Kilian Chirici bekommt bereits im ersten Kindergarten die Diagnose ADHS. Schon früh wusste Daniela Chirici (42), dass mit ihrem Sohn etwas anders ist. «Er war ein Schreibaby und auch als Kleinkind nicht zu vergleichen mit den Kindern in meinem Umfeld», erinnert sie sich. Im Kindergarten wird Kilian abgeklärt und die Diagnose steht schnell fest: Starke ADHS. «Damit hatte ich nicht gerechnet und wollte es erst auch nicht wahrhaben. Ich habe etwa drei Wochen gebraucht, um das zu akzeptieren», sagt die Mutter.
Was ist ADHS?
ADHS (Kurzform für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) ist eine Hirnfunktionsstörung, die angeboren ist oder sich kurz nach der Geburt entwickelt. Menschen mit dieser Diagnose können Informationen im Gehirn nur schwer filtern und leiden dadurch an einer Art mengenmässiger Überlastung. Sie können sich oft nicht lange konzentrieren, haben ihre Impulse und ihre Wut nur schwer unter Kontrolle und leiden oft an einer inneren körperlichen Unruhe (Hyperaktivität).
Rückblickend hat die Diagnose für Kilian selbst nichts geändert. «Ich bin immer noch derselbe Kilian. In der Schule kann sich der Junge trotz hoher Dosierung der ADHS-Medikamente nicht auf den Stoff konzentrieren, hat Streit mit den anderen Kindern, ist leicht reizbar und lässt sich immer wieder provozieren. «Ich hatte meine Wut überhaupt nicht unter Kontrolle, sah nur noch rot und habe alles um mich herum vergessen. Dann habe ich schnell zugeschlagen», sagt Kilian rückblickend.
Der Alltag mit ADHS
Nach der Schule ist Kilian immer müde und niedergeschlagen, muss aber trotzdem mit seiner Mutter für die Schule üben und Hausaufgaben machen. Schliesslich wird er in eine Sonderschule umgeteilt und kurz danach wegen eines Wutanfalls aus der Schule geworfen. Für Mutter und Vater keine einfache Zeit. Sie stellt ihre Beziehung arg auf die Probe. Wir haben früher sehr viel gestritten. Diese Wutausbrüche bekommt auch sein kleinerer Bruder Silvan (14) mit. «Wir haben früher sehr viel gestritten. Ich wusste ganz genau, wie ich ihn provozieren kann und habe das manchmal auch extra gemacht», sagt Silvan und lächelt verschmitzt.
Eine Nachbarin filmt Kilian während einer seiner Wutanfälle und zeigt ihm später das Video. «Es war sehr speziell, mich in einer solchen Situation einmal von aussen zu sehen und hat mir auch ein Stück weit die Augen geöffnet», sagt er heute. Daraufhin ging er zu einem Verhaltenstherapeuten und eignete sich neue Strategien an, um besser mit Provokationen umzugehen. «Er lernte langsam seine Wut frühzeitig wahrzunehmen und entwickelte eine innere Handbremse, um sie unter Kontrolle zu bringen», erklärt seine Mutter.
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Silvan musste oft seine Bedürfnisse hinter die seines Bruders stellen und Verständnis zeigen. «Das war für mich auch oft schwierig. Kilian wurde insgesamt drei Mal von der Schule verwiesen, weil es Konflikte gab. Zwischendurch unterrichtete ihn eine Lehrerin zuhause. «In dieser Zeit habe ich Tag und Nacht nach einem neuen Platz gesucht», erinnert sich Daniela Chirici an diese anstrengende Zeit. Schliesslich hat sie eine Schule in Luzern und später eine Oberstufe in Thalwil ZH gefunden.
«Ich hatte schon immer Mühe, Freunde zu finden. Ich war immer der Aussenseiter», sagt Kilian heute betrübt. Das sei aber teilweise seine Schuld, er habe sich mit seinem Verhalten oft zur Zielscheibe gemacht. Erst im Lockdown habe er ein bisschen gelernt, soziale Kontakte aufzubauen. Er interessiert sich für Modellflugzeuge und grosse Maschinen und verbringt viel Zeit auf der Zuschauertribüne am Flughafen.
Ganz anders sieht das bei Silvan aus, der kleine Bruder hatte immer viele Freunde. «Immer hat es an der Türe geklingelt und jemand wollte mit Silvan draussen spielen», erinnert sich die Mutter. Aber den grösseren Bruder wollte niemand dabeihaben. «Das hat mir immer sehr wehgetan und ich war auch neidisch auf meinen kleinen Bruder», sagt Kilian. Trotzdem habe er sich für ihn gefreut. Heute versucht Silvan seinem Bruder bei den sozialen Kontakten zu helfen.
Im vergangenen Sommer konnte Kilian dann bei der «Stiftung Brändi» in Kriens LU ein Vorpraktikum in der Schreinerei beginnen und blüht dabei richtig auf. «Ich fertige kleine Holzteilchen, die danach zum Beispiel für das Brettspiel ‹Brändi Dog› verwendet werden», erzählt er stolz. Wenn alles gut läuft, kann er im Sommer in der Werkstatt eine Anlehre (EBA) beginnen. Die Familie hat hart darauf hingearbeitet und hofft, dass es so gut weitergeht. Das nächste Ziel ist irgendwann der Auszug von Kilian, aber der soll lange und gut geplant werden.
Müdigkeit und ADHS
Die Energie, die Menschen mit einer ADHS für ihren Alltag benötigen, führen zu einer Erschöpfung. Diese kann wiederum zu einer Depression führen. Ein Gefühl von Kraftlosigkeit und Überforderung wird immer stärker. Menschen «funktionieren» weniger, wodurch ein Gefühl von Minderwertigkeit resultiert.
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Müdigkeit oder auch die chronische Fatigue sind in Verbindung mit ADHS noch nicht gut genug untersucht. Es liegen zwar keine wissenschaftlichen Informationen vor, dennoch lässt sich beobachten, dass eine chronische Erschöpfung oder Tagesmüdigkeit bei dem unaufmerksamen Subtyp zu finden ist.
Begleiterkrankungen bei ADHS
Menschen mit AD(H)S haben ein höheres Risiko, an Angststörungen, Depressionen und Co. zu erkranken. Viele Kinder bleiben in der Schule unter ihren eigentlichen Leistungen. Sie können sich nicht konzentrieren. Dazu kommt es, dass neben der ADHS-Symptomatik eine Teilleistungsstörung bestehen kann. Dabei handelt es sich um eine Lese-Rechtschreib- und/oder eine Rechenschwäche. Zudem entwickeln viele von ihnen Ängste und Unsicherheiten und trauen sich weniger zu.
Häufige Begleiterkrankungen bei einer ADHS sind seelische Erkrankungen. Dazu gehört auch die Depression. Ebenso gibt es bei Depressionen genetische Grundlagen.
Bei einer Angststörung reagieren Menschen auf bestimmte Reize mit starker Angst. Menschen mit einer ADHS erwähnen auch häufiger, dass sie Minipaniken erleben. Diese treten auf, wenn etwas nicht so funktioniert, wie sie sich das vorgestellt haben.
Ein Prozent der Weltbevölkerung hat eine Bipolare Störung. In den manischen Phasen besitzen die Menschen viel Energie und ein erhöhtes Selbstbewusstsein. Die Phasen können sich auch mischen und schnell abwechseln. Männer und Frauen sind gleichermassen betroffen. 10 Prozent der ADHSler:innen weisen eine bipolare Störung auf. Ebenfalls haben 20 Prozent der Menschen mit einer bipolaren Störung eine ADHS. Auch die Ursachen beider Erkrankungen überschneiden sich. Die Ursachen der bipolaren Störung sind ebenfalls noch nicht ausreichen erforscht. Dabei spielt die Veranlagung eine wesentliche Rolle. Der Ausbruch der Erkrankung wird jedoch durch Umweltbedingungen beeinflusst. Hierzu zählen Stress, durch die Geburt oder Drogen- und/oder Alkoholkonsum.
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Schlafstörungen bei Erwachsenen mit einer ADHS kommen häufig vor. Dies liegt daran, dass sich viele Menschen mit einer ADHS abends besser auf die Arbeit konzentrieren können. Grund hierfür sind fehlende, störende Reize. Das führt dazu, dass sie oft bis spät in die Nacht arbeiten. So können sie alle wichtigen Aufgaben erledigen.
Menschen mit AD(H)S leiden oft auch unter einer Persönlichkeitsstörung, wie zum Beispiel Borderline. Bei dem Restless-Legs-Syndrom handelt es sich um eine neurologische Störung, die häufig zusammen mit einer ADHS auftritt. Sie wird als kribbeln oder spannen in den Beinen empfunden. Die Symptome bereiten beim Einschlafen Schwierigkeiten. In den Phasen wird der Drang verspürt, sich zu bewegen oder die Muskeln anzuspannen. Beine und Füsse sind häufiger betroffen. Die Ursache ist nicht geklärt. Jedoch wird eine Störung in dem System, das zur Herstellung von Dopamin verantwortlich ist, in Betracht gezogen. Dies steht in Zusammenhang mit einer ADHS. 10 Prozent sind von dem RLS betroffen. Frauen deutlich häufiger.
Auch, wenn eine ADHS oft nicht erkannt wird, so kommt es bei einer ADHS häufig zu Persönlichkeitsstörungen. Dies sorgt für Doppeldiagnosen. Beispielsweise eine ADHS und Borderline oder eine ADHS und die narzisstische Persönlichkeitsstörung. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung hat Überschneidungen mit dem impulsiven Typ der ADHS. Die Persönlichkeitsstörung tritt häufig gemeinsam mit einer ADHS auf. Dabei sollen bestimmte Subtypen der ADHS die Entwicklung der Persönlichkeitsstörung begünstigen. Gerade der kombinierte ADHS-Typ geht häufig mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung einher. Bei 12,5 Prozent mit diesem Subtyp konnte die Persönlichkeitsstörung nachgewiesen werden.
Eine weitere Begleiterkrankung ist das Abhängigkeitssyndrom. Es kommt bei Menschen mit einer ADHS doppelt so häufig vor, wie bei Menschen ohne ADHS. Dreissig bis fünfzig Prozent der Menschen in Kliniken haben eine unerkannte ADHS. Das liegt daran, dass es Erwachsenen mit einer ADHS schwerer fällt, das richtige Mass zu finden. Zudem können Rauschmittel bei Menschen mit einer ADHS andere Wirkungen zeigen als bei Menschen ohne eine ADHS. Für Menschen mit einer ADHS wirken Substanzen oftmals beruhigend und nicht stimulierend. So können die ADHS-Symptome zum Teil unterdrückt werden. Gerade die innere Unruhe kann so gedämpft werden. Problematisch ist dies für Menschen, deren ADHS noch nicht diagnostiziert wurde. Diese wissen nicht, warum der Konsum eine beruhigende Wirkung auf sie hat.
Jugendliche können in die Berührung mit Substanzen kommen, wenn sie einer Gruppe beitreten. Aspekte sind auch, dass sie oft auf der Suche nach dem «Kick» sind und rebellisch sein können. Das führt dazu, dass sie eher straffällig werden können.
Abhängigkeiten müssen bei Menschen mit ADHS nicht nur an Substanzen gebunden sein. Da Menschen mit ADHS Schwierigkeiten haben, das richtige Mass zu finden, können sich viele Dinge zu einer Obsession verwandeln. Das «Ganz-oder-gar-nicht-Prinzip» ist eine Eigenschaft von der ADHS. Dieses kann sich ebenfalls auf das Essverhalten auswirken. Es kann dazu führen, dass sie möglicherweise nichts Essen oder sie besonders viel Essen. Letztendlich können sie sich bis zum Tod hungern. Erst jetzt erkennt man langsam, dass bei vielen Menschen mit einer Essstörung eine unerkannte ADHS und eine Impulskontrollstörung vorliegt.
Auch zwischen der ADHS und Allergien kann ein Zusammenhang gesehen werden. Dieser kann wissenschaftlich erklärt werden und ist in der Praxis bewiesen: Stress. Dieser schwächt das Abwehrsystem, wodurch es bei einer ADHS häufiger zu Infekten und allergischen Erkrankungen kommt. Stress belastet nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche. Daraus können psychische und psychosomatische Erkrankungen folgen. Informationen werden im Gehirn nicht gefiltert. Die Behandlung einer ADHS wirkt sich somit nicht nur auf die Symptome aus, sondern kann sich ebenso auf allergische Reaktionen auswirken. In einer Beobachtung von Dr. Helga Simchen wurde beobachtet, dass fast jedes 2. Kind allergische Reaktionen aufwies.
ADHS im Erwachsenenalter
Wer als Kind die Diagnose ADHS erhalten hat, zeigt auch als Erwachsener meist entsprechende Symptome - laut neueren amerikanischen Studien sind zwischen 30 bis 50 Prozent der Erwachsenen betroffen.
Menschen mit ADHS - und deren innere Landkarte:
| Die Sonnenseiten | Die Schattenseiten | 
|---|---|
| Sehr gut in der Fehleranalyse, da sie eben alle Aspekte ungefiltert an sich heranlassen, ihnen entgeht somit nichts | Gehirn kann schlecht äussere Reize filtern, d.h. alles strömt auf denjenigen ungefiltert ein, was in dem Moment in der Umgebung passiert: Musik, Telefonate, Gespräche, Gerüche, Tippen auf der Tastatur, Druckergeräusche, Surren der Klimaanlage - einfach alles | 
| Hohe Kreativität und sehr assoziationsstark | Impulsives Verhalten | 
| Enorm hilfsbereit und setzen sich gerne für andere ein, gerade Schwächere | Langeweile und Routineaufgaben sind kaum auszuhalten und werden oft vermieden | 
| Originelle mutige Vordenker und Visionäre, weil sie sich schlecht an Regeln halten können und alles in Frage stellen | Sich selbst zu organisieren kostet viel Energie. Oft werden andere Dinge einfach dazwischengeschoben. | 
| Energiegeladen und aktiv | Alles scheint gleich wichtig zu sein. Der Überblick fehlt für das Setzen von Prioritäten. | 
| Hohe Flexibilität und spontan | Wirken manches Mal müde und unmotiviert | 
| Sehr aufmerksam und neugierig. sie haben ausgeprägte „Antennen“ | Sind sehr leicht abzulenken | 
| Ist etwas wichtig, bleiben sie dran und erbringen herausragende Leistungen | Spüren oft den Drang, aufzustehen, die Sitzposition zu wechseln, einen Kaffee sich zu holen, wippen mit den Füssen, klopfen mit den Fingern auf | 
| Lieben es zu diskutieren, haben deshalb eine hohe Sprachfertigkeit entwickelt | Vergesslich, zerstreut und bekommen manches Mal nicht alles mit | 
| Sind warmherzig, offen, emotional und ehrlich: sie sagen, was sie denken | Kommen oft zu spät und verschätzen sich in ihrer Zeit. | 
ADHS im Berufsleben
Ein Mitarbeiter mit ADHS kann gute, sogar Top-Leistungen erbringen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Minimieren Sie so viele Quellen, die Ablenkung bieten, als möglich ist. Geben Sie klare und strukturiere Vorgaben. Verdeutlichen Sie als Vorgesetzter die Prioritäten der Aufgaben und des Arbeitsbereiches. Benennen Sie eindeutige Kriterien. Grenzen Sie Aufgabenpakete voneinander ab. Besprechen Sie mit dem Mitarbeiter, in welchen Etappen welche Aufgaben und/oder Arbeitsschritte zu erledigen sind. Für wiederkehrende Aufgaben empfiehlt es sich, Checklisten zu erstellen. Checklisten lenken stets den Fokus wieder zurück auf die einzelnen Arbeitsschritte. Auch die Nutzung eines elektronischen Kalenders bietet demjenigen beste Unterstützung.
Ein Mitarbeiter mit ADHS, auf den alles ungefiltert einströmt, erschöpft schneller und stärker als seine Kollegen. Überlegen Sie, ob Sie generell für alle in Ihrem Team und der Abteilung Ruhezonen im Unternehmen einrichten. Solche Ruhezonen sollten wenig Reize bieten, ausser einigen Pflanzen, dezentem Licht und gerne auch Liegemöglichkeiten.
Langatmige Meetings, in denen lange geredet und vielleicht nichts geklärt wird, sind für jeden Mitarbeiter ein Gräuel. Menschen mit ADHS sind in solchen Meetings allerdings komplett überfordert. Eben, weil alles ungefiltert auf sie einprasselt.
Deshalb planen Sie die Meetings klug und kurz:
- Agenda: Fixieren Sie in der Agenda, welche Punkte wie lange besprochen werden.
 - Gezielte Einladung: Legen Sie fest, bei welchen Besprechungspunkten derjenige überhaupt am Meeting teilnehmen muss. Grenzen Sie seine Anwesenheit dadurch gezielt ein.
 - Kommunikation geschickt führen: Stoppen Sie langatmige Diskussionen, in denen von einem Einwand zum nächsten gesprungen wird.