ADHS, also Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, wird oft mit Kindern in Verbindung gebracht, aber immer mehr Erwachsene erhalten diese Diagnose. ADHS kann ein Leben lang andauern, doch die Symptome bei Erwachsenen sind oft weniger auffällig als bei Kindern (6-17 Jahre), obwohl sie genauso wichtig sind. Die Erkennung von ADHS bei Erwachsenen kann schwierig sein, da die Symptome komplex und oft mit anderen Störungen überlappend sind.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine psychische Veranlagung (lifelong condition), welche sich im Kindesalter bemerkbar macht und über das Adoleszentenalter hinaus bei vielen Betroffenen auch im Erwachsenenleben bestehen bleibt. Es wird davon ausgegangen, dass im Kindes- und Jugendalter vorhandene ADHS-Symptome in 50 - 80 % der Fälle auch im Erwachsenenalter fortdauern. Daraus ergeben sich Prävalenzraten bei Erwachsenen zwischen 2.5 und 5 %. Weltweit sind rund 3.4 % der Bevölkerung an ADHS erkrankt.
Symptome von ADHS im Erwachsenenalter
Die Symptome von ADHS unterliegen einer Entwicklung parallel zum Alter der Betroffenen. So sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität auch bei Erwachsenen mit ADHS die Hauptsymptome, jedoch kommt es zu gewissen Änderungen ihrer Ausprägung.
- Unaufmerksamkeit: Gekennzeichnet durch erhöhte Ablenkbarkeit und die Schwierigkeit, lange zuzuhören. Weitere Probleme sind das Einteilen der Zeit, die Selbstorganisation («Hinausschieberitis») und das Abschliessen von Aufgaben. Die Person vermeidet auch intuitiv Aufgaben mit langer Aufmerksamkeitsbelastung.
 - Hyperaktivität: Die motorische Unruhe der Kinder und Jugendlichen wird in den meisten Fällen ersetzt durch eine «innere Unruhe» bei der erwachsenen Person.
 - Impulsivität: Hier stehen Ungeduld und das Vermeiden von langen Veranstaltungen im Vordergrund. Sie trifft unüberlegte Entscheidungen, ohne an die Konsequenzen zu denken. Es geht der Person primär darum, etwas schnell zu erledigen; Details werden häufig übersehen.
 
Zusätzlich zu den Hauptsymptomen der ADHS kommen im Erwachsenenalter weitere hinzu wie beispielsweise Desorganisation im Lebensalltag, schnelle Stimmungswechsel, Stressüberempfindlichkeit und Schwierigkeit bei der Temperamentskontrolle.
Andere mögliche Symptome von ADHS bei Erwachsenen sind chronisches Zuspätkommen, schlechtes Organisationstalent, das Vermeiden von Aufgaben oder Projekten, die eine dauerhafte Konzentration erfordern, Stimmungsschwankungen, Schwierigkeiten im Umgang mit Wut, Beziehungsprobleme und ein geringes Selbstwertgefühl, weil man ein Leben lang mit Enttäuschungen und Misserfolgen zu kämpfen hatte.
Lesen Sie auch: Kleinkind-ADHS: Worauf achten?
Diagnosekriterien nach DSM-5 und ICD-10
Für ADHS unterscheiden sich die Symptomkriterien leicht zwischen den beiden bedeutendsten Diagnosesystemen, dem ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem DSM-IV der American Psychiatric Association (APA). Die Symptome führen zu Beeinträchtigungen in mindestens zwei Lebensbereichen (z.B. Schule / Arbeit und Freizeit). Die Symptomatik muss vor dem 12.
- ICD-10: Im ICD-10 wird ADHS als „Hyperkinetische Störung“ bezeichnet und umfasst drei Kernsymptome. Laut ICD-10 müssen diese Symptome über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten bestehen und in mehr als einer Umgebung (z.B. Schule und Zuhause) auftreten. Die Diagnose verlangt, dass die Symptome in einem für das Alter und Entwicklungsniveau unangemessenen Mass vorhanden sind. Unruhe, z.B. Schwierigkeiten, Impulse zu kontrollieren, z.B.
 - DSM-IV: Das DSM-IV unterteilt ADHS in drei Subtypen. Im DSM-IV müssen mindestens sechs Symptome aus den jeweiligen Kategorien für mindestens sechs Monate bestehen und die Entwicklung beeinträchtigen. Die Symptome müssen in mindestens zwei Lebensbereichen auftreten (z.B. Zuhause und Schule/Arbeit), um die Diagnose zu rechtfertigen. Schwierigkeiten, Impulse zu kontrollieren, z.B. Unterbricht und stört häufig (platzt z. B.
 
Zentral für die Diagnose ist nach DSM-5 (die fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), dem amerikanischen Diagnoseinstrument, der Nachweis von 18 diagnostischen Kriterien (Tabelle 1). Zusätzlich muss nachgewiesen werden, dass einzelne Symptome von ADHS bereits vor dem 12. Lebensjahr bei der betreffenden Person vorhanden waren. Weiter sollen in mehr als einem Lebensbereich die mit ADHS verbundene Auffälligkeiten erkennbar sein.
Ablauf der ADHS-Abklärung
Eine ADHS-Abklärung ist komplex. Es braucht ca. 4 bis 6 Sitzungen, die vor Ort und online stattfinden können. In der Regel läuft eine Abklärung für Erwachsene folgendermassen ab:
- Erstgespräch (Anamnese)
 - Strukturiertes Interview 1 (Anamnese / Diva)
 - Strukturiertes Interview 2 (Diva)
 - Ev. Folgesitzung(en)
 - Auswertungs-Gespräch
 
Parallel werden Selbstbeurteilungs- und Fremdbeurteilungsfragebögen ausgefüllt. Des weiteren müssen somatische Einflüsse wie Vitamin B12-Mangel, Eisen-Mangel, Schilddrüsen-Problematik etc. ausgeschlossen werden.
Diagnostische Verfahren
Die Diagnose von ADHS bei Erwachsenen erfordert den Einsatz komplexer Diagnoseverfahren, die verschiedene Bewertungsmethoden kombinieren. Klinische Interviews, Fragebögen, Verhaltensbeobachtungen, neuropsychologische Tests, Tests zur Erhebung des Intelligenzniveaus und Differentialdiagnosen bilden die Grundlage des modernen Ansatzes zur Erkennung dieser Störung.
Lesen Sie auch: Unterstützung für ADHS Betroffene in Freiburg
Strukturierte Interviews und Fragebögen
- DIVA-5: Der DIVA-5, kurz für „Diagnostic Interview for ADHS in adults, 5th edition“, ist ein strukturiertes klinisches Interview, das speziell entwickelt wurde, um die Diagnose von ADHS bei Erwachsenen zu unterstützen. Der Test basiert auf den Kriterien des DSM-5 und deckt sowohl die Kindheit als auch das Erwachsenenalter ab. Er hilft Fachleuten, die Symptome und ihre Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche detailliert zu bewerten.
 - WURS-k: Der WURS-k, der „Wender Utah Rating Scale, Kurzform“, ist ein Fragebogen, der entwickelt wurde, um retrospektiv die Symptome von ADHS in der Kindheit zu bewerten. Er wird oft bei Erwachsenen eingesetzt, um Hinweise auf das Vorliegen von ADHS in ihrer Kindheit zu ermitteln. Der WURS-k umfasst eine Reihe von Fragen, die sich auf Verhaltensweisen und Probleme beziehen, die typischerweise bei Kindern mit ADHS auftreten.
 - CAARS-L:FB: Der CAARS-L:FB, „Conners‘ Adult ADHS Rating Scales, Long Version: Full Version“, ist ein Fremdbeurteilungsbogen. Er wird verwendet, um von einer anderen Person, wie einem Familienmitglied, Freund oder einer Fachperson, Informationen über die ADHS-Symptome eines Erwachsenen zu sammeln.
 - CAARS-L:SB: Der CAARS-L:SB ist die Langversion des Conners‘ Adult ADHS Rating Scales - Self-Report. Diese umfassende Version des Fragebogens ermöglicht eine detaillierte Selbstbeurteilung verschiedener Symptome und Verhaltensweisen, die mit ADHS bei Erwachsenen in Verbindung stehen.
 - WR-SB: Der WR-SB, der „Wender-Reimherr-Selbstbeurteilungsfragebogen“, ist ein kurzer Selbstbeurteilungsbogen, der zur Bewertung der Symptomatik von adultem ADHS dient. Er verwendet die Utah-Kriterien zur Beurteilung und ist eine ökonomische Alternative zu anderen umfangreicheren Instrumenten.
 - ADHS-DC: Die ADHS-Diagnostische Checkliste (ADHS-DC) ist eine Fremdbeurteilungsskala, die auf den 18 diagnostischen Kriterien des DSM-IV und der ICD-10-Forschungsversion basiert. Sie wird von Experten verwendet, um Symptome von ADHS bei Erwachsenen zu bewerten. Die ADHS-DC hat zwei Versionen: In der ersten Version werden die Symptome als vorhanden oder nicht vorhanden bewertet.
 - BSCL: Die BSCL, die „Brief-Symptom-Checklist“, ist ein psychologischer Test, der darauf abzielt, die subjektive Beeinträchtigung einer Person durch psychische und körperliche Symptome zu erfassen. Sie richtet sich an Erwachsene und Jugendliche, bei denen eine signifikante psychische Belastung vermutet wird, und wird in klinischen, rehabilitativen sowie ambulanten Not- und Beratungsdiensten eingesetzt.
 - SCID-5-SPQ: Das SCID-5-SPQ, kurz für „Structured Clinical Interview for DSM-5® Disorders - Screening Personality Questionnaire“, ist ein Screening-Fragebogen für Persönlichkeitsstörungen nach den Kriterien des DSM-5. Er wird verwendet, um rasch und effizient Anzeichen für eine Reihe von Persönlichkeitsstörungen zu identifizieren.
 
Ursachen von ADHS
ADHS geht von einer Fehlfunktion zentraler Neurotransmittersysteme aus. Das bedeutet, dass im Zwischenraum zweier Nervenzellen nicht ausreichend Botenstoffe zur Verfügung stehen. Diese Unterversorgung führt zu einer Dysfunktion des Gehirns. Diese Fehlfunktion betrifft jene Bereiche des Gehirns, wo sich das Aufmerksamkeitssystem befindet.
- Genetische Faktoren: Als Ursache gelten genetische Faktoren und ein Ungleichgewicht der Botenstoffe (Neurotransmitter). Die Art und Weise, wie ADHS vererbt wird, ist jedoch sehr komplex und hängt nicht mit einem einzigen genetischen Faktor zusammen.
 - Ungleichgewicht der Neurotransmitter: Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit ADHS ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter im Gehirn haben und/oder dass diese Botenstoffe nicht richtig funktionieren. So wird zum Beispiel Dopamin und Noradrenalin von der sendenden Synapse zu stark zurückgenommen (Reuptake), so dass zu wenig von diesen Botenstoffen im Synapsenspalt vorhanden ist. Diverse ADHS-Medikamente setzen dort an und blockieren diesen Reuptake weitestgehend.
 - Umwelteinflüsse: Ungünstige Umgebungsbedingungen können das Risiko erhöhen, an ADHS zu erkranken. Hierzu gehören perinatale Komplikationen, niedriges Geburtsgewicht, instabile Familienverhältnisse ohne Struktur, eine Belastung mit Suchtkrankheiten und weitere Faktoren.
 
Behandlungsmöglichkeiten
Primäres Ziel der Behandlung von ADHS ist die Verminderung des subjektiven Leidensdrucks sowie die Erhöhung der Lebensqualität. Hierzu gibt es diverse Therapiemöglichkeiten, welche einzeln oder auch kombiniert angewandt werden können.
- Psychoedukation: Die Psychoedukation teilt sich auf in Aufklärung, Beratung und Führung. Dabei werden die Patienten und gegebenenfalls ihr unmittelbares Umfeld über das Störungsbild informiert.
 - Medikamentöse Therapie: Zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen sind in der Schweiz Medikamente mit den Wirkstoffen Methylphenidat, Dexmethylphenidat, Lisdexamfetamin und Atomoxetin zugelassen.
 - Weitere Therapieansätze: Es werden verschiedene Konzepte mit unterschiedlichen Schwerpunkten angeboten. Inhaltlich sind aber einige Gemeinsamkeiten wie der Umgang mit Desorganisiertheit, Verbesserung der Aufmerksamkeit oder auch Impulskontrolle vorhanden. Es geht in erster Linie darum, den Umgang mit der Symptomatik zu erlernen und zu festigen.
 
Da ADHS bei Erwachsenen meist mit einer oder mehreren anderen Störungen wie Stimmungsschwankungen, Angstzuständen, Depressionen oder Schlaflosigkeit einhergeht, können zusätzliche Medikamente oder eine ärztliche Überweisung helfen, um eine medizinische Ursache für die Symptome auszuschliessen.
Die Rolle der Psychiatrie Baselland
In der Spezialsprechstunde AD(H)S im Erwachsenenalter der Psychiatrie Baselland finden Betroffene umfassende Diagnostik und Beratung. Zudem gibt es eine Psychoedukative AD(H)S-Gruppe für Betroffene. Die Psychiatrie Baselland bietet bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, AD(H)S im Erwachsenenalter im Zentrum für Psychische Gesundheit in Binningen spezialisierte diagnostische Abklärungen eine Psychoedukative AD(H)S-Gruppe an.
Oft wird AD(H)S nicht erkannt, weil es von Kompensationsstrategien der Betroffenen überdeckt wird. Betroffene meiden nicht selten Aufgaben und Aktivitäten, bei welchen die Probleme offensichtlich würden. Die Betroffenen halten oft andere psychischen Beschwerden für die Ursache ihres Leidens. Eine AD(H)S-Abklärung erfolgt nicht selten erst nach Jahren.
Lesen Sie auch: Lernerfolg steigern
Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit
Ja, denn eine AD(H)S im Kindes- und Jugendalter kann im Erwachsenenalter fortbestehen und muss möglicherweise weiter behandelt werden. Umgekehrt stellt sich oft heraus, dass eine erwachsene Person ihre AD(H)S schon im Kindesalter hatte. Darum ist eine Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie gegeben.
Wichtiger Hinweis: Alle vom Verein bereitgestellten Informationen basieren auf sorgfältiger und fundierter Recherche. Dennoch ersetzen sie keinesfalls die medizinische Diagnose oder Behandlung durch einen Facharzt. Nur qualifizierte Fachpersonen können eine zuverlässige Diagnose stellen und die passende Therapie einleiten.
tags: #ADHS #Diagnose #Erwachsene #Kriterien