stelle gewechselt, unterschiedlichste Einkommen erzielt hat und dazwischen auch arbeitslos gewesen ist. In solchen Fällen wird in der Regel auf die statistischen Durchschnittslöhne abgestellt, welche gemäss Bundesamt für Statistik mit dem erlernten Beruf in der Schweiz erzielt werden (sog. LSE-Tabellenlöhne). Die LSE-Tabellen werden auch herangezogen, um zu prüfen, ob eine sog. Parallelisierung vorzunehmen ist: Wird das Valideneinkommen anhand des zuletzt tatsächlich erzielten Einkommens festg...
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