Was oft als übliche Stress- und Erschöpfungssymptome abgetan wird, kann eine tiefere Ursache haben: eine versteckte Neurodivergenz. Es kann sich um eine individuelle Abweichung vom „typischen Gehirn“ handeln, die mit besonderer Anpassungsleistung kompensiert wurde, sodass das eigene Verhalten den Erwartungen des Umfeldes entspricht. Man könnte auch sagen, dass die „Andersartigkeit“ von Kind auf durch das soziale Lernen unterdrückt wurde. Was lange gut funktioniert, kann insbesondere bei leistungsbereiten Menschen irgendwann in einer chronischen Erschöpfung enden und das eigene Leben sich fremd, ermüdend und sinnlos anfühlen.
In diesem Artikel soll aufgezeigt werden, dass es in solchen Fällen nicht darum geht, ein „Defizit“ aufzudecken, sondern die Ressource in der Andersartigkeit zu erkennen. Schon in der frühen Kindheit vergleichen wir uns mit anderen. Zugehörigkeit ist eines unserer Grundbedürfnisse und prägt viele unserer Gedanken, Bewertungen und Handlungen. Sich anzustrengen, um dazuzugehören, gilt als „normal“. Durch diese Mechanismen kann leicht eine versteckte Neurodivergenz entstehen.
Sie bedeutet, dass jemand neurodivergente Persönlichkeitsmerkmale aufweist (z. B. Hochsensibilität, Autismus, ADHS, Hochbegabung etc.). Vermutlich hat sich jede Person schon mal „anders als die Andern“ gefühlt. Es ist ganz natürlich, dass es Menschen gibt, die es lieber laut, leise, bunt, strukturiert oder chaotisch mögen. Der Begriff „Neurodiverstiät“ versucht dem Menschenbild der natürlichen Vielfalt gerecht zu werden. Wir haben also nicht nur unterschiedliche Körper, Gerüche und Vorlieben, sondern auch unsere Gehirne funktionieren unterschiedlich: Neurodivergenz ist also kein Fehler, sondern eine natürliche Vielfalt. Neurodivergente Menschen bereichern unsere Gesellschaft durch ihre einzigartigen Perspektiven und Fähigkeiten. Sie sind oft kreative Köpfe, spezialisierte Fachleute, sorgfältige Planer oder innovative Forscher, auf die wir angewiesen sind.
Die Studie „Hoch(neuro)sensitive Mitarbeitende: Weicheier oder Wunderkinder?“ von Dr. Patrice Wyrsch bestätigt, dass zum Beispiel hochsensible Personen sowohl erhöhte Empathie und Kreativität aufweisen als auch anfälliger für Stress und Burnout sind. Wyrsch unterscheidet dabei zwischen „Vantage-Sensitivität“ (Sonnenseite) und „Vulnerable Sensitivität“ (Schattenseite). Personen mit Vantage-Sensitivität zeigen unter günstigen Bedingungen überdurchschnittliche Leistungen; auch jene mit einer vulnerablen Sensitivität erbringen in förderlichen Arbeitsumgebungen eine leicht höhere Aufgabenleistung als wenig sensitive Mitarbeitende.
Menschen mit leichten neurodivergenten Persönlichkeitsmerkmalen erbringen oft über Jahre erhebliche Anpassungsleistungen, was zu Erschöpfung und weiteren psychischen Problemen führen kann. Sich nicht mehr „falsch“ zu fühlen, sondern eine Gruppe der Zugehörigkeit gefunden zu haben, kann eine stark entspannende Wirkung haben. Und auch unsere Gesellschaft profitiert von dieser Vielfalt, ähnlich wie ein Garten durch Biodiversität an Farbe, Leben und Resilienz gewinnt. Daher ist es essenziell, Offenheit für Diversität zu fördern und unterschiedliche Lern- und Arbeitsformen zu integrieren, um vielfältig, zugänglich, resilient und gesund zu bleiben.
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Viele neurodivergente Menschen erkennen ihre eigene Neurodivergenz erst spät - oft erst, wenn Überlastung, Burnout oder persönliche Krisen sie dazu zwingen, innezuhalten. Besonders Frauen, die über Jahre hinweg leistungsfähig, organisiert und pflichtbewusst gelebt haben, nehmen ihre Neurodivergenz lange nicht wahr, weil sie sich unbewusst perfekt an ihre Umwelt angepasst haben. Deswegen ist wichtig, früh auf Zeichen von anhaltenden Stresssymptomen zu achten, um den eigenen Bedürfnissen mehr Raum zu schenken.
Und genau hier beginnt der Weg: Es geht oft nicht darum, eine Diagnose zu haben, sondern darum, sich selbst besser kennenzulernen, alte Muster zu entlarven und bewusste Entscheidungen für ein erfüllendes Leben zu treffen. Hast du dich selbst in diesen Punkten wiedergefunden? Viele neurodivergente Menschen haben ein Leben lang gelernt, sich anzupassen, um dazuzugehören. Wenn jemand schon früh in der Kindheit lernt, die eigenen Emotionen zu kontrollieren, sich nicht von lauten Geräuschen oder grellem Licht irritieren zu lassen und Gespräche zu führen die als „normal gelten“, obwohl sie diese eigentlich erschöpfen, so wird diese Person zur Expertin darin, „normal“ zu wirken - mit freundlichem Lächeln und kontrollierter Körpersprache. Doch innerlich kostet jede Interaktion enorme Energie. Solche Anpassungsmuster führen oft dazu, dass Betroffene sich jahrelang unverstanden und erschöpft fühlen, ohne zu wissen, warum. Unterdrücken wir unsere Natur übermässig, so sind wir in einer Überanpassung und belasten unser Nervensystem auf Kosten unserer Gesundheit.
Aus Sicht der Entwicklungspsychologie kann eine Überanpassung, insbesondere in der Kindheit, dazu führen, dass Kinder ihr Gefühl für Authentizität verlieren. Kinder, die ständig versuchen, den Erwartungen ihrer Umwelt gerecht zu werden, entwickeln möglicherweise Verhaltensmuster, die nicht ihrem wahren Selbst entsprechen. Der Psychologe Carl Rogers betont in seiner personenzentrierten Theorie welche in der Psychotherapie weit verbreitet ist, dass jeder Mensch ein Selbstkonzept entwickelt - ein Bild von sich selbst, geformt durch Erfahrungen und die Wahrnehmung durch andere. Wenn dieses Selbstkonzept nicht mit dem eigenen Erleben und Fühlen übereinstimmt, entsteht eine Diskrepanz, die zu inneren Spannungen und Unzufriedenheit führt. Rogers nennt diesen Zustand Inkongruenz. Möchte ein Mensch psychisches Wohlbefinden erreichen, ist es essenziell, dass das Selbstkonzept mit dem eigenen Erleben im Einklang steht.
Dies erfordert, die eigenen Bedürfnisse und Gefühle anzuerkennen und auszudrücken, und sich ein sinnerfülltes authentisches Leben zu gestalten. Wer ein Leben lang gelernt hat, sich anzupassen, braucht oft zuerst Zeit, um sich selbst wieder bewusst zu begegnen. Die biografische Aufarbeitung und das Bewusstsein, dass nichts an der eigenen Art zu fühlen oder zu denken falsch sei, ist ein entscheidender Schlüssel. Doch wie kommt man zu einem Leben, das einem entspricht? Hier kommt uns der aktuelle Trend zur Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung sehr entgegen. Wir werden in spirituellen Büchern und in Social Media wohl täglich dazu eingeladen, das Leben als sinnhafte, lebendige und bunte Erfahrung zu sehen und sich ein Leben zu gestalten, das sich nährend und authentisch anfühlt. Eine Lebensvision zu entwickeln die anziehend ist, ist aus meiner Sicht der wichtigste Punkt, weil diese Arbeit bereits am Anfang des Weges als Ressource zur Verfügung steht.
Wer ein Leben lang gelernt hat, sich anzupassen, braucht oft zuerst Zeit, um sich selbst tiefer wahrzunehmen und ein Verständnis für die eigenen Erfahrungen, Gefühle und Bedürfnisse zu entwickeln. Dieser Weg ruft uns auf, achtsam zu sein mit den eigenen Wahrnehmungen und vielleicht auch verborgene Teile der Vergangenheit aufzuarbeiten um zu erkennen, wo wir zu sehr in eine Anpassung waren und wieso. Mit Mut und Neugierde gelingt es, Bereiche im Leben zu erspüren, die erfüllend sind und bisher vielleicht völlig brach lagen. Eine Begleitung lohnt sich, wenn du dich blockiert oder verwirrt fühlst und aktuell gerade all die Veränderungen und Baustellen überfordern. Eine gesunde Welt ist bunt und vielfältig, das ist meine Überzeugung.
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Psychologische Begleitung kann neurodivergente Menschen sehr wirkungsvoll und nachhaltig dabei unterstützen, ihre einzigartigen Fähigkeiten zu erkennen, zu fördern und im Alltag zu integrieren. Die IKP-Methode basiert auf dem Prinzip der Salutogenese und geht nicht davon aus, dass mit einem Menschen ‚etwas nicht stimmt‘. Im Gegenteil - sie hilft jedem, die Kraft in seiner Einzigartigkeit zu erkennen und ein Leben zu gestalten, das ihn trägt.
Frau Mürner-Lavanchy, Sie forschen über ein neues Störungsbild bei Kindern. Der Diagnose Disruptive Mood Dysregulation Disorder, kurz DMDD, liegt eine Störung der Emotionsregulation zugrunde. Diese Kinder sind leicht reizbar, sehr impulsiv, was sich in regelmässigen Wutausbrüchen entlädt. Ines Mürner-Lavanchy ist Entwicklungsneurowissenschaftlerin und Postdoktorandin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Bern. Sie interessiert sich unter anderem für die Emotionsregulation im Kontext psychischer Erkrankungen. Diese Beschreibung dürfte einigen Eltern insbesondere von jüngeren Kindern bekannt vorkommen.
Höchstwahrscheinlich nicht. Die Kriterien für die Diagnose DMDD sind sehr hoch angesetzt. So müssen die Wutausbrüche ein Jahr und länger und mindestens dreimal pro Woche stattfinden. Am häufigsten wird die Diagnose bei den Sechs- bis Neunjährigen gestellt. Dort geht man davon aus, dass drei von 100 Kindern betroffen sind. Dabei beziehen wir uns auf Erhebungen aus den USA. Bei den Neun- bis Zwölfjährigen sind es, je nach Studie, ein bis drei Prozent.
Aufgrund anderer diagnostischer Konzepte in Europa dürften hierzulande jedoch weniger Kinder diese Diagnose gestellt bekommen als in den USA. Im Vorschulalter kann man davon ausgehen, dass Wutausbrüche, sogar mehrmals am Tag, völlig altersentsprechend und normal sind. Das ist richtig. Die Impulsivität nimmt entwicklungspsychologisch vom Kindes- zum Jugendalter hin ab und die kognitive Kontrolle über Affekte und Impulse nimmt zu. Man geht davon aus, dass sich zuerst die Fähigkeit zur Inhibition, des Sich-zurückhalten-Könnens, und dann mit der Zeit die kognitive Anpassungsfähigkeit ausbildet. Schon im Kleinkindalter merkt ein Kind: Mama sagt ständig Nein, jetzt tue ich dieses oder jenes nicht, obwohl ich grosse Lust dazu habe. Im Kindergarten sind dann bestimmte Regeln zu befolgen, die Forderungen der Gesellschaft nehmen zu. Und ein Kind schafft es mehr und mehr, die Situation, die nicht dem entspricht, was es sich vorgestellt hat, auszuhalten beziehungsweise seine Wünsche und Bedürfnisse anzupassen.
Stellen Sie sich vor, Ihre Tochter soll die Hausaufgaben machen. Sie versprechen ihr ein Eis, wenn sie die Aufgaben zügig und sorgfältig erledigt. Ihre Tochter freut sich darauf. Dann merken Sie aber, dass Sie gar kein Eis mehr im Haus haben, und bieten ihr stattdessen einen Keks an. Die Tochter willigt ein. Ein Keks ist zwar nicht das, was sie sich erhofft hat, aber auch okay. Bei vielen psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter wie ADHS oder oppositionellem Trotzverhalten, bei dem Kinder sehr empfindlich sind und schnell verärgert reagieren, spielen Probleme in der Affektregulation eine Rolle, so auch bei DMDD. Alle Kinder müssen lernen, mit Frustrationsmomenten umzugehen, nicht wütend zu werden, wenn sie etwas nicht bekommen oder ihrem Wunsch nicht sofort entsprochen wird. Es gibt noch nicht viele Studien dazu, aber es wurden in der Psychopathologie immer wieder ähnliche Problematiken gefunden.
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Meist sind es verschiedene Situationen in der Familie, die Stress auslösen: familiäre Belastungen, zwischenmenschliche Schwierigkeiten, Traumata, beispielsweise ausgelöst durch den Tod eines Familienmitgliedes, die Trennung der Eltern. Solche stressauslösenden Situationen können sich auf die Entwicklung eines Kindes auswirken. Das ist richtig. Ja, das ist anzunehmen. Das Zusammenspiel der Gene und der Umwelt spielt eine Rolle. Was man gesehen hat, ist, dass Kinder mit DMDD häufig aus Familien kommen, in denen bei den Eltern auch andere affektive Störungen vorhanden sind, Depressionen, Angststörungen.
Aufgrund der Forschung bei verwandten Störungen nehmen wir an, dass es einen Kreislauf gibt. Die Kinder erleben immer wieder Frustrationen und schaffen es nicht, diese zu regulieren. Darüber hinaus sieht man bei diesen Buben und Mädchen eine erhöhte Tendenz dazu, Bedrohungen oder negative Reize wahrzunehmen. Sie erleben viel Frustration und suchen sich fast selektiv aus ihrem Umfeld Reize aus, die sie negativ beeinflussen. Und das gibt dann einen Kreislauf, der zu noch mehr Frustration und Aggression führen kann.
Während meiner Tätigkeit als klinische Neuropsychologin ist mir ein Fall begegnet, bei dem ich im Nachhinein wahrscheinlich von einer DMDD ausgehen würde. Die Eltern sind mit ihrer fast siebenjährigen Tochter für eine umfangreiche neuropsychologische Diagnostik im Rahmen der Einschulung zu mir gekommen. Der Einschulung sahen ihre Kindergärtnerinnen, die Ergotherapeutin und die Logopädin kritisch entgegen. Sie hatte die Diagnose ADHS, Aufmerksamkeitsprobleme, aber auch Wahrnehmungsschwierigkeiten und andere kognitive Auffälligkeiten. Weder Eltern noch Lehrpersonen oder Schulpsychologen konnten sagen, was mit dem Kind eigentlich los ist. Das Mädchen war dauerhaft traurig und leicht reizbar, hatte viele und schwerwiegende Wutausbrüche - in den unpassendsten Situationen, wie die Mutter berichtete. Sie war auch nicht beliebt, hat nirgends richtig Anschluss gefunden.
Es ist mir wichtig, zu betonen, dass diese Kinder nichts falsch machen. Es ist nicht abschliessend geklärt, ob diese Kinder per se Schwierigkeiten im Sozialkontakt haben oder ihre gedrückte Stimmung und die Wutausbrüche andere Kinder abschrecken und sie dadurch als Spielpartner nicht attraktiv sind. Ein Verhalten, das sicher auch für die Eltern belastend ist. Wenn der Zweijährige sich schreiend auf den Boden wirft, zeigt das Umfeld meist Verständnis, auch noch bei einem VierJährigen.
Da haben Sie recht. Diese Kinder, die mit sieben oder acht Jahren die Diagnose DMDD bekommen, zeigen in der Regel von klein auf ein Temperament, das in diese Richtung geht. Meist wird das zu Hause in den Familiensystemen noch ertragen, aber dann zum Problem, wenn das Kind in den Kindergarten oder die Schule kommt und in diesem System ständig aneckt und sich nicht anpassen kann. Vorhin erwähnten Sie, dass die Altersgruppe der Sechs- bis Neunjährigen am meisten betroffen ist. Danach nimmt die Häufigkeit ab.
Leider nein. Die Symptome lassen nach, aber die Probleme für das Individuum nehmen dadurch nicht ab. Die Wutanfälle an sich sind nicht mehr so schlimm, aber es gibt ein erhöhtes Risiko für Probleme im sozialen wie auch im gesundheitlichen Bereich und in Bezug auf das Risikoverhalten, was sich bis zum Erwachsenenalter durchzieht. Ausserdem besteht eine erhöhte Anfälligkeit für affektive Störungen wie Depressionen oder Angststörungen. Da es noch keine spezifisch für diese Störung entwickelten Behandlungen gibt, orientiert man sich bislang eher an Bausteinen vorhandener Psychotherapieverfahren, beispielsweise aus den Programmen für Kinder mit ADHS oder aus der dialektisch-behavioralen Therapie. Das ist richtig.
Die Eltern werden immer in die Psychotherapie miteinbezogen und gecoacht. Ein wichtiger Aspekt ist die Vermittlung von Wissen über Emotionen und die emotionale Entwicklung. Und dann die praktische Seite: Wie verhält man sich im Falle eines Wutanfalls? Wie begleite ich mein Kind da durch? Welche Strategien gibt es für mich als Mutter oder Vater, um die Nerven zu bewahren? Das sind Fragen, die in einem solchen Eltern-Coaching besprochen werden. Und ich möchte es noch einmal betonen: Um eine solche Diagnose zu bekommen, müssen sehr schwere Ausprägungen dieser Symptome vorliegen. Da reicht es nicht, wenn ein Achtjähriger von Zeit zu Zeit einen Wutanfall hat. Aber auch diese Situationen müssen gemeistert werden.
Deren Kinder nicht an einer solch ausgeprägten Symptomatik leiden? Wichtig scheint mir, die Situation, so wie sie ist, zu akzeptieren, als normal hinzunehmen. Als mein Sohn die ersten Trotzanfälle hatte, war ich erst auch etwas verblüfft und irritiert, habe mich in manchen Situationen umgeschaut und gefragt, wer das jetzt mitbekommt. Das ist anstrengend und mühsam. Auch ein Erwachsener darf wütend werden. Mir persönlich hilft da mein Hintergrundwissen: Das Kind lernt gerade Emotionen zu regulieren. Das ist ein wichtiger Entwicklungsschritt. Es darf jetzt wütend sein! Und ich signalisiere ihm, dass ich es ernst nehme und mich nicht abwende. Und ich lasse meinen Sohn auch mal toben, ohne zu versuchen, dieses Verhalten gleich zu unterbinden, was auch mir bei Weitem nicht immer gelingt. Auch ein Achtjähriger oder eine Neunjährige darf wütend werden, auch ein Erwachsener darf das.
Aber ist es nicht sehr schwer, eine DMDD zu diagnostizieren? Sie haben recht. Es gibt andere Entwicklungsauffälligkeiten beziehungsweise Diagnosen, die solche Wutanfälle auslösen können, beispielsweise die Autismus-Spektrum-Störung. Daher wird bei einer Abklärung auf DMDD genau geschaut, dass diese Symptome keine anderen neurologischen oder somatischen Ursachen haben. Kinder, die eine DMDD diagnostiziert bekommen, haben meist auch eine andere Störung.
Richtig, wobei diese weniger häufig auftreten. Diese Kinder sind auch leicht reizbar. Doch dieses Symptom der Reizbarkeit ist für die Diagnose nicht notwendig - für DMDD aber schon. Das heisst, die Kinder, die DMDD haben, leiden oft auch unter einer Störung des oppositionellen Trotzverhaltens, weil dort weniger Kriterien erfüllt sein müssen. Aber umgekehrt gilt das nicht. Disruptive Mood Dysregulation Disorder (DMDD) ist die diagnostische Einordnung für hoch impulsive und emotional dysregulierte - also extrem schwierige - Kinder. Erfasst werden sollen die stark schwankenden Symptome der schweren Wutausbrüche und des depressiven Rückzugs.
Dieses Handbuch der American Psychological Association (APA) zur Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen wurde lange Jahre aufwändig überarbeitet, um neue Kategorien und Diagnosen aufzunehmen, die z.T. Die Ergebnisse werden in der Fachwelt zum Teil kontrovers diskutiert. So auch DMDD. Das Empfinden darüber, welches Verhalten den Familienalltag stark belastet, ist sicher unterschiedlich. Was ist ein schwerer Wutanfall? Auch Lehrer und Therapeuten können Situationen unterschiedlich einschätzen. Und auch wie stark die Belastung vom Kind selbst wahrgenommen wird, ist verschieden. Bei der Diagnosestellung werden in der Regel diagnostische Leitlinien befolgt, in denen die Kriterien für eine bestimmte Störung aufgelistet sind.
Man kann dieses Schubladensystem kritisieren, doch für Kinder kann es erleichternd sein, die richtige Diagnose zu bekommen. Was Kinder heute in der Gesellschaft leisten und wie sie sich anpassen müssen, ist ein grosses Thema. Aber die Kinder, über die wir hier sprechen, haben wirklich Schwierigkeiten. Sehen Sie, vor einigen Jahren ist in den USA die Rate an bipolaren Störungen bei Kindern explosionsartig angestiegen, weil man für diese Symptomatik keine bessere Schublade gefunden hat, um in ihrem Bild zu bleiben, als die bipolare Störung. Doch später stellte man fest, dass DMDD wenig mit der bipolaren Störung zu tun hat und die Kinder teilweise sogar falsch behandelt wurden. Auch wenn man dieses Schubladensystem in seiner Ganzheit kritisieren kann, konnten Studien zeigen, dass es für Kinder auch hilfreich, sogar erleichternd sein kann, die richtige Diagnose zu bekommen.
Hochsensibilität ist kein modernes Phänomen, sondern ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal, das schon immer Teil menschlicher Vielfalt war. «Man hat es nur lange nicht so genannt», erklärt Martin Bertsch, Coach und Experte für Hochsensibilität. Die Forschung geht davon aus, dass Hochsensibilität biologisch mit einer besonders feinen Reizverarbeitung im Nervensystem zusammenhängt. «Hochsensible sind Seismographen für gesellschaftliche Entwicklungen. Hochsensibilität ist dabei nicht einheitlich ausgeprägt. «Die Digitalisierung spielt uns Hochsensiblen nicht gerade in die Karten», sagt Bertsch.
Ob jemand seine Hochsensibilität als Geschenk oder Last erlebt, hängt letztlich auch von der eigenen Resilienz und der Fähigkeit zur Selbstregulation ab - und von der Frage, wie gut das Umfeld mit dieser besonderen Art der Wahrnehmung umgehen kann. Die Grenzen zwischen Hochsensibilität, ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen oder auch stressbedingten Zuständen wie Burn-out sind oft fliessend. «Bei allen Formen ist Überstimulation ein zentrales Thema», sagt Coach Martin Bertsch. Während Hochsensibilität eine angeborene Veranlagung ist, ist ein Burn-out die Folge einer chronischen Überlastung und unzureichenden Stressbewältigung. «Burn-out ist kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern ein Erschöpfungszustand», so Bertsch.
Auch bei ADHS und Autismus gibt es Überlappungen, etwa in der Wahrnehmung von Reizen, der Reizfilterung oder im sozialen Verhalten. Hinzu kommt: Wer psychisch oder körperlich geschwächt ist - etwa durch Krankheit, Verlust oder existenzielle Krisen -, kann vorübergehend eine erhöhte Empfindsamkeit entwickeln. «Ob ich sensibel bin, hängt auch von meinen inneren Puffern ab», sagt Bertsch. Deshalb ist eine saubere Differenzialdiagnose wichtig - vor allem, wenn Menschen mit hoher Empfindsamkeit belastet sind oder Unterstützung suchen. «Das ist die Krux: Hochsensibilität ist keine Krankheit - aber wenn ich denke, ich sei einfach nur sensibel, obwohl ich eigentlich depressiv bin, wird es problematisch», sagt Bertsch.
Tabelle: DMDD Diagnose Häufigkeit
| Altersgruppe | Betroffene Kinder (USA) | 
|---|---|
| 6- bis 9-Jährige | 3 von 100 | 
| 9- bis 12-Jährige | 1 bis 3 Prozent (je nach Studie) | 
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