Die Sehnsucht nach der Kindheit: Ursachen und psychologische Aspekte

Wir alle kennen die Sehnsucht: Das Ziehen in der Brust, das heftige und schmerzliche Verlangen nach etwas Unerfüllbarem - aber auch das Schwelgen in der Vorstellung vom grossen Glück.

Die Sehnsucht gilt bis heute als wenig erforscht. Eine Gruppe um den verstorbenen Paul B. Baltes hat sich diesem komplexen Phänomen in den vergangenen Jahren gewidmet.

Was ist Sehnsucht?

Was also ist Sehnsucht? Menschen kennen das bittersüsse Gefühl der Sehnsucht. Sehnsucht ist eine Quelle von Lebendigkeit, aber auch ein Grund für masslose Enttäuschungen, wenn sie nicht erfüllt wird.

Offenbar übt die unerreichbare persönliche Utopie, die erlebte Unvollständigkeit, eine besondere Anziehungskraft auf uns aus.

Sehnsucht treibt uns um und bestimmt den Menschen über die gesamte Lebensspanne hinweg, von der Kindheit bis zum Tod. In der Kindheit zeigt sie sich als Heimweh, im Jugendalter als Fernweh und im Erwachsenenalter vielleicht als Utopie der Zukunft oder - mit Blick auf die Vergangenheit - als Nostalgie.

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Ganz unterschiedlich sind jedoch die Inhalte, welche die Sehnsucht beflügeln. Junge und jüngere Menschen sehnen sich eher nach der grossen Liebe, nach einem Kind und einem guten Beruf.

Viele Menschen sehnen sich nach ihrer Kindheit zurück. «Dabei handelt es sich häufig um die Sehnsucht nach einem vergangenen Zustand, der aus der Erwachsenensicht völlig idealisiert wird», sagt die Expertin.

Ursachen und Funktionen der Sehnsucht

Die Sehnsuchtsforschung der Gruppe um Baltes sieht zwei mögliche Funktionen:

  • Hilfe beim Umgang mit dem nicht-perfekten Leben.
  • Dem Leben eine Richtung geben.

Sehnsucht kann eine Richtung geben. Symbole als Stellvertreter von Sehnsuchtsobjekten (z.B. Sportflitzer, der für Unabhängigkeit, Freiheit und Unbeschwertheit steht) können den Lebensbereichen der Sehnsüchte eine Richtung geben, um sich ihnen nicht ausgeliefert zu fühlen.

Sehnsucht speist sich aus sechs Komponenten:

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  1. Unvollständigkeit
  2. Unerreichbarkeit
  3. Gefühlsambivalenz
  4. Reflexion

Die schmerzlich-schöne Utopie eines vollkommenen Lebens kann eine Quelle der Motivation, gleichzeitig aber auch der Resignation sein. Weil Sehnsucht sowohl befreien als auch lähmen kann, wohnen ihr zwei Gefahren inne: erstens, dass sie mit der Erfüllung ihren Sinn verliert und sich in Gewohnheit verwandelt.

Der Umgang mit Sehnsüchten

Denn mit dem Erreichen wird das so innig Ersehnte leblos und leer. Sowohl Erfüllung als auch Nichterfüllung können Ursachen sein, damit der Mensch aus lauter Sehnen krank wird und aus Sehnsucht Sucht entstehen kann.

Um der Sucht zu entgehen, bedarf es gemäss dem Philosophen Werner Schmid einer Anstrengung der bewussten Lebensführung. Sie besteht darin, den Unterschied zwischen dem Ersehnten und dem Realen zu bewältigen und dadurch die Sehnsucht derart zu mässigen, so dass sie zu unseren vorhandenen Möglichkeiten passt. Dann wird sie eine Kraft, die der Einzelne nutzen kann, um ein blockiertes Ziel zu lösen oder dem Leben eine neue Richtung zu geben.

Voraussetzung ist jedoch: Man denkt über sich nach.

Die entscheidende Frage ist somit die, wie wir mit Sehnsüchten umgehen. Denn trotz der beschriebenen Gefahren ist Sehnsucht unverzichtbar. Wir brauchen ihre Energie, die sie in uns freisetzen kann.

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Kritische Betrachtung der Verklärung der Kindheit

Bei der Glorifizierung der Kindheit wird oft so getan, als seien Kinder eine homogene Gruppe entzückender Menschlein mit vielfältigsten Begabungen, unerschrockener Neugier und grenzenloser Liebenswürdigkeit, die dann zu einer grauen Masse gleichgeschalteter Erwachsener heranwächst.

Man übersieht dabei gern die Autoritätsgläubigkeit, aber auch den Konformismus der Kleinen, die sich gerne wegen jeder Normabweichung für ihre Eltern schämen, ihre marottenhaften Fixierungen auf Spaghetti mit Ketchup und die ewig gleichen Gutenachtgeschichten.

Kinder sind keine besseren Menschen und Erwachsene nicht per se deren erstarrte und eingeschränkte Schwundform.

Kindlichkeit sollte man nicht bewahren, sondern transformieren. Man soll Vater und Mutter lieben und ehren (wenn sie es denn verdient haben), aber nicht mehr unbedingt finden, dass sie die Grössten sind. Was man bei allem Erwachsenwerden allerdings niemals vergessen sollte: dass man auch mal ein Kind gewesen ist.

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