Psychologie der Verschwörungstheorien und Leugner

Im Leben der Wissenschaftlerin Judy Mikovits gab es einen kurzen Moment, in dem sie glaubte, den Olymp der Forschung erreicht zu haben. Das war 2009. Doch es kam alles anders. Bald weichten Zweifel die bahnbrechenden Forschungsresultate auf, die den Namen Mikovits weltberühmt gemacht hatten. Judy Mikovits aber weigert sich bis heute, die Evidenz zu akzeptieren, die ihre Forschung widerlegt. Stattdessen sieht sie sich als Opfer einer korrupten Wissenschaftselite.

Innerhalb von nur zwei Jahren hat Mikovits sich von der Wissenschaftlerin zur Verschwörungstheoretikerin gewandelt. Heute ist die gut 60-Jährige eine Gallionsfigur der Impfgegner und Covid-19-Leugner. Und sie sagt verstörende Sätze wie: «Masken aktivieren das Coronavirus». Der Höhepunkt ihrer verschwörungstheoretischen Karriere ist der Pseudo-Dokfilm «Plandemic». Wie konnte es so weit kommen?

Wie kann jemand, der einen Doktortitel in Biochemie und Molekularbiologie hat, ohne jegliche Beweise verkünden, die Regierung mache seine Bürger extra krank, damit Pharmafirmen Geld verdienen können? Der Fall Mikovits zeigt: Verschwörungstheorien sind nicht unbedingt etwas für Spinner.

Am Anfang jeder guten Geschichte steht ein Rätsel. So auch hier. Es trägt den Namen CFS: Chronic Fatigue Syndrome, das chronische Erschöpfungssyndrom. Dabei handelt es sich um eine mysteriöse Krankheit, deren Ursachen nach wie vor unklar sind. Die Symptome sind sehr vielfältig und von Mensch zu Mensch verschieden, einen Biomarker, an dem die Krankheit identifiziert werden könnte, gibt es nicht. Lange wurde das Leiden auch von Ärzten und Wissenschaftlerinnen belächelt oder gar als inexistent taxiert.

Dann entdeckte Judy Mikovits das Virus, welches vermeintlich hinter der mysteriösen Dauererschöpfung stecken soll. Sein Name: XMRV (xenotropic murine leukemia virus-related virus). Ein so genanntes Retrovirus, das ursprünglich von Mäusen stammt und zuerst in Prostatakrebszellen entdeckt wurde. Mikovits fand das Erbgut des Virus in 67 Prozent der Blutproben von CFS-Patienten. Und nicht nur das. Das war im Oktober 2009.

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Zuvor hatte Judy Mikovits ein unspektakuläres Leben als Wissenschaftlerin geführt. Sie war eine Aufsteigerin: Von vier Geschwistern war sie die einzige, die es an die Uni schaffte. Sie studierte Biochemie an der Universität Virginia, doktorierte 1991 an der George Washington University und arbeitete 22 Jahre lang am Zentrum für nationale Krebsforschung (NCI) zu menschlichen Retroviren. Damit erfüllte sie das Versprechen, das sie ihrem krebskranken Grossvater am Sterbebett gegeben - und beim ebenfalls durch Krebs verursachten Tod ihres Stiefvaters erneuert hatte. So jedenfalls erzählt es Mikovits in einem ihrer Bücher.

Mit 42 Jahren heiratete sie den 20 Jahre älteren David Nolde, verliess das NCI und zog zu ihm nach Kalifornien. In den Jahren als Wissenschaftlerin wirkte Judy Mikovits an rund 40 Publikationen mit. Doch ein «Rockstar Scientist», wie sie sich selbst bezeichnet, war sie aber nie. Zur Forschung über CFS kam Mikovits per Zufall. Ein Bekannter machte sie mit einem Ehepaar bekannt, das ein Forschungsinstitut mit Fokus auf diese Krankheit aufbaute, da ihre Tochter daran litt. In diesem Whittemore Peterson Institute for Neuro-Immune Disease (WPI) wurde Mikovits 2006 wissenschaftliche Direktorin.

Dann kam die Studie, die alles ändern sollte. Die Resonanz in der Fachwelt war zunächst enorm. Doch die Studie hatte Mängel. Sie war nicht blind durchgeführt worden - das heisst, die Forschenden wussten während der Analyse, ob sie die Probe einer kranken oder einer gesunden Person untersuchten. Auch waren die Probanden nicht zufällig ausgewählt worden. Beides macht Forschung anfällig auf Verzerrungen, die durch unbewusste Vorurteile entstehen können.

Und so begannen Wissenschaftler anderer Institutionen das zu tun, was Wissenschaftler tun: sie zweifelten. Und sie versuchten, die Ergebnisse der Mikovits-Studie zu replizieren - mit Blutproben anderer CFS-Patienten und teilweise auch mit solchen, die sie direkt von Mikovits erhalten hatten. Doch die grosse Mehrheit der Wissenschaftler konnte in keiner dieser Proben XMRV nachweisen.

Kontamination mit Retroviren geschieht sehr leicht, denn sie fügen ihre RNA in die DNA der Mäuse ein und reproduzieren sich so sehr effizient - ein bekanntes Beispiel für diese retrovirale Vermehrung im Menschen sind beispielsweise die HI-Viren, die Aids auslösen. Mäuse-DNA wiederum verteilt sich in einem Labor recht leicht. Nachdem verschiedene Studien zu XMRV erschienen waren, bildete sich ein wissenschaftlicher Konsens: Das Virus war wohl in den 1990ern versehentlich in einem Labor entstanden.

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Zwei Viren hatten bei Mäuse-Experimenten ein neues Virus gebildet. Zellen aus diesen Experimenten, es waren Prostatakrebszellen, wurden zu Forschungszwecken in Laboratorien auf der ganzen Welt verschickt - und das neue Virus so verbreitet. «Mikovits unterschätzt bis heute, wie leicht sich Mäuse-DNA und mit ihr die RNA der Retroviren verbreiten», sagt John Coffin, damals bereits ein bekannter Virologe, im Gespräch mit higgs. «Ein Tropfen Mäuseblut in einem Swimmingpool voll Wasser reicht, um darin den Retrovirus in der Mäuse-DNA zu finden», erklärt er. Und er erinnert sich, wie Mikovits im Laufe der Zeit immer dogmatischer geworden sei. «Sie hat sich geweigert, die Gegenbeweise auch nur verstehen zu wollen.»

Es war, als würde Mikovits in einem Ruderboot sitzen und verzweifelt dem Ruhm nachrudern, der am Horizont verschwand. Ende 2011 wurde dann das Paper von dem Fachmagazin Science zurückgezogen - gegen den Willen von Mikovits. «Dass Autoren den Rückzug nicht mittragen, kommt oft vor», sagt Ivan Oransky von Retraction Watch, einem Portal, das zurückgezogene Studien sammelt. In einem heute vergessenen Moment im Jahr 2012, einem ihrer letzten als Wissenschaftlerin, gab sie zu: «Es gibt keinen Beweis, dass XMRV ein menschliches Pathogen ist. Das Virus ist schlicht nicht da (Anm. d. Red: im Blut).» Diese Einsicht verflüchtigte sich aber bald wieder und Mikovits verliess den Weg der Wissenschaft endgültig. Weshalb akzeptierte sie die ihr widersprechenden Resultate nicht?

Hier gibt es zwei Antworten. Entweder: Mikovits log bewusst und hatte vielleicht schon vorher die Daten manipuliert. «Darüber gab es in Fachkreisen grosse Diskussionen», sagt Coffin. Der Glaube an Verschwörungstheorien entstammt dem Stammhirn. Dem Instinkt. Auch Judy Mikovits folgte diesem: «Es roch nach Virus», so beschreibt sie den Moment, als ihr die entscheidende Idee für die Ursache von CFS kam.

«Instinkt ist evolutionär verbunden mit Angst», sagt der Psychologe Pascal Wagner-Egger, der an der Universität Fribourg Verschwörungstheorien erforscht. «Als wir noch Jäger und Sammler waren, war es lebensrettend, in Bruchteilen von Sekunden von einem Geräusch auf ein Raubtier zu schliessen.» Diese Art von Denken ist enorm schnell, aber auch enorm fehleranfällig. So haben denn auch Experimente ergeben, dass Menschen eher dazu neigen, Verschwörungstheorien zu glauben, wenn sie gestresst sind.

Neben Angst spielt den Verschwörungstheorien aber noch etwas anderes in die Hände: Menschen tendieren generell dazu, etwas zu glauben. Der erste Reflex bei einer neuen Information ist, sie anzunehmen. Wir glauben also eher, als dass wir zweifeln. Aber auch analytisches Denken hilft nicht immer. So neigen wir dazu, eine Meinung, ist sie einmal gefasst, einseitig zu untermauern. Wir suchen nach bestätigenden Argumenten, lassen die widerlegenden eher unter den Tisch fallen.

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Judy Mikovits liess Gegenargumente nicht nur unter den Tisch fallen, sondern warf sie in hohem Bogen aus dem Fenster. Ihr widersprechende Ergebnisse erklärte sie damit, dass die Viruslast im Blut so klein sei, dass andere Labore mit ihren Methoden die Viren nicht detektiert hätten. Sie warf anderen Forschenden vor, eine unangenehme Wahrheit verschweigen zu wollen. Und sie behauptete plötzlich, es sei nicht spezifisch um XMRV gegangen, sondern um eine Übergruppe von Viren.

Unterstützung fand Mikovits bei radikalen CFS-Patientengruppen, welche eine Verschwörung von Pharma, Wissenschaft und Regierung witterten. Diese Gruppen begannen sogar Forschende, welche die Resultate von Mikovits widerlegt hatten, mit Todesdrohung einzudecken. Bald scharte Mikovits noch weitere Patienten-Gruppen um sich, allen voran Autismus-Betroffene.

In ihrem Buch steht: «Leute sagten oft, sie (Mikovits) habe eine zweite Karriere, eine Berufung, in den Worten ihres starken christlichen Glaubens, als Advokatin der Patienten.» Gerade ihre Nähe zu Patienten war und ist problematisch: «Neutralität und Empathie sind zentral für ethisches Verhalten in der Wissenschaft», sagt Susanne Driessen, Präsidentin des Schweizer Dachverbandes der Forschungsethikkommissionen. Den Patienten positive Ergebnisse zu versprechen oder Ergebnisse zu verbreiten, die nicht bewiesen sind, sei zutiefst unethisch. Genau das aber tat Mikovits.

Dann ging es nur noch bergab: Etwa zur gleichen Zeit, als Science 2011 ihre Studie zurückzog, wurde Mikovits vom Whittemore Peterson Institute for Neuro-Immune Disease wegen Gehorsamsverweigerung gefeuert: Sie hatte sich geweigert, in ihrer Forschung verwendete Zellen mit einem Kollegen zu teilen. Dann wurde sie verhaftet: Angeblich hatte sie Computer und Daten gestohlen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war die Verwandlung zur Verschwörungstheoretikerin vollzogen.

Fortan stellte sich Mikovits als Opfer eines Komplotts der Regierung dar, inszenierte sich religiös und sah sich auf göttlicher Mission. Fast immer trägt sie in ihren Auftritten ein Kreuz um den Hals und in ihren Büchern, Interviews und Videos spielt der christliche Glaube stets eine Rolle. In ihrem Wortschatz tauchen Wörter wie «das Böse», «Engel und Teufel» und «Sünde» auf. Wörter, die mit Wissenschaft nichts zu tun haben.

Mikovits fühlt sich auf einer Mission: «Gott hat nicht vorgesehen, dass wir Tier-Viren direkt in den Blutstrom injizieren», steht da zum Beispiel in einem ihrer zwei Bücher. Damit zeigt Mikovits ein Denken, das vielen Verschwörungstheoretikern eigen ist: der Glaube an eine Vorbestimmung in weitestem Sinne. Studien zeigen, dass Menschen, die teleologisch denken, also glauben, dass alle Prozesse zielgerichtet ablaufen, zu solchen Theorien neigen. Auch Personen, die in extremer - vor allem rechter, aber auch linker - Opposition zur Regierung stehen, greifen zu diesen Theorien.

Mikovits selbst bezeichnet sich zwar als unpolitisch, aber in den letzten Jahren rückte sie in ihren Verbindungen immer mehr nach rechts. Dass sich Verschwörungstheorien gegen die Eliten richten, ist ein eher neues Phänomen. Vor den 1960er-Jahren waren solche Theorien Bestandteil des politischen Mainstreams und richteten sich gegen unten und aussen - gegen Minderheiten und Fremdes. Dementsprechend finden Verschwörungstheorien heute ihre Anhängerschaft oft bei Menschen, welche vom System kaum honoriert werden, also zum Beispiel wenig Verdienende.

Zu diesen gehörte auch Mikovits, nachdem ihre Karriere als Wissenschaftlerin zerbrochen war. Was aber macht Verschwörungstheorien so attraktiv? Zuerst einmal sind solche Theorien unschlagbar gute Geschichten. «Es sind Geschichten wie aus einem Hollywood-Film», sagt Michael Butter, Professor und Literaturwissenschaftler an der Universität Tübingen, der sich seit Jahren mit Verschwörungstheorien beschäftigt. Es sind Erzählungen von Gut und Böse, von Helden und Bösewichten. Bei Mikovits sind es böse Menschen, welche die naive Bevölkerung krank machen.

Zufall, der das Coronavirus auf den Menschen überspringen liess, hat in dieser Geschichte keinen Platz. Es dominieren Handlungsstränge, in denen die Menschen ihr eigenes Schicksal bestimmen. Sie geben den Anhängern das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Deshalb neigen Menschen, die die Zukunft als unsicher wahrnehmen, eher zu Verschwörungstheorien. «Damit passt das Denken der Verschwörungstheoretiker besser in das 19. Jahrhundert», erklärt Michael Butter. Es ist ein Denken, das die Schwächen des Menschen verkennt.

Diese wurden erst im 20. Jahrhundert durch die Sozialwissenschaften aufgedeckt: Der Mensch hat eben nicht alles im Griff, ist manchmal auch ohnmächtig dem Lauf der Dinge ausgeliefert. Er ist getrieben von seiner Psychologie, geprägt von seiner Kultur und seinem Umfeld, belügt sich manchmal selber und macht Fehler. Diese Erkenntnis fehlt Verschwörungstheoretikern. «Verschwörungstheorien sind eigentlich schlechte Wissenschaft», sagt Butter, indem er Karl Popper zitiert. «Sie bieten eine schlechte Erklärung für soziale Systeme. Das heisst: Verschwörungstheoretiker überschätzen sich selbst.

«Menschen erliegen Vorurteilen, deshalb sollte jeder stets auch sich selbst in Zweifel ziehen», sagt Wagner-Egger. Dies aber tun Verschwörungstheoretiker nicht. Sie zweifeln an gängigen Erklärungen für Ereignisse. Das ist zwar durchaus legitim. Aber sie betrachten die eigene Erklärung als nicht anzweifelbar - egal, wie viele logische Lücken sie aufweist. Auch das liegt an unserer Psychologie: «Menschen haben generell ein Problem mit Zufall», sagt Wagner-Egger. Für jedes Ereignis muss ein Grund her.

«Unser Verstand tendiert zu Korrelation und Kausalität.» Und: Je gewichtiger ein Ereignis, desto gewichtiger muss auch der Grund sein. Stirbt ein Präsidentschaftskandidat zum Beispiel bei einem Mordanschlag, glauben viel mehr Leute an eine Verschwörung, als wenn er diesen überlebt. Genau diese menschlichen Schwächen versuche die Wissenschaft auszumerzen, so Wagner-Egger. Ihre Methode: Selbstkritik. Und genau diese Fähigkeit, sich selbst in Zweifel zu ziehen, fehlt Judy Mikovits. Stattdessen appelliert sie an Forschende, ihr zu glauben: «Ich weiss, dass das Virus da ist. Glaubt mir.» Jedoch basiert Forschung nicht auf Glauben, sondern auf Beweisen.

Mikovits glaubt, als einzige die Wahrheit zu kennen, als einzige die wissenschaftliche Integrität zu wahren, als einzige nicht T... Michael Wendler schmiss seinen Job als Juror bei «Deutschland sucht den Superstar» hin - er vertraue dem Sender RTL nicht mehr, unzensierte Inhalte zu bieten.

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