Rumpelstilzchen: Eine psychologische Deutung des Märchens

Das Märchen «Rumpelstilzchen» aus der Sammlung der Brüder Grimm gehört zu den bekanntesten und faszinierendsten Erzählungen ihrer Zeit. Durch seine Spannung und Aussagekraft ist es fest verwurzelt im allgemeinen Volks- und Kulturgut. Es behält seine Aktualität bis auf den heutigen Tag. Die Interpretationsbreite dieses Märchens fordert alle Märchenfreunde auf, es immer wieder zu beleuchten.

Sigmund Freud meinte, dass in Träumen von Frauen häufig «Rumpelstilzchen-ähnliche Männchen» zu finden sind. Sie kommen immer dann, wenn guter Rat teuer ist. Charlotte Bühler hingegen sieht in dem Märchen einen Reifeprozess vom Mädchen zur Frau.

Die Figuren im Fokus

Die Müllerstochter

Ist es die Tochter des Müllers, deren Entwicklung von Anfang an von männlichen Personen bestimmt und erzwungen wird? Das Mädchen wird mit männlichen Erwartungen belegt, die es einlösen muss. Im Prinzip ist es nichts anderes als eine Art Ware ihres Vaters. Es wird von ihm dazu eingesetzt, aus der Armut zu entfliehen. Ein Mitspracherecht über den Handel, den ihr Vater mit dem König anstrebt, hat sie nicht. Ein individuell weiblicher Entwicklungsweg ist ihr dadurch gar nicht möglich. Die früh geprägte Fremdbestimmtheit bewirkt die Bedürfnis- und Willenlosigkeit des Mädchens. Es soll ausschliesslich ausführend tätig sein und das Stroh zu Gold spinnen.

Der Müller

Oder ist der Müller der Sieger? Die väterliche Beziehung zur Tochter steht für den allgemein üblichen Umgang mit Frauen. Die männliche Dominanz und die weibliche Fügsamkeit entsprechen dem Zeitgeist und sind für Frauen und Männer verbindlich. Die Müllerstochter wird so erzogen und dem König angeboten. Der Müller ist ein klassischer Vertreter einer männlich dominierten Gesellschaftsordnung. Er benutzt seine Tochter, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Ihre Wünsche und Vorstellungen sind für ihn nicht relevant. Mit dem Ziel der finanziell gewinnbringenden Verheiratung, von der selbstverständlich auch er profitiert, nimmt er in Kauf, dass seiner Tochter der Tod droht. Denn sie kann die Forderungen des Königs, die auf Versprechungen des Müllers zurückgehen, nicht erfüllen.

Der König

Aber auch der König könnte als Sieger dargestellt werden, denn auch er reiht sich in die beschriebenen Strukturen ein. Er überragt die Müllerstochter um ein Vielfaches. Der Königstatus beschreibt den Stellenwert des Mannes. Bereits vor der Hochzeit ist er eine gültige Persönlichkeit. Er setzt die Massstäbe, fordert, kontrolliert und belohnt. Die Frau muss nach seinen Vorstellungen werden und wird dann von ihm zur Königin erhöht. Sein Status und der damit verbundene Reichtum erheben ihn nicht nur über Frauen, sondern auch über weitere Männer, die ihm Untertan sind. Der König stellt seine eigenen Gesetzmässigkeiten auf und bestimmt die Regeln.

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Rumpelstilzchen

Oder ist gar Rumpelstilzchen selbst der Sieger? Das Rumpelstilzchen, ein «lächerliches Männchen,» taucht als Retter in der Not auf, erfüllt die Forderungen und rettet das «soziale» Leben der Müllerstochter. Aus Sicht der Königin jedoch ist es aber überaus bösartig und nicht kontrollierbar. Es könnte aber auch angemerkt werden, dass der Kobold lediglich seinen verdienten Lohn haben möchte, gemäss dem mit der Müllerstochter geschlossenen mündlichen Vertrag. Rumpelstilzchen entspringt aus dem Handel von Müller und König und ist eine Situationsfigur, die den weiteren Prozess aus diesem Handel aufzeigt.

Psychoanalytische Interpretation

Das Märchen «Rumpelstilzchen» als psychoanalytische Interpretation kann so gelesen werden, dass die Müllerstochter, beziehungsweise Königin, als Heldin aus alledem hervorgeht. Der Vertrag, den sie mit dem Kobold eingeht, kann als psychologischer Vertrag gewertet werden. Sie bietet Rumpelstilzchen ihr Kind als Lohn an und gewinnt dafür ihr Leben. Genauso gut aber kann auch das Rumpelstilzchen als Held der Geschichte gesehen werden.

«Rumpelstilzchen» ist ein tiefgreifendes und erschütterndes Märchen aus der Frauengeschichte und hat heute noch Gültigkeit für viele weibliche Lebensentwürfe. Die Grundrechte der Frau auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sind inhaltliche Schwerpunkte des Märchens. Rumpelstilzchen ist vorerst die rettende Hilfe, dann die grosse Gefahr des Persönlichkeitsverlustes und als diese auch die Aufforderung zur Selbstfindung, Selbstbehauptung und Selbstentfaltung. Das sind wichtige Themen, die in der Kunsttherapie sehr gut aufgearbeitet werden können.

Mit dem Entstehen lassen innerer Bilder können tiefliegende, unausgesprochene Anliegen erkannt werden. Wichtig ist auch, dass sich der Klient mit dem inneren «Rumpelstilzchen» auseinandersetzt und merkt, ob es Freund oder Feind ist. In der Kunsttherapie bietet das Märchen «Rumpelstilzchen» eine reiche Quelle an Symbolik und Themen, die zur Selbstreflexion und persönlichen Entwicklung beitragen können. Die Konfrontation mit den verschiedenen Aspekten der Geschichte ermöglicht es den Klienten, tiefere Einsichten in ihre eigenen Lebenssituationen und inneren Konflikte zu gewinnen und diese kreativ zu bearbeiten.

Psychologischer Vertrag im Märchen

Im Märchen schliesst die Müllerstochter einen Vertrag mit Rumpelstilzchen. Sie verspricht ihm ihr erstgeborenes Kind, und er verwandelt dafür das Stroh zu Gold - und rettet ihr somit das Leben. Mit ins Spiel kommt auch ein sogenannter psychologischer Vertrag. Im Unterschied zu einem normalen Vertrag spiegelt ein psychologischer Vertrag wider, dass einer der beiden Vertragspartner unausgesprochene Erwartungen hat, die nicht ausdrücklich festgelegt sind.

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Der Inhalt der Vereinbarung ist eigentlich eindeutig: Rumpelstilzchen rettet der Müllerstochter das Leben, dafür verspricht sie ihm ihr erstgeborenes Kind. Dennoch scheint die Müllerstochter überrascht zu sein, als Rumpelstilzchen viele Jahre später auftaucht und das ihm Versprochene einfordert. Hintergrund mag ihre implizite Erwartung sein, dass Rumpelstilzchen von seinem «Lohn» absehen und sich auch ohne das Kind zufriedengeben wird.

Das Phänomen lässt sich durch ein Beispiel aus der Arbeitswelt verdeutlichen. Ein Angestellter schliesst einen Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen. Im Vertrag sind typischerweise alle Bedingungen - zum Beispiel die Vertragsdauer oder Entlohnung - festgelegt. Dennoch kommt es häufig vor, dass Angestellte über das Vereinbarte hinaus Erwartungen an Arbeitgeber haben. Dazu gehören zum Beispiel Faktoren wie eine hohe Arbeitsplatzsicherheit oder ein vielseitiges Trainingsangebot. Diese nicht artikulierten Erwartungen werden in der Psychologie als implizite Erwartungen bezeichnet.

Wenn einer der beiden Vertragspartner falsche Erwartungen hat oder die Erwartungen des Gegenübers nicht kennt, entstehen häufig Frustration, Resignation und Enttäuschung. Problematisch ist hieran, dass der wahre Grund für die Enttäuschung, also die geheimen Erwartungen und Wünsche, häufig nicht offen angesprochen werden.

Glaube an eine gerechte Welt und Victim Blaming

Ein weiteres interessantes Phänomen, das sich in dem Märchen der Gebrüder Grimm finden lässt, ist der sogenannte Gerechte-Welt-Glauben. Damit wird die Erwartung bezeichnet, dass jeder das bekommt, was er verdient. Dieser Glaube motiviert uns, die Gerechtigkeit bei einer ungerechten Ausgangslage wiederherzustellen.

Dies kann in verschiedener Weise geschehen, was an einem Beispiel veranschaulicht werden soll. Ein Mann steht nachts an einem U-Bahn-Gleis und sieht, wie eine Frau am anderen Ende des Gleises von einer Jugendbande ausgeraubt wird. Dies ist eine ungerechte Situation, die nicht zu unserem Gerechte-Welt-Glauben passt. Nun hat der Mann zwei Möglichkeiten:

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  • Aktive Verringerung des Leidens des Opfers: Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass er einschreitet, die Räuber verjagt, die Polizei ruft oder er die Frau beim weiteren Nachhauseweg begleitet.
  • Abwertung des Opfers: Ebenso kann er allerdings der Frau die Schuld für das Geschehene zuschreiben. Der Mann könnte sich einreden, dass es sowieso leichtsinnig ist, als Frau alleine nachts mit der U-Bahn zu fahren, und eine solche Leichtsinnigkeit gerechterweise bestraft wird. Durch diese Abwertung wird das, was dem Opfer passiert ist, als gerecht empfunden und der Gerechte-Welt-Glaube ist wiederhergestellt.

Dieses Phänomen, bei dem das eigentliche Opfer zum Schuldigen umgewertet wird, wird in der Psychologie als Victim Blaming, Beschuldigung des Opfers, bezeichnet.

Jeder Leser des Märchens wird den Gerechte-Welt-Glauben bei sich selbst empfunden haben: Er wünscht sich, dass die Müllerstochter den Namen von Rumpelstilzchen errät und somit das Leben ihres Kindes retten kann. Die Tochter hat ihre missliche Situation nicht selbst verschuldet. Daher freuen wir uns, dass die Boten ihr dabei helfen, Rumpelstilzchens Namen ausfindig zu machen. Interessanterweise gibt es hier eine Diskrepanz zwischen dem, was wir als gerecht empfinden, und dem, was Recht ist.

Objektiv betrachtet fordert Rumpelstilzchen nur das ein, was ihm vorher versprochen wurde. Dennoch freuen wir uns, dass er am Ende der Verlierer ist und sich sogar so sehr ärgert, dass er sich zum Schluss selbst zerreisst. Dies lässt sich durch die Abwertung und Schuldzuschreibung erklären, die das letztendliche «Opfer» Rumpelstilzchen aufgrund des Gerechte-Welt-Glaubens vom Leser erfährt. Hier kann jeder an sich selbst beobachten, wie leicht wir selbst bereit sind, ein Opfer zu beschuldigen.

Die Moral von der Geschicht'

Wer ist eigentlich der Böse in unserem Märchen? Für die meisten Leser erscheint Rumpelstilzchen als der grösste Bösewicht. Er bringt die unschuldige Müllerstochter in die missliche Situation, in der sie ihm ihr Erstgeborenes verspricht und es am Ende sogar beinahe verliert. Doch wenn wir das Ganze einmal ohne jegliche Emotionen und von aussen betrachtet, gab es einen mündlichen Vertrag zwischen Rumpelstilzchen und der Müllerstochter, der für Rumpelstilzchen Bestand hatte und auf dessen Basis er letztendlich das Kind rechtmässig einfordert. Dabei muss das Geschehene natürlich im Kontext der Zeit gesehen werden: Heute wäre solch ein Vertrag nicht rechtskräftig und würde gegen die Menschenrechte verstossen; vor Jahrhunderten waren Verträge dieser Art hingegen durchaus üblich.

Die Reaktion der Tochter scheint fast so, als hätte sie erwartet, dass Rumpelstilzchen von seinen Forderungen ablässt. Rumpelstilzchen zeigt später sogar ein gewisses Einfühlungsvermögen, als er der Müllerstochter die dreitägige Frist anbietet. Dennoch empfinden wir es als gerecht, dass Rumpelstilzchen am Ende das Kind nicht bekommt und als Verlierer aus der Geschichte hervorgeht.

Wir können uns an dieser Stelle fragen: Beschuldigen wir hier nicht das Opfer, um an unserem Glauben an eine gerechte Welt festzuhalten? Und wie oft tun wir dies eigentlich in unserem alltäglichen Leben?

Tatsächlich kommt es ziemlich häufig vor, dass wir das, was Recht ist, als ungerecht empfinden. Wenn wir uns von der Bank Geld leihen, dieses aufgrund von Wucherzinsen und weiterer unglücklicher Umstände nicht zurückzahlen können, und die Bank letztendlich eine Zwangsvollstreckung veranlasst - wer ist dann meistens der Böse? Viele Menschen in solchen oder ähnlichen Situationen beschuldigen die Bank. Dabei fordert sie doch eigentlich nur das ein, was ihr rechtmässig zusteht.

Auch bei Arbeitsverhältnissen kann es zu impliziten Erwartungen kommen. Wenn der Angestellte erwartet, dass er von seiner Arbeitgeberin ausreichende Fortbildungsmöglichkeiten erhält, falls seine Qualifikationen den Anforderungen der Position nicht genügen, kann es zu unerfreulichen Überraschungen führen, wenn diese Erwartung nicht erfüllt wird. Nicht selten kommt es in solchen Fällen zu Versetzungen oder Kündigungen, bei denen die Arbeitgeberin schlussendlich als die Böse wahrgenommen wird.

Auch hier können wir wieder einige interessante Weisheiten aus dem Märchen ableiten. Wenn wir einen Vertrag oder Zusammenschluss mit anderen eingehen, ist es sinnvoll, sich vorher darüber zu verständigen, welche zusätzlichen Erwartungen die verschiedenen Parteien haben und was der Vertrag genau beinhaltet oder beinhalten soll. Nur so kann Enttäuschungen und Streitigkeiten oder sogar Klagen vorgebeugt werden. Wir können zudem aus dem Märchen lernen, dass nicht immer das, was böse scheint, auch wirklich böse ist. Oft haben wir eine verzerrte Wahrnehmung, die von Emotionen oder dem Wunsch nach einer gerechten Welt getrübt ist.

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