Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TfP), auch Psychodynamische Therapie oder einfach Tiefenpsychologie genannt, ist gegenwärtig das am häufigsten praktizierte Richtlinienverfahren. Dennoch führt sie als die »kleine Schwester« der »großen« Psychoanalyse in der wissenschaftlichen Diskussion eher ein Schattendasein.
Eva Jaeggi hat Psychologie, Philosophie und Geschichte in Wien studiert, war von 1978 bis 2000 Professorin für klinische Psychologie an der TU Berlin und wurde 1972 Assistenzprofessorin an der FU Berlin. Sie ist als Verhaltenstherapeutin, Psychoanalytikerin und Supervisorin ausgebildet und kennt sich mit vielen weiteren Therapierichtungen aus. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich Vergleich von Therapieschulen, Moderne Lebensformen, Beruf des Psychotherapeuten.
Techniken und Theorien der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
Die Autoren der TfP arbeiten heraus, was von den theoretischen Grundhaltungen der klassischen Psychoanalyse übernommen werden kann, und stellen an Fallbeispielen dar, wie das konkret geschieht. In der praktischen Arbeit eröffnen sich den Therapeuten Möglichkeiten, Techniken zu integrieren, deren sich die klassische Psychoanalyse nicht bedient, wie etwa die Maltherapie, Imaginationstherapie, gestalttherapeutische Methoden, Rollenspiele und körperorientierte Ansätze wie z. B. Focusing und Achtsamkeitsmethoden.
Das Anteilemodell in der Psychotherapie
Ein Bewusstsein für unsere inneren Anteile zu entwickeln, bringt uns die Fähigkeit zurück, unser Leben im Hier und Jetzt bewusst zu gestalten.
Vielleicht kennst du diese Momente, in denen du dich ärgerst, weil du dich nicht so verhalten hast, wie du es gerne getan hättest. Zum Beispiel in einer Situation, in der du dich abgrenzen wolltest und dann trotzdem Ja gesagt hast. Oder hast du dich schon einmal so etwas sagen hören wie: »Ich habe kein Wort mehr herausgebracht, ich habe mich gefühlt wie ein kleines Kind!«? Möglicherweise hast du auch erlebt, dass eine Person, die du auf der Arbeit kennengelernt hast, im privaten Umfeld ein ganz anderes Gesicht zeigte.
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Dass unsere Persönlichkeit aus verschiedenen Anteilen besteht, erklärt innere Ambivalenzen und widersprüchliches Verhalten. Wir sind vielschichtige Geschöpfe, die sich auf unterschiedlichste Art und Weise ausdrücken können. Diese Vielschichtigkeit kann ganz stimmig und lebendig sein, sie kann jedoch unter Umständen auch inkohärent und belastend wirken.
Manchmal ist es erstaunlich, wie widersprüchlich sich Menschen verhalten und auch selbst empfinden können. So kann es widerstreitende innere Impulse, konträre innere Stimmen oder gegensätzliche Bedürfnisse und Empfindungen geben. Das alles lässt sich mit Hilfe des Anteilemodells erklären.
Die Bausteine unserer Persönlichkeit
Nach diesem Ansatz besteht ein Mensch aus verschiedenen Persönlichkeitsanteilen (auch Ego-States genannt), die zusammen das Gesamtbild der Persönlichkeit ergeben. Die Anteile wirken wie Bausteine der Persönlichkeit.
Darüber hinaus und ganz grundlegend sehe ich in jeder Persönlichkeit etwas, was man Kernselbst, innere Mitte oder wahres Wesen nennen kann. Dieses »wahre Wesen« ist eine Instanz, die uns im Innersten ausmacht, und sie ist von Natur aus gut, einzigartig und unversehrt, ganz gleich, was im Leben eines Menschen geschehen sein mag.
In Momenten, in denen wir mit dieser Instanz in Kontakt sind, erleben wir uns selbst als ganz, präsent und verbunden. Sie ist ein Seinszustand, in dem wir Zugang haben zu unseren Ressourcen, Potenzialen und auch Selbstheilungskräften. Dieser Seinszustand ist etwas ganz Ursprüngliches.
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Wenn wir uns sicher, geborgen und verbunden mit dem gegenwärtigen Moment fühlen, erleben wir uns unserer Mitte automatisch näher, als wenn wir abgelenkt, geängstigt oder gedanklich weit von uns weg sind.
Was ist ein Persönlichkeitsanteil?
Während der frühen Kindheit entwickelt sich in einem komplexen Prozess die Grundlage der Persönlichkeit eines Menschen. Sie wird im Wesentlichen geprägt durch das, was das Kind in der Interaktion mit Bezugspersonen erfährt und sie entwickelt sich zeitlebens fort.
Viele essenzielle Persönlichkeitsanteile werden in der Kindheit gebildet, was einen natürlichen und physiologischen Vorgang darstellt. Der »innere Anteil« ist mehr als eine Metapher. Anteile sind neurophysiologische Repräsentanzen gemachter Erfahrungen.
Ein innerer Anteil stellt ein neuronales Netzwerk, also ein Netzwerk aus Nervenzellen dar, das sich aus wiederholten Erfahrungen gebildet hat. Ein solches Netzwerk enthält Erinnerungen und daran gekoppelt eine eigene Geschichte, bestehend aus Körperempfindungen, Emotionen und Gedanken.
Somit haben innere Anteile ihre eigenen Ansichten, Überzeugungen, Weltanschauungen, Körperzustände, Bedürfnisse, ein eigenes Alter, eine eigene Funktion, eigene Symptome, Fähigkeiten, Affekte und Befindlichkeiten.
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Wenn die Bedingungen gut sind
Anteile, die sich unter entspannten Bedingungen entwickeln, erleben wir als integriert in unsere Persönlichkeit, wir können uns mit ihnen identifizieren und fühlen uns wohl damit. Sie sind echte Ressourcen.
So entsteht etwa eine kleine Ballerina oder ein kleiner Handballspieler, die Lebensfreude, Teamgeist und Selbstbewusstsein in sich tragen. Die meisten dieser Anteile entwickeln sich im Laufe des Heranwachsens weiter. Sie wachsen quasi mit.
Die kleine Ballerina behält auch später noch ihre Spielfreude, lebt sie als Erwachsene aber mit Disziplin und Achtsamkeit aus. Solche Anteile sind dem Wesenskern nah und mit ihm verbunden.
Wenn die Bedingungen schlecht sind
Nicht alle Anteile entstehen unter guten Bedingungen. So bildet sich unter toxischem Stress in der Kindheit etwa ein braver, angepasster Anteil, der die Angst, Traurigkeit, Einsamkeit, das Leid und all die daran geknüpften Gedanken, Glaubenssätze und Körperempfindungen ganz lebendig in sich trägt.
Jene Anteile, die unter toxischem, traumatischem Stress entstehen, sind dem wahren Wesen nicht so nah und erzeugen in der Gesamtpersönlichkeit Spannung und Druck. Je mehr solcher Anteile im Inneren vorhanden sind, desto inkohärenter erlebt sich ein Mensch in seiner Persönlichkeitsstruktur.
Er ist nicht eins mit sich, fühlt sich wiederholt von sich selbst enttäuscht oder im inneren Konflikt. Anteile, die unter hohem Stress entstehen, brauchen einen Platz im Bewusstsein, um zu heilen.
So ist Jolanda mit sich enorm unzufrieden, weil sie sich im Meditationsretreat nicht entspannen konnte. Ihr innerer Anteil, der das Funktionieren zur Perfektion gebracht hat, wurde unvermittelt aktiviert und trieb sie durch die Woche.
Ein anderer innerer Anteil von Jolanda ist in dieser Woche dem Bewusstsein ein Stückchen nähergekommen - etwas Kindliches, Ängstliches, Alarmiertes, das sich in Form von innerer Unruhe und Schlaflosigkeit bemerkbar gemacht hat.
Vermutlich wird sich Meditation für Jolanda erst dann gut anfühlen, wenn sie sich diesem Anteil und dem, was er an Spannung, Energie und Überzeugungen trägt, zugewandt hat.
Jene Anteile, die unter traumatischem Stress entstanden sind, bleiben in ihrer Struktur oftmals rigide und entwickeln sich weniger weiter. Das hat damit zu tun, dass traumaassoziierte Anteile eher isoliert im Innern präsent und weit weniger in die Gesamtpersönlichkeit integriert sind.
Über die Kindheit hinaus
Im Laufe des Lebens kommen weitere Anteile hinzu, wenn wir Neues lernen und uns in neuen Kontexten bewegen. So zum Beispiel, wenn wir einen neuen Beruf erlernen oder Eltern werden.
Dann entwickeln sich durch neue Erfahrungen neue Anteile, die zuvor noch nicht existierten und die sich immer weiter verfeinern, je mehr wir in die neuen Aufgaben hineinwachsen.
Ein Mensch, der eine solche innere Struktur entwickelt, erlebt sich als integrierte Persönlichkeit, also in sich stimmig. Er kennt sich in sich aus und hat ein Gefühl von Ich, Selbst und Identität.
So bin ich in diesem Augenblick, wo ich dies hier schreibe, in meinem »Autorinnen-Selbst«. Ich denke in meiner Expertinnenwelt und schreibe in diesem Bewusstsein. Die Lebensgeschichten vieler Klientinnen sind mir in diesem Anteil zugänglich sowie auch mein theoretisches Wissen, und ich befinde mich in einem energetischen Zustand der Konzentration und Sammlung. Ich bin mit diesem Persönlichkeitsanteil »identifiziert«, was bedeutet, dass sein neuronales Netzwerk aktiv ist und ich ganz darin aufgehe. Ich bin gerade die Autorin.
Wenn wir mit einem inneren Anteil identifiziert sind, bedeutet das, dass das neuronale Netzwerk, das ihn ausmacht, aktiv ist und wir uns entsprechend erleben.
Wenn ich heute Abend einer Freundin erzähle, wie sich der Schreibprozess angefühlt hat und was ich in letzter Zeit erlebt habe, schwinge ich in einem anderen Anteil, nehme mich anders wahr, verwende vermutlich andere Wörter und bin innerlich nicht in Kontakt mit den Lebensgeschichten meiner Klienten.
Diese beiden unterschiedlichen Anteile erfüllen unterschiedliche Aufgaben und haben unterschiedliche Bedürfnisse. Dennoch existieren sie friedlich und fließend neben- und miteinander und sind beide, gemeinsam mit einigen weiteren, Teil meiner vielfältigen Persönlichkeit.
Dass mehrere Anteile gleichzeitig aktiv sind, ist völlig natürlich und im Alltag ständig der Fall. Es ist sehr sinnvoll, wenn die verhandelnde Anwältin vor Gericht konzentriert ihr Plädoyer halten kann, ohne dabei von ihrem bedürftigen Kindanteil, der Angst hat, etwas falsch zu machen, abgelenkt zu werden.
Wer eine kohärente, integrierte Persönlichkeit hat und seine Anteile weitgehend bewusst wahrnimmt, dem ist es möglich, sich zu regulieren und willentlich zu entscheiden, in welchen Anteil er oder sie sich gerade hineinbegeben will. Dann ist es auch möglich, zwischen Anteilen fließend zu wechseln, da ihre neuronalen Netzwerke untereinander verbunden sind.
Wesentlich schwieriger ist es, wenn wir mit einem inneren Anteil identifiziert sind, der in seiner Entwicklung noch nicht so wirklich im Hier und Jetzt angekommen ist.
Innere Anteile, die unter traumatischem Stress entstanden sind, bilden häufig neuronale Netzwerke, die für sich allein wie Inseln,...
Die therapeutische Beziehung
In der Psychotherapie ist die Beziehung zwischen Klient und Therapeut der wichtigste Erfolgsfaktor: Es geht weniger darum, Patienten zu ändern, als mit ihnen gemeinsam solidarisch widrige Lebensumstände zu bearbeiten.
Wenn Therapie wirken soll, muss sie den Klienten extrem variabel annehmen. Die Beziehungskompetenzen in verschiedenen therapeutischen Richtungen unterscheiden sich teilweise deutlich und lassen sich in einem produktiven Ergänzungsverhältnis verstehen.
Peter Fiedler und Kollegen stellen in 14 Einzelbeiträgen gut evaluierte Varianten der Therapiebeziehungen vor. Die aktuelle Bestandsaufnahme möglicher Vielgestaltigkeit erweitert den Blick für die klinische Praxis.
Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen erhalten Anregungen, nicht nur ihre Beziehungen, sondern auch ihr Selbstverständnis neu zu reflektieren und fortzuentwickeln.
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