Ob im beruflichen oder im privaten Umfeld - immer wieder sind wir Situationen ausgesetzt, in denen uns das Verhalten unseres Gegenübers ärgert oder provoziert. Da gibt es Menschen, die nicht zuhören können oder permanent Grenzen überschreiten und sich dabei selbst in den Mittelpunkt stellen. Andere wiederum versuchen immer wieder auf unangenehmste Art und Weise ihre Macht auszuleben. Diese Menschen rauben uns unsere Energie.
Sympathie und positives Denken
Der steigende Leistungsdruck lässt vergessen, wie wichtig Sympathie ist und wie man sie gewinnt. Freundlichkeit kostet nichts, bringt aber viel. Freundlichkeit reduziert die Arbeit nicht, macht sie aber angenehmer.
Die sympathische Einstellung fällt dem Vorgesetzten schwer, wenn ihn ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin enttäuscht, wenn Kritik nötig ist, wenn Pannen auftreten oder wenn die vereinbarten Ziele nicht erreicht werden. Auch Konflikte sind eine grosse Hürde - wie soll der Vorgesetzte in dieser Situation Sympathie signalisieren? Wer trotzdem positiv denkt, wird es leichter haben.
Zwei Grundsätze
Es kommt also auf die Wahrnehmung an: Wie sehe ich ein Problem? Kann ich es positiv verarbeiten? Positiv denken heisst, positiv wahrnehmen. In dieser Situation kann auch bei negativer Ausgangslage ein freundliches Verhalten möglich sein.
Auch bei schwierigen Mitarbeitern Sympathie zu wecken, mag nicht einfach sein. Anderseits hilft Sympathie dem persönlichen Image des Vorgesetzten. Man muss sich nur mal vorstellen, der Vorgesetzte wäre Verkäufer und unsympathisch. Seine Kunden würden sich abwenden. In der Kommunikation mit den Mitarbeitern wird Sympathie deutlich.
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Für kommunikationsfreundliches Verhalten gibt es zwei Grundsätze:
- Mitarbeitende ohne Rücksicht auf Sympathie akzeptieren.
 - Kritische Bewertungen von Ergebnissen vermeiden.
 
Grundsatz 1: Akzeptieren
Jemanden zu akzeptieren, bedeutet nicht, ihn zu mögen. Es heisst lediglich: die Kommunikation mit ihm ohne negative Vorbehalte beginnen, ihn also nicht abwerten, ihm so viel Vertrauen entgegenbringen wie jedem anderen auch und ihn nicht von vornherein negativ betrachten. Das wird aber nur gelingen, wenn man sich darüber im Klaren ist, dass bei jeder menschlichen Begegnung Vorurteile im Spiel sind. Durch die akzeptierende Grundhaltung vermeidet man, dass ein Prozess gegenseitiger Ablehnung entstehen kann. Das geschieht, wenn sich Menschen nicht akzeptiert, herabgesetzt, verletzt oder bedroht fühlen. Albert Einstein hat einmal gesagt: «Es ist leichter, ein Stern zu zertrümmern, als ein Vorurteil zu ändern.»
Grundsatz 2: Vermeiden
«Werturteile sind nie Wahrheiten, sondern Wünsche, die wahrgemacht werden sollen», gibt Marcuse zu bedenken. Trotzdem neigen wohl die meisten dazu, ihre Werturteile als Wahrheiten zu betrachten. In der Diskussion führt diese Haltung dazu, dass die eigene Meinung mit viel Sendungsbewusstsein und entsprechend grossem stimmlichen Aufwand verbreitet wird und Einwände, Bedenken und Vorschläge anderer sofort abgewertet oder sogar lächerlich gemacht werden. Kritik wird oft angebracht, ohne die Verletzbarkeit des Mitarbeiters zu bedenken. Vorschnelle Bewertungen verhindern eine gründliche Diskussion auf der Thema-Ebene, weil sie zur Konfrontation auf der emotionalen Ebene führen, nach dem Motto: Nicht mehr das beste gemeinsame Ergebnis ist Ziel der Beteiligten, sondern die höchste Trefferzahl bei Vorwürfen («Wenn du als Mitarbeiter hier ein Problem machst, dann kriegst du auch ein Problem.»)
Diese Negativhaltung fördert Resignation, Verbitterung und Gleichgültigkeit gegenüber den gemeinsamen Verpflichtungen des Kritikers und des Kritisierten. Deshalb sollten Bewertungen grundsätzlich zurückgestellt werden. Bei der Bewertung einer Leistung muss ein «kritikfreier Raum» geschaffen werden, indem sich der Mitarbeiter und der Vorgesetzte erst einmal gedanklich entfalten und gefühlsmässig akklimatisieren können.
Die Ampelmethode im Konfliktmanagement
Für Jacqueline Riedo, Dozentin im CAS Konfliktmanagement und Mediation, hat sich die Ampelmethode in der Praxis als besonders wertvoll erwiesen. Die Ampelmethode ist ein bewährtes Instrument im Konfliktmanagement, das Sozialarbeitenden hilft, Konflikte frühzeitig zu erkennen und effektiv zu deeskalieren. Diese Methode teilt Konfliktsituationen in drei Phasen ein, die durch die Farben einer Ampel symbolisiert werden: Grün, Gelb und Rot.
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Grüne Phase
Bedeutung: In der grünen Phase ist die Situation ruhig. Alle Beteiligten sind entspannt, die Kommunikation verläuft offen und respektvoll.
Verhalten: In dieser Phase ist es wichtig, aktiv zuzuhören und Empathie zu zeigen. Konstruktive Gesprächstechniken wie Ich-Botschaften, aktives Zuhören, Nachfragen und Zusammenfassen sollten angewendet werden. Beschreiben Sie, was Sie wahrnehmen, ohne Urteile zu fällen, und zeigen Sie Verständnis. Die Kommunikation sollte auf Augenhöhe stattfinden, begleitet von Augenkontakt und der Beachtung nonverbaler Zeichen, etwa Zunicken statt Augenrollen. Das Ziel ist, nach Lösungen zu suchen und nicht nach Schuldigen.
Beispiel 1: Eltern kommen zu Ihnen als Schulsozialarbeiterin oder Schulsozialarbeiter, weil ihr Sohn Schwierigkeiten in der Schule hat. In der grünen Phase hören Sie den Eltern aktiv zu, stellen klärende Fragen und zeigen Verständnis für ihre Sorgen. Eine mögliche Frage könnte sein: «Können Sie mir genauer beschreiben, welche Schwierigkeiten Ihr Sohn in der Schule hat?»
Beispiel 2: Eine Klientin in Ihrer Beratungsstelle berichtet ruhig über Konflikte am Arbeitsplatz.
Gelbe Phase
Bedeutung: In der gelben Phase beginnt die Situation, sich zuzuspitzen. Es gibt Anzeichen von Unruhe oder Frustration, aber der Konflikt ist noch kontrollierbar.
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Verhalten: In dieser Phase sollten Sie ruhig bleiben und eine klare, strukturierte Kommunikation bewahren. Benennen Sie die beobachteten Emotionen und versuchen Sie, die Gefühle der Klientinnen und Klienten zu validieren. Zeigen Sie, dass Sie die Perspektiven aller Beteiligten verstehen wollen und arbeiten Sie gemeinsam an Lösungsideen. Dabei ist es wichtig, den Spielraum und die Rahmenbedingungen zu definieren, Lösungsideen zu sammeln und einen Unterstützungsplan zu erstellen.
Beispiel 1: Die Eltern äussern ihre Frustration darüber, dass ein:e Lehrerin nicht ausreichend auf die Probleme ihres Sohnes eingehen. In der gelben Phase könnten Sie sagen: «Ich sehe, dass Sie frustriert sind. Es ist verständlich, dass Sie sich Sorgen machen. Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie wir die Lehrkräfte besser einbeziehen können.»
Beispiel 2: In Ihrem Jugendzentrum wird ein Jugendlicher laut und beschwert sich über die Regeln. Hier könnten Sie antworten: «Ich merke, dass dich die Regeln frustrieren. Kannst du mir mehr darüber erzählen, was genau dich stört?
Rote Phase
Bedeutung: In der roten Phase ist der Konflikt eskaliert. Emotionen kochen hoch, und es besteht die Gefahr, dass die Situation ausser Kontrolle gerät.
Verhalten: In dieser Phase sollten Sie versuchen, die Situation zu beruhigen, indem Sie klare, kurze Anweisungen geben und keine pädagogischen Vorträge halten. Bieten Sie Massnahmen zur Entspannung an, wie eine kurze Pause, Wasser oder Lüften. Kleine Zugeständnisse und das Zeigen von Verständnis können ebenfalls hilfreich sein. Es kann notwendig sein, das Gespräch abzubrechen und Schutz zu suchen oder das Setting zu wechseln, wobei Sie die Fluchtwege kennen sollten. Unterstützung kann durch Alarm oder ein Codewort im Team angefordert werden. Es ist wichtig, die eigenen Gefühle zu kontrollieren.
Beispiel 1: Die Eltern beginnen, laut zu werden und drohen, die Schule zu wechseln. In der roten Phase könnten Sie ruhig sagen: «Ich verstehe, dass Sie sehr verärgert sind. Lassen Sie uns eine kurze Pause machen, damit wir danach in Ruhe weiterreden können. Es ist wichtig, dass wir gemeinsam eine Lösung finden.»
Beispiel 2: In Ihrer Notunterkunft eskaliert ein Streit zwischen zwei Bewohnern. Hier könnten Sie eingreifen mit: «Es ist wichtig, dass wir jetzt alle ruhig bleiben.
Nach der Deeskalation ist es entscheidend, den Vorfall gründlich nachzubereiten. Dies umfasst die Reflexion des eigenen Verhaltens und der angewanten Massnahmen, um zukünftige Situationen besser bewältigen zu können. Eine strukturierte Fallbesprechung im Team kann helfen, verschiedene Perspektiven zu beleuchten und Verbesserungsmöglichkeiten zu identifizieren. Dabei sollten Sie die Bedürfnisse der Beteiligten berücksichtigen und darauf achten, dass alle offenen Fragen geklärt werden.
Umgang mit schwierigen Menschen
Kolleginnen und Kollegen an Schule oder Arbeitsplatz sind meist gegeben. Darunter können Persönlichkeiten sein, die man als schwierig empfindet. Menschen, die einem nicht entsprechen, gibt es in allen Lebenssituationen. Sie nerven, lösen durch ihre Verhaltensweisen negative Gefühle aus, wirken egoistisch, sind Trittbrettfahrer. «Besonders schwierig ist es, wenn man ihnen nicht ausweichen kann - mit ihnen irgendwie auskommen muss», sagt Karin Lehmann, Psychologin und Psychotherapeutin bei ask!.
«Als Erstes sollte man in sich hineinhorchen und sich fragen, was genau einem an einem schwierigen Menschen stört», meint Lehmann. Sind es andere Sichtweisen, Interessen, Werte oder Arbeitsweisen? Handelt es sich um eine subjektiv gefärbte Wahrnehmung? «Oft hat man mit ähnlichen Personen bereits schwierige Erfahrungen gemacht und diese beeinflussen die eigene Empfindung», so die Psychologin. Entscheidend dabei sei es, dass die Charaktereigenschaften einer Person kaum oder nicht veränderbar seien, nur deren Verhaltensweisen.
Um eine Person verstehen zu können, hilft es, sie besser kennenzulernen. «Man entdeckt neue Seiten an ihr oder sieht sie in anderem Licht», sagt Karin Lehmann. Eventuell erfährt man Gründe für das Verhalten, macht positive Erfahrungen oder findet Gemeinsamkeiten, die den Ärger überstrahlen.
Waren die vorangegangenen Tipps nicht zielführend, ist der nächste mögliche Schritt ein klärendes Gespräch. «Es geht darum, sachlich über die Verhaltensweisen, die das Miteinander erschweren, zu reden», meint die Spezialistin. Mit Vorwürfen, Anschuldigungen oder Anweisungen werde die Situation nur zugespitzt. Ein angenehmes Setting, Ich-Botschaften sowie Humor vereinfachen den Austausch.
Manchmal ist die Situation eingefahren und kaum mehr veränderbar. In Stresssituationen kommt die Reaktion oft ungefiltert aus dem Unterbewusstsein. «Um dies zu verhindern, sollte man lieber eine Denkpause einlegen und danach sachlich reagieren. Auf diese Art und Weise können die Gefühle besser gesteuert werden», erklärt die Psychologin. Die emotionale und räumliche Distanz zum Mitmenschen kann den Alltag ebenfalls erleichtern. Manchmal braucht man ein Ventil, weil die Frustration über die Unveränderbarkeit der Verhaltensweisen eines Mitmenschen derart belastend sein kann. «Hierfür sucht man sich am besten Gesprächspartner im privaten Umfeld», betont die Psychologin.
Herausforderndes Verhalten und freiheitseinschränkende Massnahmen
Herausforderndes Verhalten kann massiv stören und zu Selbst- und Fremdgefährdung führen. Deshalb stehen Betreuende oft vor dem ethischen Dilemma, wider ihre Überzeugungen freiheitseinschränkende Massnahmen zu ergreifen. Wir alle sind ihnen im Berufsalltag schon begegnet: Situationen, in denen wir unsicher sind, welcher Ansatz richtig ist. Situationen, in denen wir mit Handlungsaufforderungen konfrontiert werden, deren Angemessenheit wir in Zweifel ziehen, weil sie nicht mit unserer Berufsethik einhergehen. Meist geht es dabei um betreute Personen, deren Verhaltensweisen so gar nicht mit der aktuellen Situation zusammenpassen. Diese Verhaltensweisen können wir eindeutig als «herausfordernd» identifizieren, da sie uns meist auffordern, eine Anpassung in der Beziehungsgestaltung vorzunehmen.
«Freiheitseinschränkende Massnahmen allein haben weder eine günstige Wirkung auf die Ursachen von herausfordernden Verhaltensweisen noch auf die Entwicklung des betroffenen Menschen.» Im Gespräch mit Stefania Calabrese, Dozentin und Projektleiterin am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern, Soziale Arbeit, wird aber deutlich, wie umfassend und multiprofessionell wir herausfordernde Verhaltensweisen in der Praxis angehen müssen.
Dabei hat sie festgestellt: «Freiheitseinschränkende Massnahmen allein haben weder eine günstige Wirkung auf die Ursachen von herausfordernden Verhaltensweisen noch auf die Entwicklung des betroffenen Menschen.» Sie empfiehlt stattdessen einen entwicklungsorientierten Zugang, der interdisziplinär angelegt und begleitet wird. Und sie ruft dazu auf, den Blick auf das System zu richten: Dieses sei Ursache für herausfordernde Verhaltensweisen und zugleich ein Gelingensfaktor für den Umgang damit. «Wichtig ist die konsequente Forderung nach einer angemessenen medizinischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigung.»
Die Ergebnisse ihrer Forschung zeigen, dass insbesondere (päd-)agogisch-psychologisch fundierte Ansätze unterstützend wirken können, zum Beispiel «Banking Time» (regelmässige gemeinsame Zeitfenster), «Low Arousal» (Vermeiden von Spannungssituationen) oder «Positive Verhaltensunterstützung» (Orientierung an Ressourcen). Sie plädiert für eine Strategie, die alle an der Begleitung beteiligten Personen befähigt, und zwar auf allen hierarchischen Ebenen.
Die grosse Frage lautet: Wieso fühlen wir uns durch herausfordernde Verhaltensweisen herausgefordert? Ist es das eigene Ohnmachtsgefühl und der Verlust einer klaren Handlungsrichtung? Oder ist es das Verhalten an sich, zusammen mit den scheinbar alternativlosen freiheitseinschränkenden Massnahmen, die wir solchem Verhalten oftmals folgen lassen?
Grenzverletzend und gefährlich
Fangen wir weiter vorne an: Die Bezeichnung «herausforderndes Verhalten» umschreibt ein Verhalten, das als ausserhalb der Norm in Bezug auf Lebensalter und soziale Umgebung wahrgenommen wird. Es ist oft grenzverletzend, manchmal gefährlich und risikobehaftet und immer auffällig. Es greift oft die körperliche und psychische Unversehrtheit der direkt betroffenen Personen an, aber auch deren Umfeld, und es zwingt oft zum unmittelbaren Handeln.
Wir sind dabei mit Verhaltensvarianten konfrontiert wie sich schlagen, sich beissen, treten, mit Kot schmieren, spucken, schreien, den Kopf an die Wand schlagen und vielen weiteren. Sie alle können eine Selbst- und Fremdverletzung bewirken - und sie machen oft aus ein und derselben Person Opfer und Täterin oder Täter zugleich. Diese Verhaltensweisen können das soziale Zusammenleben massiv beeinträchtigen und unbeteiligte Personen ängstigen und irritieren.
«Das heisst, wir greifen zu Massnahmen, die unter besseren Bedingungen vielleicht nicht nötig wären.» Solche Situationen erfordern deshalb klare Handlungsanleitungen, damit alle Anwesenden angemessen begleitet werden können und damit die Sicherheit aller gewährleistet ist. Manchmal bedeutet das den Einsatz von freiheitseinschränkenden Massnahmen. Und das führt oft zur eingangs erwähnten Unsicherheit.
Dass solche Verhaltensweisen als «Krise» gewertet werden und selten als «logische» oder «normale» Antwort auf ungenügende Kommunikations- und Lebensbedingungen, ist vielleicht ein Grund für das ethische Dilemma rund um die Anwendung solcher Massnahmen: Das Wissen um die unzureichenden Lebensbedingungen ist innerhalb der Berufsdisziplin durchaus vorhanden. Das heisst, wir greifen zu Massnahmen, die unter besseren Bedingungen vielleicht nicht nötig wären.
Wann kann es also vertretbar und «richtig» sein, jemanden örtlich zu beschränken, im Bett zu fixieren, Sozialkontakte zu limitieren, den Zugang zur Küche zu verwehren oder den Zugang zum eigenen Besitz an Bedingungen zu knüpfen? Und: Kann sich ein Mensch, der solchen Massnahmen ausgesetzt ist, noch weiterentwickeln? Wie gelingt es, eine entwicklungsfreundliche Umgebung zu gestalten für Menschen, die lebenslang entwicklungsfähig und auf Entfaltung ausgelegt sind, wie das die Entwicklungsfreundliche Beziehung (EfB) nach Senckel beschreibt? Wie kann Lebensqualität erfahrbar gemacht werden? Und nicht zuletzt: Wie entwickelt sich professionelle Beziehungsarbeit unter solchen Bedingungen?
(K)ein hoffnungsloser Fall?
Tatsächlich gibt es in der Praxis diverse Konzepte und Herangehensweisen, die den Einsatz von freiheitseinschränkenden Massnahmen ablösen können. Mögliche Ansätze zeigen wir in der Geschichte des fiktiven Jan: Dieser trat 2022 im Alter von knapp 20 Jahren nach zwei Jahren Aufenthalt in der Psychiatrie ins Wohnhaus 21 mit Tagesstruktur ein. Seit dem 12. Altersjahr hatte er in unterschiedlichen Institutionen gelebt, überall wurde sein Betreuungsbedarf als «rahmensprengend» eingestuft, und der Platz wurde gekündigt.
Jan ist von einer schweren kognitiven Beeinträchtigung betroffen, seine Sprache besteht aus der Wiederholung von immer gleichen Ein- und Zweiwortsätzen. Möchte er etwas, zeigt er darauf, Ablehnung tut er durch Kopfschütteln oder Weglaufen kund. Lässt man ihn alleine, läuft er meist ziellos umher, räumt alles aus, zerreisst alles, was er findet, und scheint sich nicht länger als zwei Minuten auf etwas konzentrieren zu können. Hört er Musik, hält er inne und wippt im Takt mit, beschränkt man seine Mobilität, baut er mit Legosteinen einfache Türme.
Auffallend ist: Je älter Jan wurde, desto herausfordernder wurde sein Verhalten, und entsprechend nahmen auch die freiheitseinschränkenden Massnahmen und der Einsatz von Medikamenten zu.
Massive Einschränkungen
Auch selbstverletzendes Verhaltensweisen wie sich beissen, den Kopf an die Wand schlagen oder sich die Haare ausreissen steigerten sich signifikant, während andere Verhaltensweisen wie Kot schmieren, treten, spucken, schreien oder davonlaufen relativ stabil blieben. Dafür verletzte Jan immer mehr Betreuungspersonen: Gebrochene Nasen, Finger und Jochbeine, tiefe Bisswunden und Prellungen waren dokumentiert.
Deshalb war Jans Tagesablauf in der Psychiatrie voller Einschränkungen:
- Jan trug einen Overall den er nicht selbst öffnen konnte, um das Kotschmieren zu verhindern.
 - Jan trug geschlossene Einlagen, da er mit dem Overall nicht selbst auf die Toilette konnte und es immer zu «Unfällen» kam.
 - Er wurde siebenmal täglich auf die Toilette begleitet und dort überwacht, damit er nicht in die Toilette fassen konnte.
 - Jan trug einen Helm, damit er sich keine Haare mehr ausreissen konnte, zudem waren die Haare kurz geschnitten, damit er sie schlecht greifen konnte.
 - Jan verbrachte viel Zeit in seinem Zimmer: Seine Lautstärke und seine Übergriffe auf Personal und Mitbewohnende verunmöglichten einen unbetreuten Aufenthalt an Orten, wo sich andere Menschen aufhalten.
 - Jan ass alle Mahlzeiten in seinem Zimmer, sie wurden für ihn bestellt und mundfertig dargereicht.
 
Jan lebte mit unzähligen Regelungen, auf die er wenig bis keinen Einfluss hatte, sein Alltag war geprägt von freiheitseinschränkenden Massnahmen.
Potenzial erkennen
Beim Eintritt ins Wohnhaus 21 bekam Jan einen Wohnplatz in einer Wohngruppe für Menschen mit dauerhaft herausfordernden Verhaltensweisen, wo er im Setting 1:1 und in Krisen 2:1 oder noch höher betreut wird. Als das Team der Wohngruppe Jan kennenlernte, richteten sie ihren Blick auf seine Fähigkeiten und seine Bedürfnisse bezüglich Kommunikation, Beziehungs- und Umgebungsgestaltung.
Tatsächlich zeigte Jan diverse Fähigkeiten: Er ist sehr musikalisch, bewegt sich rhythmisch zu Hip-Hop und klatscht dazu in die Hände, und mit einer Trommel oder Rassel in der Hand beruhigt er sich sichtbar. Im Alltag werden deshalb täglich zwei Sequenzen eingeplant, in denen das Betreuungspersonal mit Jan musiziert. Hin und wieder sucht er sich vor den Spaziergängen ein Instrument aus, meistens eine Rassel. Diese tauscht er problemlos gegen seinen Znüni oder Zvieri aus, und sobald er gegessen hat, zeigt er auf die Tasche und erhält das Instrument zurück: Eine erfolgreiche Kommunikation hat stattgefunden.
Jan ist zudem in der Lage, mit beiden Händen Duplo-Legosteine zusammenstecken. Er sucht sich immer die gleichen Farben aus der Schublade. Die Betreuungspersonen setzen sich zu Jan auf die Matte und beschreiben in einfachen Sätzen, was Jan und sie selbst tun. «Jetzt nehme ich ein blaues Lego», oder: «Du steckst ein gelbes oben auf den Turm.» Jan hält oft inne und scheint zuzuhören. Bittet man ihn um einen Legostein, gibt er ihn weiter und klatscht in die Hände, wenn man sich bedankt. Seit einigen Wochen hat er angefangen, selbst auf Steine zu zeigen, und nimmt sie freudig entgegen: Aus dem Nebeneinander wird allmählich ein Miteinander.
«Die Teammitglieder arbeiten konsequent mit Gebärdenunterstützter Kommunikation und Piktogrammen.» Bisher war Jan kaum in seinen Tagesablauf miteinbezogen worden. Das Betreuungspersonal im Haus 21 bietet ihm jetzt mit drei Fotos (Marmeladenbrot, Birchermüesli oder Cornflakes) die Möglichkeit, sein Frühstück und den Ort, wo er frühstücken möchte, selbst zu wählen.
Die Mitarbeitenden beobachten ihn in seiner verbalen und nonverbalen Kommunikation. Bemerken sie kleine Veränderungen im Verhalten, die als Stressreaktion interpretiert werden könnten, drücken sie ihre Beobachtungen Jan gegenüber aus und bieten ihm andere Möglichkeiten an. So erfährt Jan, dass seine Umgebung darauf achtet, ob es ihm gut geht, und dass keine Eskalation nötig ist, um seine Situation zu verändern. Die Teammitglieder arbeiten konsequent mit Gebärdenunterstützter Kommunikation und Piktogrammen.
Die laminierten Piktogramme liegen auch in seinem Zimmer zur freien Verfügung, hin und wieder schaut er sie an, manchmal kaut er auf ihnen. Was defekt ist, wird gemeinsam mit ihm entsorgt und danach ersetzt. Jan nutzt die Piktogramme noch nicht, ahmt aber einzelne Gebärden nach, wenn das Betreuungspersonal mit ihm spricht.
Fortschritte und Ausblick
Dementsprechend hat Jan seit seinem Eintritt ins Wohnhaus 21 viele Fortschritte gemacht. Nach wie vor trägt er Overall und Helm. Aber die Zeiten und Situationen ohne beides können langsam gesteigert werden. Dank der entwicklungs- und systemorientierten Betreuung haben sich Situationen mit herausfordernden Verhalten und der Einsatz von freiheitseinschränkenden Massnahmen deutlich reduziert.
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