Sigmund Freud, geboren am 6. Mai 1856 in Freiberg (Mähren), war der Begründer der Psychoanalyse und eine der einflussreichsten Figuren des 20. Jahrhunderts. Seine Familie siedelte 1860 nach Wien über, wo er bis 1938 lebte und wirkte. Freud studierte Medizin und arbeitete als Neurologe, bevor er die Psychoanalyse entwickelte.
Die Psychoanalyse ist eine eigenständige Disziplin der Humanwissenschaften, die sich mit dem individuellen, gesellschaftlich geprägten Unbewußten im Menschen befasst. Sie fragt nach dem «Warum» und dem «Wozu» menschlichen Erlebens und Verhaltens und untersucht die Bezüge zu lebensgeschichtlichen und aktuellen Erfahrungen sowie deren Auswirkungen auf die Zukunftsgestaltung.
Freud formulierte, dass die Psychoanalyse eine Form der unaufhörlichen Wahrheitssuche ist. Heute sprechen wir eher von einem fortwährenden Bemühen um Erkenntnis und einem nicht endenden Fragen nach dem Sinngehalt von Erleben und Verhalten. Indem sie sich bemüht, individuelle und kollektive Selbsttäuschungen, Täuschungen, Illusionen und Wahrnehmungsverzerrungen aufzudecken, hilft sie den Menschen, Berührung mit ihren Tiefen und Untiefen zu finden.
Die Psychoanalytische Untersuchung
Die psychoanalytische Untersuchung besteht in einer besonderen Form der Begegnung zwischen Menschen. Sie ist in erster Linie ein Gespräch, allerdings eines mit bestimmten Spielregeln, das sich von der gewöhnlichen Kommunikation unterscheidet. Durch die psychoanalytische Grundregel wird der Analysand angeregt, alles, was er spürt, was er fühlt und was ihm einfällt - sei es ihm auch unangenehm, peinlich oder erscheine es ihm unangemessen und unwichtig - möglichst unausgewählt und unzensiert zu Äußern.
Der Psychoanalytiker versucht, diesen freien Assoziationen mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zu begegnen; das bedeutet, daß nichts a priori bevorzugt, gewichtet oder bewertet wird. Indem sich der Analytiker so in eine Befindlichkeit größtmöglicher Offenheit seines Fühlens, Denkens und Wissens begibt, bemüht er sich, der unbewußten Aktivität des Analysanden und seiner selbst möglichst freien Raum zu eröffnen.
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Übertragung und Widerstand
Übertragung ist eine in allen Beziehungen wirksame Erscheinung, bei der eine aktuelle Erfahrungssituation unbewusst nach dem Muster einer früheren interpretiert wird. Im pathologischen Fall heißt das, daß ein Patient die Gegenwart entsprechend seiner Vergangenheit mißversteht, an die er fixiert ist. Der Analytiker nimmt als Übertragungsleinwand in den Phantasien des Analysanden bestimmte Rollen früherer Beziehungspersonen ein oder repräsentiert Selbst-Anteile des Analysanden.
Als Widerstand werden all die unbewußten Kräfte und Abwehrmechanismen bezeichnet, die sich dem Bewußtwerden des Verdrängten entgegenstellen. Die im eben dargestellten Sinne «freien» Einfälle des Patienten erweisen sich nicht als zufällig, sondern zeigen die «determinierende Ordnung» des Unbewußten auf. Dementsprechend besteht die Aufgabe der Psychoanalyse darin, im «Kampf um die Erinnerung» gegen unbewußte Widerstände die unbewußten lebensgeschichtlichen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge im aktuellen Erleben und Verhalten erkennbar zu machen, zu rekonstruieren und zu deuten.
Neben einer langjährigen theoretischen und praktischen Weiterbildung hat der Psychoanalytiker vor allem eine mehrjährige persönliche Lehranalyse absolviert, um sich auf diese Aufgabe vorzubereiten. In den Träumen, Fehlleistungen, Symptomen und anderen seelischen Produktionen der Menschen und in den Einfällen des Analysanden begegnen dem Analytiker die unbewußten Inhalte vorwiegend in verzerrter, verschobener und verdichteter Form, in symbolischer Darstellung. Sie bedürfen also einer Interpretation. Schließlich macht sich die Psychoanalyse seit ihren Anfängen als Wissenschaft fortlaufend selbst zum Gegenstand ihrer Analyse.
Die Psychoanalytische Theorie
Die psychoanalytische Theorie ist ein komplexes System von Hypothesen über die Funktionsweisen und die Entwicklung der Seele. Dabei geht es zwar stets um den Einzelnen, jedoch immer in seinem sozialen Kontext. Da sich unbewußte Inhalte wie auch andere seelische Phänomene in der Regel nicht direkt beobachten lassen, sind Modellvorstellungen und hypothetische Konstrukte unumgängliche Voraussetzungen und Hilfsinstrumente für das Erfassen seelischer Wirklichkeiten.
Durch ständige Wechselwirkungen mit klinischen Erfahrungen und unter Einbeziehung der Forschungsergebnisse von Nachbardisziplinen entwickeln sich die Denkmodelle der Psychoanalyse ununterbrochen weiter. Deswegen ist es eigentlich auch unmöglich, von «der Psychoanalyse» zu sprechen. Der amerikanische Psychoanalytiker Pine hat kürzlich «vier Psychologien der Psychoanalyse» unterschieden: die Trieb- Psychologie, die Ich-Psychologie, die Selbst-Psychologie und die Objektbeziehungs-Psychologie.
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Topisches, Dynamisches und Strukturmodell
In einem ersten räumlichen, «topischen» Vorstellungsmodell unterschied Freud zwischen Bewußtem, Vorbewußtem und Unbewußtem. Während das Vorbewußte relativ leicht dem Bewußtsein zugänglich werden kann, setzt das eigentliche oder dynamisch Unbewußte dem Bewußtwerden Widerstand entgegen. Die Funktionsweisen des Unbewußten werden als primärprozeßhaft bezeichnet. Damit ist gemeint, daß die gewöhnlich gültigen Orientierungen in Raum und Zeit entfallen, Widersprüche unvermittelt nebeneinander existieren können, Teile für das Ganze stehen können, Verschiebungen vorkommen oder Komplexe verdichtet werden können. Jede rationale Logik ist ausgeschaltet. Träume werden zum Beispiel mittels solcher primärprozeßhafter Denkvorgänge gestaltet.
Das dynamische oder ökonomische Modell erfaßt, daß im Seelenleben Kräfte und Antriebe am Werk sind (Bedürfnisse, Wünsche, Affekte, Empfindungen, Energien, Impulse), die bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Es betont vor allem die Prägung des Erlebens und Verhaltens durch Triebe oder Motivationssysteme (zum Beispiel Sexualität, Aggression, Narzißmus). Freud stellte das Lustprinzip dem Realitätsprinzip gegenüber.
Im Struktur- oder Instanzenmodell werden drei seelische Bereiche voneinander abgegrenzt und in ihrer dynamischen Interaktion untersucht: das Ich, das Es und das Über-Ich (mit dem Ich-Ideal). Im Es werden neben angeborenen Anteilen insbesondere die Triebe, Bedürfnisse und Grundaffekte und das aus dem Bewußtsein Verdrängte lokalisiert. Das Über-Ich umfaßt vor allem die während der Entwicklung verinnerlichten moralischen Forderungen, Vorschriften und Verbote der Mitwelt, während im Ich-Ideal die Gebote, Ideal- und Wertvorstellungen angesiedelt werden. Das Über-Ich hat unter anderem die Funktionen des Gewissens und der Selbstbeobachtung, wirkt ich-unterstützend und haltgebend, aber auch als Richter, Kritiker und Zensor.
Entwicklungspsychologie und Objektbeziehungen
Unter genetischer Betrachtung (als Entwicklungspsychologie) untersucht die Psychoanalyse, wie in den verschiedenen Entwicklungsabschnitten phasenspezifische psychosoziale Entwicklungsherausforderungen und Krisen durchlebt werden. Sie führen je nach ihrem geglückten oder mißglückten Verlauf, ihren gelingenden oder mißlingenden Lösungsversuchen und Lösungen zu bestimmten Identitätsdimensionen, zur Ich-Reife oder zu seelischen Erkrankungen. Entwicklung ist für die Psychoanalyse seit Freud immer lebensgeschichtliche Einigung zwischen «innerer» (biologischer) und «äußerer» (gesellschaftlicher und kultureller) Natur im Sinne einer Ergänzungsreihe.
Liegt das Schwergewicht auf der Untersuchung des intersubjektiven Geschehens zwischen dem Selbst und seinen Objekten im Rahmen von Entwicklung, Psychodynamik oder seelischer Erkrankung und Behandlung, werden die Objektbeziehungs-Psychologie oder die interpersonelle Psychoanalyse bedeutungsvoll. Sie wurzeln in der Grundannahme, daß das psychische Leben wesentlich auf der Verinnerlichung von Erfahrungen und Szenen beruht, die das Subjekt von Beginn an in Verbindung mit seinen bedeutsamen Objekten macht. Soweit sich die psychoanalytische Perspektive mehr auf die Entwicklung des eigenen Selbst konzentriert, bekommen die Theorie des Narzißmus oder die Selbst-Psychologie grundlegende Wichtigkeit.
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Die Selbst- Psychologie räumt dem Narzißmus eine eigene bedeutsame Entwicklungslinie ein. Als reifere Ausdrucksformen des gesunden Narzißmus gelten zum Beispiel Wissen, Humor und Kreativität. Sowohl in der Selbst-Psychologie als auch in der Objektbeziehungs- Psychologie sind die emotionale Einfühlung in den Patienten und die personale Resonanz des Psychotherapeuten besonders wichtig für die Behandlungstechnik.
Vorstellungen über seelisches Kranksein
Vorstellungen über seelisches Kranksein stehen immer in einem Bezug zu den Annahmen über seelische Gesundheit. Die Psychoanalyse sieht den lebendigen und gesunden Menschen als ein Wesen im Widerspruch an, von Geburt an ständig mit dem Bewältigen und Meistern von Entwicklungsherausforderungen und Konflikten befaßt. Er sucht nach Antworten auf seine Fragen und Lösungen für seine Zweifel, ist aber auch in der Lage, zu ertragen, daß manche Fragestellungen offen bleiben müssen, bestimmte Widersprüche nicht auflösbar sind und Paradoxien zum Lebendigsein gehören, ohne darüber in Gleichgültigkeit, Fatalismus oder Zynismus zu verfallen.
Seelische Krankheiten sind in dieser Bewältigungsaufgabe, bisweilen ihrer Überlebensfunktion, oft bewundernswerte kreative Ich-Leistungen. Sie können jedoch zu einem anderen Lebenszeitpunkt anachronistisch und dysfunktional werden, das heißt, ihre ursprüngliche Bestimmung als Lösungs- und Bewältigungsversuch nicht mehr erfüllen und somit Leidensdruck hervorrufen. Der Begriff der seelischen «Störung» wird der sinnhaften Funktionalität und Bearbeitungsleistung, die sich im Symptom oder der Erkrankung zeigt, nicht gerecht. Denn er suggeriert vorrangig die Notwendigkeit einer Beseitigung der Störung, ohne den darin enthaltenen Motivierungen und Bewältigungsversuchen hinreichenden Verständnisraum anzubieten und zu gewähren.
Die gesunde wie die kranke Persönlichkeit läßt sich im Rahmen des Strukturmodells durch das funktionale Verhältnis zwischen Ich, Es und Über-Ich und deren Beziehung zur Mitwelt näher bestimmen. Fehl- und Mangelentwicklungen des Ich (Ich-Defekte und Ich-Defizite) und krankheitsbedingte unnötige Energieverschwendungen behindern, ja verhindern seine Kontroll- und Steuerungsaufgaben. Die Hemmung bestimmter Ich-Funktionen (zum Beispiel Realitätsprüfung, Triebregulation, Kompromißbildung) beziehungsweise im anderen Fall ihr unangemessenes Tätigwerden führen zu Selbsttäuschungen und Selbstbehinderungen, ja sie können sogar Krankheiten und Selbstbeschädigungen nach sich ziehen.
Die Aktualität und Bedeutsamkeit der Psychoanalyse als Form der Psychotherapie ergibt sich vor allem aus ihrer hochdifferenzierten und umfassenden Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie und ihrer Krankheitslehre. Kein Psychoanalytiker erhebt den Anspruch, eine Psychotherapie für alle psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen anbieten zu können. Auch mit dem Begriff «Heilung» geht der Psychoanalytiker außerordentlich behutsam um.
Einer psychoanalytischen Therapie voraus gehen ein oder mehrere Vorgespräche, sogenannte klinische Erstinterviews. Sie unterscheiden sich von einer medizinischen Anamnese oder psychiatrischen Exploration durch eine absichtsvolle Unstrukturiertheit, die der Entfaltung der psychischen Dynamik des Patienten in der Analysand-Analytiker-Beziehung möglichst großen und freien Spielraum anzubieten versucht. Die Au fmerksamkeit des Psychoanalytikers stellt sich grundsätzlich nicht in erster Linie auf«objektive» Fakten ein, sondern auf die subjektive Bedeutung, die das mit Worten oder mit körperlichen oder gestischen Äußerungen zur Sprache Gebrachte oder das Verschwiegene für die...
Das Haus Berggasse 19
Ein halbes Jahrhundert lang lebte und arbeitete Sigmund Freud in der Wiener Berggasse 19, bis er 1938 vor den Nationalsozialisten ins Londoner Exil fliehen musste. Die Aktualität der Bücher des Arztes und Analytikers, die von den Nazis öffentlich verbrannt wurden, lebt ungebrochen weiter. Freuds Einsichten in die menschliche Seele haben unser Denken nachhaltig verändert; sie stehen bis heute für ein aufgeklärtes Miteinander in unserer Gesellschaft. Darum ist es wichtig, diesen Ort, der die Errungenschaften und Erkenntnisse Freuds lebendig hält, als Sprachrohr für Offenheit und Toleranz zu sichern und gemeinsam ins 21.
Freunde der Familie hatten das Mobiliar aus Wien in das Londoner Haus schaffen lassen, das heute als Museum Besucher willkommen heisst. Im Erdgeschoss befindet sich das Behandlungszimmer, in dem der Professor bis kurz vor seinem Tod schrieb und deutete. Es ist ein dunkler, vollgestellter Raum, an einer Wand die Couch mit dem teppichartigen Stoff, dahinter der Sessel, auf dem der Analytiker zuhörte, daneben sein Pult mit den aufgereihten Statuen, «meine dreckigen Götter», wie er sie nannte, der sich selber als «gottlosen Juden» bezeichnete. Den Wänden entlang reihen sich Büchergestelle aneinander, darin Psychologie, Kulturgeschichte, Archäologie, Literatur. Freud las Griechisch und Lateinisch ab Blatt, sprach ein vorzügliches Englisch, hatte in Paris beim Neurologen Jean-Martin Charcot studiert und verstand Italienisch, Spanisch und etwas Hebräisch. Sein liebster Autor war William Shakespeare, seine liebste Gattung die Satire, ausserdem identifizierte er sich mit Sherlock Holmes. Als Kind hatte er Hannibal verehrt, den karthagischen Kriegsherrn, der es den Römern gezeigt hatte.
Freud, der das 20. Jahrhundert aufwühlte, hat wie im 19. Jahrhundert gewohnt. Auch noch in London, wo er «in Freiheit sterben» wollte, wie er in einem Brief schrieb. Seine Theorien sind verblichen, die Figur bleibt gegenwärtig: Alles ist weg, nur er nicht. Jeder kennt den Mann mit dem dunklen Blick hinter der Hornbrille, dem asketischen Altersgesicht, dem in den Bart geschnittenen Mund, hinter dem sich über 30 Gaumenoperationen verbergen, die Freud sich als obsessiver Zigarrenraucher eingehandelt hatte. Aber wenn er nicht rauchen durfte, konnte er nicht schreiben. Sigmund Freud verkörpert den Therapeuten so wie Albert Einstein den Wissenschaftler und Mick Jagger den Rockstar.
Kritik und Vermächtnis
Wenig von dem, was er mit seiner rigorosen, wenn auch immer wieder umformulierten und neu gedachten Theorie über die Psyche des Menschen geschrieben hat, scheint die Kritik überlebt zu haben. «Die Psychoanalyse ist der Aberglaube des Jahrhunderts», schrieb der Autor Dieter E. Zimmer in «Tiefenschwindel», seiner berühmt gewordenen Polemik. Zwar habe Freud als Neurologe angefangen und sich als Wissenschafter ausgegeben. Dennoch habe sich keine seiner Theorien bisher empirisch belegen lassen.
Der Wiener Psychiatrie-Reformer Stephan Rudas formulierte es so: «Ich glaube nicht, dass man neu diskutieren sollte über die Frage, ob denn die ersten 15, 16 Lebensmonate eines Menschen von entscheidender Bedeutung sind.» Es behaupte auch niemand mehr, es gebe kein Unbewusstes, und die sexuellen Impulse hätten keine Bedeutung für das Seelenleben. Also zeigen sich Freuds grösste Erfolge daran, dass sie niemand mehr als die seinen wahrnimmt.
Dazu gehört seine Haltung gegenüber seinen Patientinnen und Patienten; sie ist dermassen selbstverständlich geworden, dass man sie gar nicht mehr als Haltung erkennt. Dabei hält Mario Erdheim sie für Freuds grösste Leistung: «Er war einer der ersten Ärzte», sagt er, «der seinen Patientinnen und Patienten zuhörte.» Mehr noch: Er habe das Zuhören als zentralen Bestandteil seines Verfahrens betrieben. Freuds Kollegen sprachen bestenfalls über die Patienten, aber nicht mit ihnen.
Freud dachte politisch liberal, ästhetisch konservativ und als Mann autoritär. Er mochte die moderne Kunst nicht und hatte keine Beziehung zur Musik. Er amtete als Patriarch, der die psychoanalytische Bewegung zusammenhielt wie ein Religionsgründer und dabei keine Abweichler duldete. Das bekamen sowohl C. G. Jung als auch Wilhelm Reich zu spüren, als Freud mit ihnen brach. Zugleich handelte er kühn und dachte modern. Mutig hielt er als Forscher an seinen provokativen Thesen fest, obwohl sie sich mit der katholischen Moral nicht vertrugen.
Bei allen Fehlkonstruktionen, die Freud unterlaufen sind, fällt auf, wie viele seiner Entdeckungen sich bestätigt haben. «Das Interessante ist, dass man bei ihm auf vieles verzichten kann, ohne dass das theoretische Gebäude zusammenbricht», sagt Mario Erdheim. Das gelte übrigens auch für die Praxis, ergänzt er und verweist auf «immer zahlreichere Untersuchungen, welche die Wirksamkeit einer psychoanalytischen Behandlung belegen».
«Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus», Freuds berühmten Satz, sieht der Philosoph Thomas Metzinger durch gesicherte Erkenntnisse der neueren psychologischen Forschung bestätigt: «Was wir für selbst kontrolliertes, bewusstes Denken halten, ist überwiegend eine fliessende Abfolge von ungebetenen Erinnerungen, spontanen Vorstellungen, Wünschen, Ängsten, Zwängen oder Tagträumen», sagt er.