Soziale Phobie (ICD-10): Kriterien, Diagnose und Behandlung

Die Soziale Angststörung (SAS) gehört zu den häufigsten und gleichzeitig am wenigsten beachteten Angststörungen. In Europa und den USA gilt sie als dritthäufigste psychische Störung hinter Depression und Alkoholabhängigkeit.

Epidemiologie und Umbenennung

Aufgrund ihrer epidemiologischen Relevanz (Lebenszeitprävalenz bis zu 10%) und ihres invalidisierenden Charakters, wurde sie im DSM-IV von Sozialer Phobie in «Soziale Angststörung» (Social Anxiety Disorder) umbenannt. Frauen sind von der SAS häufiger betroffen, aber Männer kommen eher in Behandlung.

Symptomatik und Diagnose

Die Diagnose kann nach den Kriterien von ICD-10 und DSM-IV erfolgen. Angstauslösend sind Situationen mit sozialer Exposition, in denen die Beobachtung und Bewertung durch andere erwartet wird. Betroffene haben Angst, etwas zu sagen oder zu tun, was peinlich sein könnte. Sie glauben, andere würden sie als inkompetent, schwach oder gar «gestört» beurteilen oder Symptome wie Zittern der Stimme, Tremor, Schwitzen, Nervosität bemerken und negativ bewerten.

Es kann zu Erröten, Zittern, Übelkeit, Miktions- oder Defäkationsdrang und allen psychischen, körperlichen und vegetativen Symptomen der Angst und sogar zu Panikattacken kommen. Manchmal kann bereits der Gedanke an die gefürchtete Situation eine massive Angstsymptomatik provozieren.

Formen der Sozialen Angststörung

Bei der nicht-generalisierten Form sind die Ängste klar eingegrenzt: z.B. Sprechen in der Öffentlichkeit, Autoritätspersonen gegenübertreten, Personen des anderen Geschlechts ansprechen, Essen mit anderen Menschen, jemandem vorgestellt werden, beim Schreiben oder Telefonieren beobachtet werden, Besuch empfangen, in einem Lokal in der Mitte sitzen. Die Ängste können sich aber auch zu einer generalisierten SAS ausdehnen.

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Ein häufiges Phänomen ist die sog. «negative Suggestibilität», d.h. negative Informationen über sich selbst werden besser erinnert als positive Rückmeldungen. So kann ein einziges negatives Erlebnis eine Vielzahl positiver Erfahrungen neutralisieren.

Verlauf und Komorbidität

Wie aus Abbildung 1 ersichtlich, tritt die Soziale Angststörung in der Adoleszenz auf, wobei oft eine Prodromalphase mit Schüchternheit und sozialer Gehemmtheit vorausgeht. 75% erkranken bis zum 21. Lebensjahr, ein Beginn nach 26 ist selten. Die SAS verläuft unbehandelt fluktuierend, neigt zur Progression und Chronifizierung und wird durch eine hohe Komorbiditätsrate (50-80%) kompliziert. Häufigste Folgeerkrankungen sind Depressionen, Alkoholabhängigkeit, andere Angststörungen, Drogen- und Medikamentenmissbrauch.

Ursachen

Die SAS entsteht im Zusammenspiel einer genetisch bedingten Vulnerabilität mit psychosozialen Faktoren. Belastende Erlebnisse in Kindheit und Jugend, körperlicher oder sexueller Missbrauch, ängstliche Eltern und Überbehütung werden als psychosoziale Ursachen diskutiert.

Es sind neurobiologische Dysfunktionen im serotonergen, noradrenergen, dopaminergen und GABAergen System sowie im Bereich der hypothalamisch-hypophysären-Nebennierenrinden-Achse gefunden worden. High-risk-Studien zeigen eine starke familiäre Transmission der Störung. Aufmerksamkeitsstudien zeigen Wahrnehmungsfehler für soziale Reize, welche übermässig beachtet und als bedrohlich eingestuft werden. Dies erklärt die Leistungsminderung bei Prüfungsangst.

Diagnostische Überlegungen

Typisch für SAS-Betroffene ist der Versuch, ihre Erkrankung zu verbergen. So führen oft erst Verschlimmerungen der Angst, z.B. infolge einer Beförderung, die Betroffenen zum Arzt. In der Sprechstunde stehen dann fast immer die vegetativen körperlichen Beschwerden im Vordergrund, und die Angst wird kaum als zentrales Symptom erlebt und geschildert.

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Die Differentialdiagnose beinhaltet sowohl den Ausschluss organischer Ursachen, als auch der Panikstörung, Agoraphobie, Depression, Dysmorphophobie, Persönlichkeitsstörungen (v.a. unsichere PS) und Psychosen. «Lampenfieber» und Schüchternheit sind von der SAS abzugrenzen. Nach ICD-10 wird Angst vor grossen Menschenmengen als normal angesehen. Eine soziophobische Entwicklung bei familiärem essenziellem Tremor bedarf einer besonderen Beachtung, da dieser spezifisch behandelt werden kann.

Behandlung

Behandlungsziel ist die Remission, womit eine weitgehende Reduktion der Angst und eine normale soziale Lebensführung gemeint sind. Als Therapieoptionen stehen pharmakologische und psychotherapeutische Strategien zur Verfügung.

Pharmakotherapie

Eine adäquate Pharmakotherapie führt oft zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität. Substanzen aus der Gruppe der SSRIs und der SNRIs sind aufgrund ihrer guten Wirksamkeit und ihres günstigen Nebenwirkungsprofils Mittel erster Wahl. Bei Kindern sind die Warnhinweise der FDA (2003) für SSRI/SNRI zu beachten. Lange galten Irreversible Monoaminooxidasehemmer als am wirksamsten in der Behandlung der SAS. Da sie aber schlechter verträglich sind, einer Diät bedürfen und das Risiko einer hypertensiven Krise bergen, werden sie nur noch bei Therapieresistenz als Option geführt.

Die Benzodiazepine wie Clonazepam und Bromazepam sind wirksam und werden am Anfang der Behandlung häufig eingesetzt, sind aber in der Langzeitbehandlung nur von sekundärer Bedeutung. Die Stellung von Gabapentin und anderen Antiepileptika in der Behandlung der SAS ist noch unklar. Betablocker sind nur bei der nicht-generalisierten Form der SAS hilfreich, insbesondere bei Lampenfieber in Leistungssituationen (z.B.

Psychotherapie

Die wirksamste psychotherapeutische Strategie zur Behandlung der SAS im langfristigen Verlauf ist der Einsatz kognitiv-verhaltenstherapeutischer Elemente, insbesondere die Exposition gegenüber der gefürchteten Situation und die kognitive Umstrukturierung.

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Die Störung wird oft übersehen, und Betroffene kommen erst wegen Folgeerkrankungen wie Depression und Sucht in Behandlung, nachdem sie psychosozial bereits massiv eingeschränkt sind. Dies mag verschiedene Gründe haben: So ist soziale Unsicherheit und Ängstlichkeit ein Alltagsphänomen, das auch von Fachleuten unterschätzt wird. Die SAS ist aber eine psychische Störung mit Krankheitswert. Mit modernen Antidepressiva und Verhaltenstherapie lässt sie sich gut behandeln, wobei die Kombination beider Verfahren die besten Ergebnisse erzielt.

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