Freud und Kant im Vergleich: Eine Gegenüberstellung von Psychoanalyse und Moralphilosophie

Zum schwierigen Erbe der deutschen Moralphilosophie gehört der sogenannte «kategorische», das heisst bedingungslose moralische Imperativ, der gemeinhin als das Spitzenprodukt der praktischen Ethik Immanuel Kants gilt.

Immer wieder gab und gibt es Stimmen, die der Kantschen Moralphilosophie weltfernen Rigorismus und eine unmenschliche Strenge vorwerfen.

Dazu kommt, dass unter dem Horizont der Freudschen psychoanalytischen Theorie Kants kategorischer Imperativ unter einem weiteren Verdacht steht: Das Gewissen und das moralische Über-Ich, wie Kant sie begreift, werden unter dem Zugriff der Freudschen Sichtweise verstehbar als ein direktes Erbe eines archaischen Tabus.

Noch mehr: Die ständige moralische Gewissensprüfung, die Kants Rigorismus verlangt, gerinnt unter Freuds Blickwinkel zu einem pathologischen verzerrten Selbstverhältnis; der vermeintlich tugendhafte Mensch ist in Realität ein unter zwanghaftem Beobachtungswahn stehendes Wesen, das sich und andere mit seinem Rigorismus quält.

Morris Vollmann untersucht dieses konfrontative Verhältnis zwischen der Kantschen Ethik und der Freudschen Moralkritik.

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Eine Versöhnung gibt es dabei nicht, wohl aber einen Ausweg: Das Glück ist bei Kant keine Angelegenheit der Moral.

Trotz aller Missverständnisse erschließt die Verknüpfung von Psychoanalyse und Moralphilosophie eine instruktive Perspektive auf die Frage nach dem guten Leben.

Die Positionen von Kant und Freud erscheinen dadurch nicht länger als konträr, sondern ergänzen einander als emanzipatorisch-aufklärerische Projekte.

Beide wenden sich kritisch gegen metaphysische wie naturalistische Ideologien und erkunden die Bedingungen und Grenzen von Autonomie.

Durch den Dialog zwischen philosophischer Ethik und Psychoanalyse erfährt das problematische Verhältnis von Moral und Glück grundlegende Denkanstöße.

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Tatsächlich kann man aus guten Gründen der Ansicht sein, Freud und die Psycho­analyse seien veraltet.

Der Philosoph Herbert Marcuse, einer der Vordenker der 68er-Bewegung, vertrat jedenfalls die Ansicht, die Psycho­analyse sei von Anfang an veraltet gewesen, und erst das mache sie interessant und wertvoll.

«Ich behaupte, dass sie [die Psychoanalyse, D. S.] in dem Masse veraltet ist wie ihr Gegenstand, nämlich das «Individuum» als die Verkörperung von Es, Ich und Über-Ich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit veraltet ist.

Die Entwicklung der gegenwärtigen Gesellschaft hat das Freudsche Modell durch ein soziales Atom ersetzt, dessen seelische Struktur nicht mehr die Qualitäten aufweist, die Freud dem psycho­analytischen Gegenstand zusprach.

In ihren verschiedenen Schulen hat die Psychoanalyse überdauert und sich über weite Bereiche der Gesellschaft ausgebreitet; aber mit der Veränderung ihres Gegenstandes hat sich die Kluft zwischen Theorie und Therapie vertieft, und die Therapie sieht sich einer Lage gegenüber, in der sie mehr dem Bestehenden zu helfen scheint als dem Individuum.

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Vielmehr soll am Beispiel Freuds der Fortschritts­begriff infrage gestellt werden, der sich trotz aller Kritik so hartnäckig hält.

Was nun folgt, ist nicht das übliche Wissenschafts­bashing, das der wissenschaftlichen Betrachtung der Natur eine kitschig-ästhetische, sogenannt ganzheitliche entgegenstellt.

Nichts läge mir ferner, ich möchte lediglich festhalten, dass auch die empirischen Wissenschaften interesse­geleitet sind und damit jeder Erkenntnis­fortschritt auch ein Ausdruck veränderter Macht­verhältnisse ist.

Alle Forscher, selbst die ehrlichsten und unabhängigsten, verfolgen nebst der Mehrung des Wissens zum Wohle der Menschheit auch eigen­nützige Interessen.

Sie wollen ihre Karriere voranbringen, sie möchten von ihrer Arbeit leben können und Anerkennung in der Fachwelt erringen.

Dafür müssen sie wissen, welche Themen und Methoden gerade angesagt und welche out sind, wie man einen Finanzierungs­antrag formuliert, an welchen Universitäten man sich bewirbt, mit wem man sich gut stellt und wen man besser meidet.

Wer diese Konventionen missachtet, hat auf dem akademischen Markt keine Chance.

Die Konventionen werden von mächtigen Institutionen festgelegt, die darüber entscheiden, welche Forschungen finanziert werden und welche nicht: vom National­fonds, von den Universitäten, vor allem aber von den Firmen, die die Forschung finanzieren.

Für eine Arbeit zur Psycho­analyse bekommt heute niemand Geld gesprochen, auf eine Stelle im Fach Psychologie braucht sich eine Psycho­analytikerin gar nicht erst zu bewerben, und einen Artikel mit psycho­analytischem Inhalt bringt man in einer renommierten Fach­zeitschrift nicht unter.

Heute gilt in der Psychologie nur quantitative Forschung als wissenschaftlich.

Die Psychoanalyse wurde angefeindet, seit es sie gibt.

Die Angriffe galten anfänglich dem sogenannten Pan­sexualismus Freuds: Bei ihm habe alles mit Sex zu tun, wurde behauptet, und dies disqualifiziere die Psycho­analyse grundsätzlich als Wissenschaft.

Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch die vielen jüdischen Psycho­analytikerinnen, die in die USA emigriert waren, die Psycho­analyse rehabilitiert.

Die Anfeindungen hörten auf, und die Psycho­analyse stieg innerhalb der Psychiatrie gar zur einzigen, allgemein akzeptierten psychologischen Theorie auf.

Auf diesen Höhepunkt gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Akzeptanz folgte Anfang der Achtziger­jahre ein jäher Absturz.

Er war von Sigmund Freuds Tochter Anna Freud beauftragt worden, den Briefwechsel, den Freud mit seinem Jugend­freund, dem Berliner Hals-Nasen-Ohren-Arzt Wilhelm Fliess, führte, neu herauszugeben.

Masson glaubte, in diesem Brief­wechsel Beweise gefunden zu haben, dass Freud seine ursprüngliche Überzeugung, seine Patientinnen seien von ihren Vätern tatsächlich sexuell missbraucht worden, aus reinem Opportunismus aufgab.

Er habe seine Karriere nicht gefährden wollen.

Masson trat damit eine Welle von Publikationen los, die der Psycho­analyse und Freud feindlich gesinnt waren und sich eines für wissenschaftliche Debatten beispiellos gehässigen und feindseligen Tons befleissigten.

Die freudsche Theorie sei unwissenschaftlich, weil sie sich nicht falsifizieren lasse.

Die Psycho­analytikerin behalte immer recht, ob der Patient der Deutung zustimme oder ihr widerspreche.

Die Psycho­analyse stelle ein krasses Abhängigkeits­verhältnis her und beraube die Patientinnen ihrer Autonomie.

In einem solchen Abhängigkeits­verhältnis könne man jedem alles einreden.

Diese Angriffe waren umso merkwürdiger, als sich genau zu jener Zeit eine neue Wissenschaft zu etablieren begann, die sogenannten science studies, die nachwiesen, dass selbst harte Natur­wissenschaften nicht nach den Prinzipien arbeiten, die sie öffentlich proklamieren.

Es fand sich keine einzige Disziplin, die dem popperschen Ideal einer reinen empirischen Wissenschaft, die Hypothesen experimentell bestätigt oder verwirft, auch nur nahekommt.

An die Psycho­analyse wurden also Forderungen gestellt, die keine andere Wissenschaft erfüllte.

Die Feindseligkeit gegenüber der Psycho­analyse, die sich bis in die heutigen Kommentar­spalten der Republik fortpflanzt, musste daher einen anderen Ursprung haben als das Fehlen von Doppelblind­studien.

Vier Jahre vor Massons Buch, 1980 also, war nach vielen Jahren der Vorarbeit das DSM-III, das «Diagnostic and Statistical Manual», in seiner dritten Ausgabe heraus­gekommen, das die bisherige diagnostische Praxis in der Psychiatrie auf den Kopf stellte.

Für jede psychiatrische Diagnose wurde eine Reihe von Symptomen angegeben und die Anzahl der Symptome festgelegt, die nötig sind, um sie zu rechtfertigen.

Die Symptome mussten rein beschreibend sein, es wurden keine Ursachen als Kriterium für eine Diagnose zugelassen.

Die radikale Neuorientierung der psychiatrischen Diagnostik richtete sich gegen die Psycho­analyse.

Die Pharma­industrie und die Universitäten hatten starken Druck auf die amerikanische Psychiatrie ausgeübt, endlich ein Diagnose­system einzuführen, das psychiatrische Leiden beforschbar macht; ein Diagnose­system also, mit dem man zählen, messen und vergleichen kann.

Dafür eignet sich die Psycho­analyse nicht, der es um das Aufarbeiten einer singulären Lebens­geschichte geht.

Diese kann man weder messen noch vergleichen.

Indem die Lebens­geschichte für irrelevant erklärt wurde, wurde der Psycho­analyse ihre Grundlage entzogen, was wiederum der Pharma­industrie zugutekam.

Ihre Botschaft war klar: Hört endlich auf, mit den Patienten zu reden, lasst sie Pillen schlucken.

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