Psychisch Labil: Definition und Betrachtungen

Der Umgang mit psychischen Störungen ist eine der drängendsten gesundheitspolitischen Fragen unserer Zeit. In der Schweiz sind 17% der Bevölkerung von einer oder mehreren psychischen Störungen betroffen.

Die Vielfalt von psychischen Störungen ist gross und es gibt keine universelle Definition für diese. Zu den meistverbreiteten und wohl bekanntesten Störungen gehören die verschiedenen Arten von Depressionen, Essstörungen, Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen und Angst- und Persönlichkeitsstörungen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Diagnosen und das Konzept der psychischen Störungen selbst nicht neutral sind und als Herrschaftsinstrumente dienen können. Doch selbst bei einer kritischen Betrachtung der Psychiatrie ist klar, dass psychisches Leiden in unserer Gesellschaft sehr präsent ist.

Zudem werden Betroffene systematisch stigmatisiert und diskriminiert. Die Folgen dieses Zustandes sind verheerend: unzureichende und unzugängliche Behandlungsmöglichkeiten, die Ignoranz der Gesamtgesellschaft und die daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen erzeugen einen Teufelskreis für Betroffene.

Dieser wird vom sozialen Umfeld oftmals nicht erkannt und führt kurz- und langfristig zu sozialer Isolation, finanziellen Problemen und endet nicht selten tödlich. In der Schweiz sterben im Schnitt täglich 2-3 Personen durch nicht-assistierten Suizid, und dies ist bei den 19- bis 34-Jährigen die häufigste Todesursache.

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Das Risiko, psychisch zu erkranken, ist nicht bei allen Menschen gleich gross. Diskriminierungserfahrungen lösen bei Betroffenen überdurchschnittlich häufig psychische Erkrankungen aus, besonders bei jungen Frauen steigt die Anzahl der Neuerkrankungen stark an.

Patriarchat, Kapitalismus, die weisse Vorherrschaft und alle weiteren Diskriminierungsstrukturen machen also krank oder vergrössern zumindest das Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken. Viele Menschen leiden aufgrund des Produktivitäts- und Leistungswahns an Burnout.

Wichtig ist aber auch die Erkenntnis, dass viele psychische Störungen in unterschiedlichem Ausmass vererbt werden, weshalb nicht alle psychische Störungen einfach auf Lebensumstände zurückgeführt werden können.

Die Corona-Krise hat bei vielen Betroffenen von psychischen Störungen zu einer Verschlechterung ihres psychischen Gesundheitszustands geführt. Nach einem Pandemiejahr konnte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einer Studie signifikante Veränderungen beim persönlichen Wohlbefinden der Befragten feststellen, wobei jüngere Menschen noch stärker betroffen sind.

Die Profitinteressen der Krankenkassen, privatisierten Spitälern und Kliniken und der Pharmaindustrie stehen einem patient*innengerichteten Gesundheitswesen im Weg. Zusätzlich werden die Patient*innen in einen «Pauschaltopf» geworfen, in dem das Individuum aus den Augen verloren geht und einfach die Diagnose entscheidet, wie lange eine Behandlung zu dauern hat.

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Die Situation ist so prekär, dass eine fachgerechte Betreuung schlichtweg nicht mehr gewährleistet werden kann. Dies bedeutet aufgrund des akuten Personalmangels eine Häufung von Zwangsmassnahmen gegen Patient*innen. So wurden in Schweizer Psychiatrien 2021 mit 6192 Fällen knapp 30 Prozent mehr Menschen in Isolation gesteckt als noch 2019.

“Psychische Gesundheit” ist eines der grössten Tabuthemen unserer Gesellschaft. Grund dafür sind offenbar verschiedene Befürchtungen: Beispielsweise haben viele depressive Personen Angst, als “nicht mehr leistungsfähig” und als “labil und schwach” zu gelten.

Aufgrund dieser Stigmatisierung werden Verbreitungsgrad und Gefährlichkeit der “Volkskrankheit Depression” enorm unterschätzt. Diese Stigmatisierung verschleiert das tatsächliche Ausmass und die Verbreitung von psychischen Erkrankungen und wirkt sich auf das Angebot in der Gesundheitsversorgung aus.

Bereits vor der Pandemie gab es zu wenige ambulante und stationäre Behandlungsplätze - mittlerweile hat sich diese Problematik abermals enorm verschärft und das mit fatalen Auswirkungen: In psychiatrischen Institutionen wird triagiert, insbesondere in den Kinder- und Jugendpsychiatrien.

Menschen, die aufgrund von Erkrankungen nicht mehr regulär arbeiten können, sollen eigentlich mit Sozialhilfe und IV-Rente entsprechende Hilfe vom Staat erhalten. Menschen mit psychischen Störungen wird massiv misstraut. So versucht die politische Rechte seit Jahren, das Anrecht auf IV- Rente für Menschen mit psychischen Störungen komplett zu streichen.

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Die Unabhängigkeit und dadurch die Qualität dieser Gutachten ist jedoch oftmals nicht gewährleistet. Das IV- System beruht auf dem Grundsatz der “Wiedereingliederung” in den Arbeitsmarkt, was nicht grundsätzlich ein schlechtes Ziel ist, da die Selbstbestimmung der betroffenen Menschen gestärkt werden kann - dabei kommt es allerdings auf die Umsetzung und Absicht dahinter an.

Psychisch Erkrankte erleben im Alltag in nahezu allen Lebensbereichen Diskriminierung. Neben sozialer Ausgrenzung kommt es zu erschwerten Bedingungen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik erscheint als negativ auffallende Lücke im Lebenslauf und eine längere Krankschreibung in der Vergangenheit wird von Arbeitgebenden als Risiko erachtet.

Menschen in akuten psychischen Notsituationen werden in der Schweiz im gesamteuropäischen Vergleich überdurchschnittlich oft gegen ihren Willen geschlossen platziert. Teil solcher “Behandlungen” sind aufgrund von Personalmangel oftmals Fixierungen und andere unmenschliche Praktiken.

Wer solche Zwangseinweisungen anordnen kann, ist kantonal unterschiedlich geregelt. Solche Massnahmen stellen einen massiven Eingriff in die Autonomie eines Individuums dar und sollten nur als allerletztes Mittel und von einer kleinen Anzahl von Spezialist*innen mit der dafür notwendigen Ausbildung und den entsprechenden Kompetenzen angeordnet werden können.

Auch heute noch, im 21. Jahrhundert, scheint das Ersuchen von Behandlung in psychiatrischen Institutionen verpönt, obwohl sich die gesellschaftlichen Umstände bedeutend verändert haben. Grosse Teile der Bevölkerung haben Angst vor einer stationären Behandlung und vor allem vor der gesellschaftlichen Ächtung eines solchen Aufenthalts.

Im aktuellen gesellschaftlichen Kontext gewinnt die Frage der psychischen Gesundheit der Jugendlichen zunehmend an Bedeutung. Gemäss einer neuen Studie von Unisanté in Lausanne zeigen 37 % mässige oder schwere Anzeichen von Angstzuständen oder Depression. Aus verschiedenen Gründen bleibt dieser Leidensdruck oft unbeachtet.

Allgemein sind eine Verschlechterung der Gemütslage, fehlendes Interesse für die üblichen Aktivitäten sowie eine Mangel an Energie und eine grosse Erschöpfung zu beobachten. Bei den Jugendlichen sind jedoch vermehrt Reizbarkeit und Aggressivität sowie risikoreiches Verhalten festzustellen.

Veränderungen der täglichen Gewohnheiten, der sozialen Interaktionen, der Beteiligung an Aktivitäten der Familie und der Schule können Zeichen einer Notlage sein. Bedeutende Veränderungen, insbesondere ein sozialer Rückzug, ein nachlassender Einsatz in der Schule, Schlaf- oder Essensstörungen, sollten ernstgenommen werden.

Bei Jugendlichen tragen mehrere Risikofaktoren zu einer Depression bei, wie genetische Veranlagungen, Vorgeschichten mit Verletzungen oder Missbrauch sowie einen ängstlichen Charakter und fehlendes Selbstvertrauen. Auch das Umfeld spielt eine Rolle.

Suizidäre Gedanken sind tatsächlich ein häufiges Symptom einer Depression bei Jugendlichen. Das Umfeld sollte auf die Zeichen einer Notsituation achten und den Jugendlichen bei seiner Suche nach Hilfe unterstützen.

Bei der Behandlung einer Depression bei Jugendlichen kann es sich unter anderem um eine Kombination aus psychotherapeutischer Unterstützung und, in gewissen Fällen, einer Medikation handeln. Die Psychotherapie hilft dem Jugendlichen, seine Gefühle zu erkennen und zu benennen, einen Sinn in dem zu finden, was mit ihm geschieht, Anpassungsstrategien zu entwickeln sowie seine sozialen Kompetenzen und sein Selbstbewusstsein zu stärken.

Medikamente wie Antidepressiva können verordnet werden, um die depressiven Symptome des Jugendlichen zu lindern. Um die Ergebnisse der Behandlung zu optimieren, werden sie immer in Kombination mit der Psychotherapie eingesetzt.

Die meistgelobten und -bewunderten Menschen haben eines gemeinsam: Sie leiden mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer psychischen Störung. Wer dies für übertrieben hält, möge sich vor Augen halten, dass viele Psychopathien weder von den Betroffenen noch von Aussenstehenden als solche wahrgenommen werden.

In Verbindung mit Markern wie fehlender Empathie und Narzissmus entspricht sie auch in allen wesentlichen Punkten der Definition eines funktionierenden Psychopathen. Exzentrische Persönlichkeiten gelten als geniale Technologiepropheten, während der geistig angeschlagene Normalbürger mit dem kaum zu löschenden Stigma des Spinners belegt ist.

Gehen wir zurück zur oben erwähnten Charakterbeschreibung. Viele würden sich darin noch so gerne wiedererkennen, ist sie doch das Destillat exakt jener Eigenschaften, die mit beruflichem Erfolg in Verbindung gebracht werden. Jüngste Studien kommen zu dem Ergebnis, dass bis zu 20 Prozent der CEO psychopathische Züge aufweisen, ein Mehrfaches des gesellschaftlichen Durchschnitts.

Selbst wenn Kollegialität und Teamwork heute gerne in den Vordergrund gestellt werden, ist der gelebte Unternehmensalltag von eigennützigem Verhalten, Opportunismus und Machtspielen geprägt. Sonderbares, verschrobenes Verhalten gilt als Qualitätsmerkmal des Künstlers und seiner Kunst.

Die Kreativitätsforschung setzt sich intensiv mit diesem Thema auseinander und kommt zu einem eindeutigen Schluss: Psychopathie ist gut für die Kreativität. Das bedeutet nicht, dass Künstler zwangsläufig an einer geistigen Krankheit leiden. Aber die Häufung ist signifikant.

Mit anderen Worten: Kreativer Erfolg ist für jene wahrscheinlich, die diese Charakterzüge kontrollieren können, ohne in einen akuten Krankheitszustand abzurutschen. Es befriedigt den weitverbreiteten voyeuristischen Impuls, aus sicherer Entfernung an menschlichem Scheitern teilzuhaben, insbesondere wenn ihm ein fulminantes Comeback folgt.

Warum aber reagieren wir auf den psychischen Zustand von Prominenten anders als auf den des wirren Obdachlosen in der Bahnhofshalle oder der suizidalen Nachbarin? Die Erklärung liegt im sogenannten «halo effect». Er beschreibt die blendende Strahlkraft renommierter Persönlichkeiten, die jeden Makel in das warme Licht der Respektabilität taucht.

Zum einen führt das von vielen Künstlern vorgelebte Klischee des unberechenbaren, verdüsterten Genies zur Überhöhung pathologischer Verhaltensmuster. Sie werden als notwendige Voraussetzung und eigentliche Quelle der Eingebung interpretiert und dadurch in der Wahrnehmung geadelt.

Zum anderen dienen Prominente als Projektionsfläche für eigene Unsicherheiten und Schwächen. Indem das Idol als Zentrum einer imaginären Leidensgemeinschaft gedacht wird, trägt es auf paradoxe Weise auch zur Normalisierung seines prekären Geisteszustands bei.

Wir sind von funktionierenden Psychopathen umgeben, die uns gleichermassen faszinieren, inspirieren und abstossen - am Arbeitsplatz, in den News, auf dem Netz. Gleichzeitig werden harmlose Verhaltensstörungen schon bei Jugendlichen medikamentös übertherapiert, von den schweren Fällen ganz zu schweigen.

Eine nüchterne Auseinandersetzung mit dem Thema geistige Gesundheit ist darum durchaus berechtigt. Sondern als ernsthafter Versuch, das Unerträgliche an der Leichtigkeit des Seins zu einem ungeschönten, aber integrierten Teil der Gesellschaft zu machen.

Die Psychoanalyse als Ansatz zum Verständnis

Die Psychoanalyse ist eine von dem Nervenarzt Sigmund Freud Ende des 19. Jahrhunderts in Wien begründete und seitdem ständig weiterentwickelte eigenständige Disziplin der Humanwissenschaften. Als Tiefenpsychologie interessiert sich die Psychoanalyse für das individuelle, immer auch gesellschaftlich geprägte Unbewußte im Menschen.

Die Psychoanalyse fragt nach dem «Warum» und dem «Wozu» menschlichen Erlebens und Verhaltens. Dabei bleibt sie nicht, wie ihr bisweilen kritisch unterstellt wird, bei der Aufarbeitung der vor allem kindlichen unbewältigten Erlebnisse stehen. Sie untersucht ebenso deren bedeutsame Bezüge in den gesamten Lebensgeschichtlichen und auch aktuellen Erfahrungen und ihre Auswirkungen auf die Zukunftsgestaltung.

Indem sie sich bemüht, individuelle und kollektive Selbsttäuschungen, Täuschungen, Illusionen und Wahrnehmungsverzerrungen aufzudecken, hilft sie den Menschen, Berührung mit ihren Tiefen und Untiefen zu finden. Sie ist in diesem Sinne auch ruhestörend und unbequem. Sie muß deshalb immer mit Widerständen und Ablehnung rechnen.

Die psychoanalytische Untersuchung besteht in einer besonderen Form der Begegnung zwischen Menschen. Sie ist in erster Linie ein Gespräch, allerdings eines mit bestimmten Spielregeln, das sich von der gewöhnlichen Kommunikation unterscheidet.

Durch die psychoanalytische Grundregel wird der Analysand angeregt, alles, was er spürt, was er fühlt und was ihm einfällt - sei es ihm auch unangenehm, peinlich oder erscheine es ihm unangemessen und unwichtig - möglichst unausgewählt und unzensiert zu Äußern.

Der Psychoanalytiker versucht, diesen freien Assoziationen mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zu begegnen; das bedeutet, daß nichts a priori bevorzugt, gewichtet oder bewertet wird. Indem sich der Analytiker so in eine Befindlichkeit größtmöglicher Offenheit seines Fühlens, Denkens und Wissens begibt, bemüht er sich, der unbewußten Aktivität des Analysanden und seiner selbst möglichst freien Raum zu eröffnen.

Man versteht darunter, daß eine aktuelle Erfahrungssituation unbewußt nach dem Muster einer früheren interpretiert wird. Im pathologischen Fall heißt das, daß ein Patient die Gegenwart entsprechend seiner Vergangenheit mißversteht (Greenson), an die er fixiert ist.

Als Widerstand werden all die unbewußten Kräfte und Abwehrmechanismen bezeichnet, die sich dem Bewußtwerden des Verdrängten entgegenstellen. Die im eben dargestellten Sinne «freien» Einfälle des Patienten erweisen sich nicht als zufällig, sondern zeigen die «determinierende Ordnung» des Unbewußten auf.

Dementsprechend besteht die Aufgabe der Psychoanalyse darin, im «Kampf um die Erinnerung» (Alexander Mitscherlich) gegen unbewußte Widerstände die unbewußten lebensgeschichtlichen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge im aktuellen Erleben und Verhalten erkennbar zu machen, zu rekonstruieren und zu deuten.

In den Träumen, Fehlleistungen, Symptomen und anderen seelischen Produktionen der Menschen und in den Einfällen des Analysanden begegnen dem Analytiker die unbewußten Inhalte vorwiegend in verzerrter,verschobener und verdichteter Form, in symbolischer Darstellung. Sie bedürfen also einer Interpretation.

Dabei geht es zwar stets um den Einzelnen, jedoch immer in seinem sozialen Kontext. Modellvorstellungen und hypothetische Konstrukte sind unumgängliche Voraussetzungen und Hilfsinstrumente für das Erfassen seelischer Wirklichkeiten.

Zudem wird das Menschenbild und die «Weltanschauung» der Psychoanalyse nocheinmal durch die individuellen anthropologischen Grundannahmen jedes einzelnen Psychoanalytikers modifiziert. Deswegen ist es eigentlich auch unmöglich, von «der Psychoanalyse» zu sprechen.

Während das Vorbewußte (das Unbemerkte, das Automatische und das latent Bewußte) relativ leicht dem Bewußtsein zugänglich werden kann, setzt das eigentliche oder dynamisch Unbewußte dem Bewußtwerden Widerstand entgegen.

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