Sigmund Freud, der Nervenarzt aus Wien, begann mit seiner "Traumdeutung" das neue Jahrhundert psychologisch zu vermessen. Er war ein stattlicher Mann Mitte vierzig, trug Bart und Anzug. Er redete mit angenehmer Stimme und konnte zuhören. Er hatte Humor, Bildung und sprach mehrere Sprachen. Sein dunkler Blick zeugte von stechender Intelligenz. Er war grosszügig, nachtragend und autoritär. Auf Kritik reagierte er empfindlich.
Aus den ersten psychoanalytischen Abenden in Wien entwickelte sich ein ritualisiertes Mittwochstreffen. Zuerst sollte jemand aus der Runde einen psychoanalytischen Vortrag halten, dann wurden Kaffee und Gebäck gereicht und das Thema durchgedeutet. Das Personal wechselte, Freud blieb, leitete die Versammlung und hatte das letzte Wort. Seine Autorität als Leiter der psychoanalytischen Bewegung wurde ebenso wenig hinterfragt wie seine Überzeugung, wonach alles seelische Leiden einen sexuellen Ursprung hat.
Steve Ayan thematisiert in seinem Buch "Seelenzauber" meisterhaft diesen Widerspruch. Ayan sieht das 20. Jahrhundert vom 21. aus. Sein Buch bringt uns die Vergangenheit und ihre Figuren wieder nahe. Ayan kann glänzend schreiben. Virtuos kombiniert er Anekdote mit Analyse, Charaktere und ihre Theorie, folgt den Verästelungen der psychoanalytischen Entwicklungen, skizziert die Persönlichkeit seiner Figuren. Er schreibt gleichermassen kritisch wie verständnisvoll. Und porträtiert dabei nicht nur Freud, sondern auch jene Schüler, die sich mit ihm überwarfen: den zum Spirituellen neigenden Basler Pfarrerssohn C. G. Jung zum Beispiel, den Sozialisten Alfred Adler oder den vom Orgasmus besessenen Wilhelm Reich.
Freuds patriarchalischer Charakter
Steve Ayan macht deutlich, wie sehr Freuds patriarchalischer Charakter der Psychoanalyse als Wissenschaft schadete, weil er Einwände als feindlichen Akt wertete und mit allen Gegnern brach, obwohl viele von ihnen die Besten waren. Denn es war so mit dem Alten: Wer sich ihm und seinen Dogmen unterwarf, wurde gefördert und weiterempfohlen, er durfte Patientinnen und Patienten zur Behandlung übernehmen. Wer widersprach oder Freuds Ansichten ablehnte, wurde exkommuniziert.
Der «gottlose Jude», wie Freud sich selber gerne nannte, konnte zwar aus der Bibel, der Thora und dem Koran auswendig zitieren. Dennoch hielt er die Religion für eine kindliche Projektion, eine Vatersuche ohne väterlichen Gott, einen vergeblichen Trost über das Elend des Lebens. Dabei trat er selber zunehmend auf wie ein Religionsgründer, der keine anderen Götter und keinen anderen Glauben duldet. «Der Mann Moses und die monotheistische Religion» hatte er seine späte Schrift genannt, er hätte gerade so gut vom Mann Freud reden können.
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Ausgerechnet mit seinem Dogmatismus hat Sigmund Freud der Psychoanalyse auch geholfen, bloss nicht seiner eigenen. Denn es wurde umso kreativer für die Jüngeren, sich vom Alten zu emanzipieren. Bei einem Jung war das nicht möglich. Seine Terminologie war so opak und spirituell verfilzt, dass man aus ihr heraus keine Weiterentwicklungen formulieren konnte.
Und doch hat nur halb recht, wer Sigmund Freud auf diese Weise entsorgen möchte. Denn wir ignorieren deshalb so viel von ihm, nicht weil es überholt wäre, sondern weil es so tief in unser Wissen über den Menschen eingesickert ist.
Dass Sigmund Freuds Vokabular so gegenwärtig bleibt, obwohl seine Theorien überholt sind, hat mit einem anderen seiner Talente zu tun: dem schreiberischen. Seine Krankheitsgeschichten seien wie Novellen zu lesen, erkannte Freud in einem Brief an Stefan Zweig, und obwohl er sich als gänzlich unmusikalischen Menschen beschrieb, liebte er Literatur, Bildhauerei und Malerei und verwendete sie in seinen Büchern als Anschauungsmaterial.
Als Bürgermeister von Wien agierte Karl Lueger, ein bekennender Judenhasser und das grösste Vorbild von Adolf Hitler. Erst als Freuds jüngste Tochter Anna 1938 von der Gestapo verhört wurde, flüchtet die Familie.
Im September 1939 treffen wir in London wieder auf Sigmund Freud. Drei Wochen vor seinem Tod und nach 32 Operationen wegen seines Gaumenkrebses. Soeben hat Hitler Polen überfallen lassen und kündet am Radio die Vernichtung aller Juden in Europa an. Freud stellt das Radio ab. Er wartet auf einen Gast: den Schriftsteller und Oxford-Akademiker C. S. Lewis. Dieser ist zum Christentum konvertiert und hat eine Satire auf die Ungläubigen geschrieben. «Warum wollen Sie jetzt ausgerechnet mit mir diskutieren?», fragt ihn Freud, als Lewis an diesem regnerischen Tag mit grosser Verspätung eingetroffen ist. Der Bekehrte will wissen, was Freud in seinem Unglauben hält. Zwei Stunden lang diskutieren die beiden miteinander, beide respektieren den anderen und fordern ihn heraus. Freud ist schlagfertiger, Lewis aufrichtiger.
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"Freud's Last Session": Ein fiktives Treffen
Der neue Film «Freud’s Last Session» von Matt Brown, in Europa zu Unrecht übersehen, imaginiert diese Begegnung. Von ihr wissen wir nur, dass Freud drei Wochen vor seinem assistierten Tod einen jungen Akademiker auf dessen Wunsch zum Gespräch bat. Ob es tatsächlich C. S. Lewis war, bleibt offen. Der Film mit einem überragenden Anthony Hopkins als Freud lässt es uns wünschen, mit dem schauspielerisch ebenso ebenbürtigen Matthew Goode als Lewis. Zwei uneinige Intellektuelle treten einander in diesem Kammerspiel gleichwertig gegenüber. «Mit jedem Fehler nähern wir uns der Wahrheit», sagt Sigmund Freud zuletzt.
Tatsächlich soll ein junger Mann kurz vor Freuds Tod im September 1939 den berühmten österreichischen Arzt in seinem Haus in London besucht haben, heisst es im Abspann des Films. In diesem Spielfilm ist es also «Freuds letzte Sitzung», und es ist niemand Geringeres als der überzeugte Christ Lewis, der dabei sein darf.
Das fiktive Treffen basiert auf einem Theaterstück von Mark St. Germain aus dem Jahr 2009, das wiederum auf dem Buch «The Question of God: CS Lewis and Sigmund Freud Debate God, Love, Sex, and the Meaning of Life» von Armand Nicholi basiert. Zwischen dem überzeugten Atheisten Freud und dem bekehrten Zweifler Lewis entspinnt sich ein Gespräch über Gott und die Welt.
Leider bekommen die Dialoge zum christlichen Glauben nie eine besondere Tiefe; das Denken des Psychoanalytikers steht im Film im Vordergrund. Natürlich sprechen die beiden intensiv über die Beziehungen innerhalb der jeweiligen Familienmitglieder, die Vater-Figuren etwa. Lewis stellt - unter Zustimmung Freuds - fest: «Der Wunsch, dass Gott nicht existieren möge, kann genau so stark sein wie der Glaube daran, dass er es tut.» Und natürlich geht es auch um Sexualität.
Immerhin thematisiert Brown mit einem Augenzwinkern, dass ausgerechnet Freud, der grosse Atheist, seine Wohnung offenbar voll gestellt hatte mit Statuen von Göttern.
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