Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Kindern: Indikation und Kontraindikation

Die Gründe, Interessen und Fragestellungen für diese Arbeit haben sich in den letzten Jahren richtiggehend "angesammelt". Es fliessen Inhalte ein aus den Bereichen meines Studiums an der Universität Bern (insbesondere einige sehr interessante Seminare, sowie mein Praktikum an der Praxisstelle von Klaus Grawe), aber auch an anderen Institutionen (POT-Seminare an der Psychiatrischen Poliklinik des Inselspitals in Bern und ein Praktikum an der Psychosomatischen Klinik in Grönenbach, wo eine Integration psychodynamischer und humanistischer Therapieansätze praktiziert wird) sowie meine eigene Psychotherapie-Ausbildung in Integrativer Therapie und Gestaltpsychotherapie am Fritz Perls Institut u.a. Die Begründer von drei der hier untersuchten sechs Psychotherapie-Richtungen waren und sind meine Lehrer auf dem Weg zur eigenen Praxis-Tätigkeit als Integrativer Psychotherapeut.

Psychotherapieforschung

Psychotherapieforschung ist wie die Psychoanalyse etwa 100 Jahre alt. Damals hat Freud mit dem detaillierten Studium einiger Einzelfälle begonnen. In enger Wechselwirkung zwischen Beobachtung, Theoriebildung und therapeutischen Interventionen entstanden so gleichzeitig die Psychoanalyse als Theorie über den Menschen sowie als Behandlungstechnik. In der Folge entwickelte sich die, damals vornehmlich von Aerzten ausgeübte, Psychotherapieforschung immer mehr von der Grundlagenforschung weg in Richtung Anwendungsforschung. Diese ist im Sinne von Herrmann (1979) technologische Forschung mit dem Ziel, möglichst effiziente Methoden für die Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen zu entwickeln. Die Forschung, welche sich auf die Ergebnisse oder die Wirkung von Psychotherapie bezieht, befindet sich in der paradoxen Situation, dass trotz der heute schier unzähligen, verschiedenen Psychotherapierichtungen (Corsini 1982 spricht von über 400), auf den ersten Blick keine Unterschiede in der Wirksamkeit gefunden werden konnten. Dies belegen berühmte Studien z.B. von Smith, Glass und Miller (1980) oder Luborsky, Singer und Luborsky (1985).

Von Luborsky stammt die Aussage, dass alle bekannteren Therapie-Verfahren einen Preis gewonnen haben, d.h. Erst in neuerer Zeit konnten differentielle Wirksamkeiten festgestellt werden, wonach sich Therapieformen in spezifischen Bereichen sehr wohl unterscheiden. Es konnte nachgewiesen werden, dass das von Luborsky postulierte "Dodo-Verdikt" (oder auch "Aequivalenzparadoxon" (Stiles 1986)), wonach alle Psychotherapieformen wirksam seien, so nicht stimmt.

Die vier herausgearbeiteten Heuristiken (reflektierende Abstraktion, Emotionsverarbeitung, Kompetenzerweiterung und Beziehungsgestaltung) werden unterschiedlich eingesetzt. Mehr noch: "Die meisten der empirisch gefundenen Unterschiede stimmen gut mit den Konzepten der jeweiligen Therapieformen überein" (S.335). Dabei schneidet insbesondere der interaktionale Therapieansatz in verschiedenen Bereichen besonders gut ab. Das Fazit der Berner Forschungsgruppe: "Wir interpretieren die Ergebnisse dieser Untersuchung in erster Linie als einen Hinweis darauf, dass Flexibilität im Beziehungsverhalten und im technischen Vorgehen zu den wichtigsten Qualitäten eines erfolgreichen Psychotherapeuten gehören. Durch die Schulenorientierung im Bereich der Psychotherapie wird die Entwicklung dieser Qualitäten nicht gefördert, sondern eher behindert. Für die Verbesserung der gesellschaftlichen Dienstleistung "Psychotherapie" wäre es wichtig, theoretische Konzepte und Ausbildungsformen zu entwickeln, die diese therapeutischen Qualitäten systematisch fördern" (a.a.O. S.

Quantitative und Qualitative Messmethoden

In neuerer Zeit wird diese, nach empirisch-nomothetischen Gesichtspunkten zusammengestellte, Messvorgehensweise im Rahmen des Qualitätsmanagements diskutiert. Sonst droht der Psychotherapie eine Einverleibung "von aussen" durch Juristen, Gesundheitspolitiker und Mediziner, welche mehrheitlich einer Optimierung und Technologisierung das Wort reden. Es ist also an uns Psychologen, die humanistischen und geisteswissenschaftlichen Werte zu fördern, wenn wir nicht zu Psycho-Technikern werden wollen ! (vgl.

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Diese im folgenden aufgelisteten Fragebogen werden meistens zu vier verschiedenen Messzeitpunkten (prä, post, follow up I und II) den Klienten zum Ausfüllen vorgelegt.

  1. Veränderungen im Persönlichkeits- oder Fähigkeitsbereich (z.B.
  2. Veränderungen im Freizeitbereich (z.B.

Nebst der Psychotherapeutischen Praxisstelle der Uni Bern wird eine solche (oder ähnliche) Messbatterie z.B. auch am Psychiatriezentrum Oberwallis in Brig (Anthenien/Grünwald 1996) und an der Privatklinik Wyss in Münchenbuchsee (mdl. Mitteilung Urban Scherer 1997) angewendet.

Da die generelle Fragestellung nach allgemeiner Wirksamkeit sich als zu grob und wenig ergiebig erwiesen hat, versuchen neuere Forschungsansätze mehr ins Detail zu gehen und es wird herauszufinden versucht, was sich in (einzelnen) psychotherapeutischen Sitzungen genau ereignet. Dies beinhaltet verbales, aber auch nonverbales Geschehen und insbesondere die Interaktion zwischen Therapeut und Klient. Die vorliegende Untersuchung gehört zu diesem Typus. Historisch entstand dieses Verfahren in den fünfziger Jahren mit der Entwicklung des "Interpersonal Circle" durch Timothy Leary.

In 8 Clustern wurde interaktionelles Verhalten beschrieben (von submissiv zu dominant und von freundlich-zugeneigt zu feindselig-ablehnend). In einem sog. Circumplex-Modell werden alle Cluster kreisförmig angelegt. Ueberarbeitungen von Kiesler (1982) und v.a. von Lorna Smith Benjamin (bereits 1974 und 1994) führten zur heutigen vielverwendeten und auch vielversprechenden Form zur Erfassung interaktionalen Verhaltens. Es gibt zwei Anwendungsmöglichkeiten: a) Interaktionsmessung mittels Fragebogen (sog. SASB Intrex) und b) das Beobachtungssystem SASB (M.

In diesem Verfahren werden meist mittels Rating-Bogen bzw. Kategoriensystemen entweder in vivo oder mit Hilfe von Video-, Tonbandaufzeichnungen oder Transkripten reale Situationen aus dem zu untersuchenden Lebensbereich (hier meist Psychotherapien) erfasst. Für diese Arbeit hier benutzte ich ein Kategoriensystem, welches auf Videomittschnitte angewendet wird (siehe Kap.

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Statt direkt Verhalten zu beobachten, kann solches auch im Nachhinein erfragt werden, mittels z.B. Therapie-Stundenbögen. mittels Video Rating-Systemen im "Slow Motion-Verfahren", z.B. in den derzeit laufenden Projekten der Grawe-Gruppe zur "Wirkfaktorenanalyse" (Grawe/Dick et al. 1996). Dabei kann insbesondere auf nonverbale Signale geachtet werden - ein Manko unseres Systems, das im Video-"Echtzeit-Verfahren", bzw. auf der alltäglichen Meso-Ebene verbale Aussagen codiert (s.u.).

Zwei wichtige Gebiete, welche m.E. in nächster Zeit verstärkt beforscht werden sollten, sind die Differentielle Indikation, wie sie z.B. in der Berner Psychotherapiestudie (Grawe/Caspar/ Ambühl 1989) sehr schön durchgeführt wurde (siehe auch Grawe 1982) und die Forschung zum "Matching" von Therapeut und Klient. Die Frage also, auf welche Faktoren es ankommt, damit ein bestimmter Klienten gut mit einem bestimmten Therapeuten zusammenarbeiten kann bzw. umgekehrt.

Wenn diese beiden Themenbereiche klarer herausgearbeitet werden (auch mittels Einzelfallanalysen, z.B. Arnold/Grawe 1989), wird es mit der Zeit möglich sein, auf die Indikationen und insbesondere die Kontraindikationen für ein bestimmtes Verfahren eingehen zu können und Klienten von Anfang an mit einem für sie geeigneten Therapeuten mit einer für sie geeigneten psychotherapeutischen Ausrichtung bekannt zu machen.

Jede Therapieform hat m.E. ihre Stärken und Schwächen; somit erscheint es sinnvoll, z.B. Menschen mit ausgesprochener Angst-Symptomatik (z.B. soziale oder einfache Phobien) mit (kognitiver) Verhaltenstherapie zu behandeln, Personen hingegen mit strukturellen Defiziten (sprich: Persönlichkeitsstörungen) eher psychoanalytisch zu behandeln. Ueber diese Zuordnungen wird natürlich zwischen den Schulenanhängern sehr gestritten und ein Konsens ist noch in weiter Ferne, scheint mir aber sehr vonnöten, wenn Psychotherapie auch eine breite gesellschaftliche Anerkennung und Relevanz bekommen will (vgl.

Immer mehr wird das psychotherapeutische Prozessgeschehen mit den erreichten Ergebnissen in Beziehung gesetzt, es wird also versucht, (kausale) Verbindungen zu suchen zwischen z.B. "Patient’s in-session impacts" und dem "postsession outcome" oder zwischen der therapeutischen Beziehung ("therapeutic bond") und dem "outcome" etc. (vgl. Orlinsky/Grawe/Parks 1994 bzw. Abb.

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Oft werden auch in Prozess-Studien Bezüge zum Outcome hergestellt; dies ist u.a. Ein Nachteil der vorliegenden Studie ist gerade hier zu sehen: mangels Daten zum Outcome zu den erhobenen Messungen ist es nicht möglich einen Bezug von Prozess (hier: Art, Häufigkeit und Verteilung der Interventionen) und Outcome (wie erfolgreich war dieses Vorgehen?) herzustellen.

Kritischer stellen Shapiro und Mitarbeiter (1994) den Forschungsstand dar: "Die Ergebnisse unserer Meta-Analyse zeigen, wie wenig substantiell unser empirisches Wissen über effektive therapeutische Techniken ist. Unsere Ansätze zur Validierung grundlegender Elemente wie Interpretation, Fokussierung auf Gefühle und Exploration hinsichtlich ihrer Beziehung zum Outcome waren bemerkenswert erfolglos ... Obwohl einige Interventionen erfolgreicher als andere erscheinen, wurden ihre Unterschiede zur marginalen statistischen Bedeutungslosigkeit reduziert, wenn mittels multipler Regressionsanalysen die methodischen Variationen zwischen den Studien kontrolliert wurden. Diese Befunde sind gleichermassen herausfordernd, ob man sie als Widerspiegelung der Grenzen des Forschungsparadigmas und der benutzten Methoden oder der Techniken selbst interpretiert" (S.

Dies sind zweifellos unbefriedigende Ergebnisse. Eva Jäggi (1991) beschreibt diese Forschungsbemühungen als "kleine Vergewaltigungen der Komplexität". Die Frage nach der Wirksamkeit von Psychotherapie hat in der Schweiz im Zusammenhang mit der (Wieder-) Aufnahme psychologisch-psychotherapeutischer Leistungen in die Grundversicherung der Krankenkassen wieder an Interesse gewonnen. Hier werden die unterschiedlichen Standpunkte von Forschern und Praktikern und von "Empirikern und Hermeneutikern" besonders deutlich (vgl.

Meta-Analysen

Weil natürlich einzelne Studien wegen den strengen Kriterien, welche die empirische Wissenschaft Psychologie an solche stellt, immer nur Stückwerk bleiben und lediglich einzelne Aspekte beleuchten, ist es je länger je mehr vonnöten, den mittlerweile unüberschaubaren Fundus an Forschungsresultaten in zusammenfassender Weise darzustellen. Das weiter unten zu besprechende "Generic model of psychotherapy" von Orlinsky und Howard (1986/88) bzw. Orlinsky, Grawe und Parks (1994), ...

BeschreibungAuf fundierte und ansprechende Weise vermitteln die AutorInnen des vorliegenden Bandes einen umfassenden Überblick über die Theorie und Praxis der analytischen und tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Durch zahlreiche Beispiele bringen die AutorInnen ihre Erfahrungen aus der klinischen Praxis mit PatientInnen und als Lehrende an Ausbildungsinstituten und Hochschulen ein.

Das Buch richtet sich an Studierende, PraktikerInnen und Lehrende der Psychoanalyse und ihrer therapeutischen Anwendungen, aber auch an Interessierte aus Medizin, Psychologie und Pädagogik.

Zusammenfassung»Insgesamt ist es den Autoren gelungen, eine sehr handliche und dennoch umfassende Übersicht über zentrale Themen einer psychoanalytischen und tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zu geben. Die Themen reichen von psychoanalytischer Theorieentwicklung über methodisch-technische Themen bis hin zu klinischer Krankheitslehre und Therapie mit Fokus auf Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und psychosomatischen Störungen sowie in kürzeren Kapiteln auch zu schizophrenen Psychosen, Psychopharmakotherapie, Sucht und selbstverletzendem Verhalten bzw. Suizidalität.

Hilfreich für die Praxis sind abschliessende Kapitel u.a. zu Rahmenbedingungen der Psychotherapie, ethischen Fragen, zu Ausbildungsthemen und Forschung sowie 'last but not least', was angesichts der Entstehungsgeschichte der Publikation naheliegend ist, zu inter- und transkulturellen Aspekten.« Daniel Sollberger, Swiss Archives of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy, 31. Januar 2020 »In der Gesamtschau bietet das Lehrbuch für die Zielgruppe der Ausbildungskandidaten, Studierende, Lehrende, Psychologen, Ärzte und Pädagogen eine fundierte Darstellung der Theorie und der Einsatzmöglichkeiten von psychoanalytisch begründeten Verfahren.« Miriam Köhler, Ärzteblatt PP Heft 11, November 2019 »Das Lehrbuch wurde von insgesamt 8 AutorInnen verfasst, wobei die Mehrzahl der Kapitel von den Herausgebern Matthias Elzer und Alf Gerlach verfasst wurden.

Es wurde viel Wert auf die Einbindung von Praxisbeispielen gelegt, die in nahezu allen Kapiteln eingefügt wurden. Der gut strukturierte Aufbau des Lehrbuchs ermöglicht es den Lesern, die theoretischen Grundlagen auf die praktische Tätigkeit zu übertragen und den Fallbeispielen zu folgen.« Anna-Lena Mädge, www.socialnet.de am 16. Juli 2019 »Das Buch ist auf dem neuesten Stand der Forschung und von Experten aus Theorie und Praxis geschrieben. Die Perspektivenvielfalt des Verfahrens sowie besondere Störungsbilder werden ausführlich berücksichtigt.« Michael Lausberg, www.scharf-links.de am 6. April 2019

Inhalt

  1. Theoretische Grundlagen
    1. Psychoanalytische Theorie des Seelenlebens Alf Gerlach
      1. Psychoanalytische Modelle der Seele
      2. Das Unbewusste: Freuds Topografisches Modell (1900)
      3. Primärprozess und Sekundärprozess, Lustprinzip und Realitätsprinzip
      4. Der psychische Apparat (Freuds Strukturmodell von 1923)
      5. Triebe und Psychosexualität
        1. Die Vermittlung von Trieb und Interaktionsfomen (Lorenzer, Zepf)
        2. Zweizeitige psychosexuelle Entwicklung
        3. Triebe, Partialtriebe und erogene Körperzonen
      6. Objektbeziehungen
        1. Objektbeziehungstheorien
        2. Teilobjekte und ganze Objekte
      7. Narzissmus und Selbst
        1. Selbstpsychologie
        2. Die Entwicklung und Regulierung des Selbstwertgefühls
        3. Das Drei-Säulen-Modell der Selbstregulation nach Mentzos
      8. Mentalisierung
    2. Psychoanalytische Theorie der Entwicklung Matthias Elzer
      1. Zur Methodik der analytischen Entwicklungspsychologie
        1. Konstruktion, Rekonstruktion
        2. Beobachtung
        3. Experiment, Versuchsanordnung
      2. Die psychische Entwicklung des Menschen über die gesamte Lebensspanne
        1. Die psychosexuellen Entwicklungsphasen der Kindheit
          1. Pränatale Zeit und Geburt
          2. Das erste Lebensjahr: Die orale Phase Abhängigkeit
          3. Das zweite und dritte Lebensjahr: Die anale Phase Kontrolle und Autonomie
          4. Das vierte bis fünfte/sechste Lebensjahr: Die infantil-genitale, phallische oder ödipale Phase die Triangulierung
          5. Sechstes bis zehntes Lebensjahr: Die Latenzzeit
        2. Das 10. bis ca. 20. Lebensjahr: Die Adoleszenz, die Pubertät
          1. Zehntes bis zwölftes Lebensjahr: Die Präpubertät oder Präadoleszenz
          2. Das 12. bis 18. Lebensjahr: Die Adoleszenz oder Pubertät
        3. Das Erwachsenenalter
          1. Das frühe Erwachsenenalter (20. bis 35. Lebensjahr)
          2. Das mittlere Erwachsenenalter (35. bis 65. Lebensjahr)
          3. Das hohe Erwachsenenalter (65. bis 80. Lebensjahr)
        4. Das hohe Alter (über 80.

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