In der Literatur hat alles eine doppelte und dreifache Bedeutung. Was immer vor unseren lesenden Augen geschieht, ist einerseits ein Ereignis wie alles, was vor unseren Augen geschieht. Aber es ist überdies ein Zeichen, das der Erzähler setzt, ohne uns über die Bedeutung des Zeichens zu informieren. Die Bestimmung der Bedeutung ist uns überlassen. Auch der Autor hat uns nicht mehr dreinzureden.
Wenn in der Literatur einer steht oder geht oder sitzt oder liegt, dann steht oder geht oder sitzt oder liegt er nicht, wie wir alle stehen oder gehen oder sitzen oder liegen, sondern er steht oder geht oder sitzt oder liegt mit Bedeutung. Selbst das Gehen oder Stehen oder Sitzen oder Liegen hat in der Literatur eine metaphysische Kante. Es verweist nicht nur auf den unmittelbar gelebten Moment, sondern auch auf die letzten Dinge.
Gehen und Liegen: Metaphysische Dimensionen in der Literatur
Wenn bei Stifter einer geht, den Weg entlang, durch den Wald, über einen Bach, dem Gebirge entgegen, dann geht er in einem so langsamen Takt, und es passiert dabei so gar nichts anderes, dass es uns allmählich etwas merkwürdig berührt, dann empfinden wir ein deutliches Spannungsdefizit - könnte nicht wenigstens einmal ein Fuchs auftauchen! -, und schliesslich erfasst uns jene sanfte, betörende Langeweile, die heilige Langeweile der Stifter'schen Erzählrede, in die man hereingeholt wird wie in eine andere Zeit. Da geht einer, und über seinem Gehen geraten wir in eine Zeit, eine Gegenzeit, die fremdartig ist, unheimlich in ihrer Langsamkeit, ihrer unaufhaltsamen, gewalttätigen Langsamkeit. Das einfache Gehen eines Stifter'schen Wanderers oder Waldgängers ist ein schamanenhaftes Ritual gegen die Geschwindigkeitszwänge der Zivilisation, gegen das kollektive Tempo der Metropolen, gegen den Prozess der Geschichte, der in den Metropolen seine magmatischen Zentren hat. In den Metropolen gewinnt er die Geschwindigkeit, die uns alle regiert, der sich keiner entziehen kann, die noch unseren Träumen das Tempo vorschreibt. Stifters Werk besteht in nichts anderem als einem sehr langsamen Weggehen aus den Metropolen, aus den heissen Zentren der Zivilisation, aus der voranstürzenden Geschichte.
Mit dieser Langsamkeit pflügen die zwei Bauern Manz und Marti in Gottfried Kellers Romeo-und-Julia-Novelle zu Beginn ihren Acker, parallel zueinander, aber in Gegenrichtung, über einen sanften Hügel hin, jeder sein eigenes Stück Land, und Keller vergleicht ihre Geschwindigkeit explizit mit dem Gang eines Gestirns. Hier ist das Gehen im Einklang mit der Bewegung in der Natur, mit dem kreisenden Kosmos.
Es ist, wie die Keller-Leser wissen, der gelassene Gang des schuldlosen Menschen vor dem Sündenfall, kurz vor dem Verrat, dem Diebstahl, dem Hass, dem Mord. So langsam wie diese zwei Bauern, dürfen wir annehmen, sind Adam und Eva durch den Garten des Paradieses gewandelt, ahnungslos und mit Vergnügen aneinander, und haben sich gefreut an den roten Früchten am Baum der Erkenntnis und haben sie hängen lassen.
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Die Spaziergänger Robert Walsers gehen leichtfüssig und ausdauernd dahin, immer am genauen Rande der Menschenwelt, dort wo sie abstürzt in einen Abgrund. Und Gerhard Meier, Walsers edelster Sohn, lässt seine beiden alten Männer, Baur und Bindschädler, diese höchst gegenwärtigen und höchst antiken Gestalten, sokratische Köpfe mit weichem Solothurner Dialekt, gehen, wie Walser ging, aber sie sind zu zweit und haben etwas voneinander, und neben ihnen zieht die Aare, nicht ungefährlich, aber ein guter Schwimmer könnte sich retten.
Das Liegen als Spiegel der Welt
Andere liegen so. Annette von Droste zum Beispiel. Sie liegt im Gras, im Heidekraut oder nach Mitternacht schlaflos im Bett, und in der Harmlosigkeit dieses Liegens erfährt sie die Schrecken der Welt. Sie hört den feinen, gellenden Schrei der Fliege, die von der Spinne gefressen wird, den mahlenden Kiefer der Raupe, die die Blume zerstört, und die horchende Frau weiss nicht, warum es so sein muss, warum die Schöpfung aus lauter Grausamkeit besteht und inwiefern sie selber mitschuldig ist an dem unabsehbaren Mord. Auch Werther liegt im Gras. Auch Werther hat ein Ohr für die winzigsten Lebewesen. Aber wenn er so daliegt, liegt er in einer Welt, in der es keinen Mord gibt, nur Liebe, alles durchflutende Liebe. Nichts sieht, nichts hört dieser junge Mann vom unabsehbaren Mord in der Schöpfung. Die metaphysische Kante seines Daliegens ist die ekstatische Erfahrung des in die Natur ausgeschütteten Gottes, jene Goethe'sche Revolution, die den Vatergott behutsam vom Thron holt und mit der mütterlichen Erde vereint zur allgegenwärtigen androgynen Gottheit.
Stehen und Stolpern: Eine Hoffmann'sche Perspektive
Und wie hat die deutsche Klassik den stehenden Menschen gefeiert! Das lotrechte Wesen, aufgerichtet wie kein anderes Geschöpf! So stehend verkörpert er die Idee des Menschen als des höchsten Masses im Kosmos, das Gegengewicht durchaus zum unendlichen Weltall, als welches auch Kant den Menschen begreift. Über Seiten hin vergleicht Johann Gottfried Herder die Anatomie des Orang-Utans mit der Anatomie des Menschen und kommt zum Schluss, dass die Differenz zwischen dem intelligentesten Affen und dem Menschen allein in jenen winzigen Gegebenheiten des Affenskeletts bestehe, die den gänzlich aufrechten Gang des Tiers verhindern: «Das Tier ist nur ein gebückter Sklave; wenn gleich einige edlere derselben ihr Haupt empor heben oder wenigstens mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit sehnen. . . . Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen.»
Wie aber verhält es sich mit dem Gehen und Stehen bei E. T. A. Hoffmann? So verhält es sich: Je reiner die Hoffmann'schen Helden alle Bedingungen der menschlichen Existenz, so wie der Autor sie erfährt, verkörpern, um so weniger sind sie imstande, gelassen dazustehen und in Sicherheit und Ruhe zu gehen. Hoffmanns Held rennt und stolpert, er stürzt schief voran, er hüpft und springt in peinvoll komischem Strauchelgang. Wie ein Wesen, das zum Fliegen geschaffen ist und fliegen will und vom Boden nicht wegkommt, bewegt er sich. Das ist grotesk. Das ist zum Lachen. Aber es hat seine metaphysische Kante.
«Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch in Dresden durchs Schwarze Tor, und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes hässliches Weib feilbot, so, dass alles, was der Quetschung glücklich entgangen, hinausgeschleudert wurde, und die Strassenjungen sich lustig in die Beute teilten, die ihnen der hastige Herr zugeworfen.» So beginnt eine von Hoffmanns berühmtesten Erzählungen, «Der goldne Topf», und der junge Mensch ist der Student Anselmus, der dergestalt rennend und stolpernd und gänzlich unfähig zu bürgerlich-gemessener Fortbewegung in sein Schicksal hineinstrauchelt. Dieses Schicksal aber ist der Weg zu sich selbst, der Weg zur Erkenntnis seiner wahren Beschaffenheit und damit auch zur Erkenntnis der wahren Beschaffenheit der Welt. Die rennenden, stolpernden, strauchelnden jungen Leute bei Hoffmann sind Auserwählte, die nichts von ihrer Erwählung wissen. Ihr Stolpern und Straucheln, ihre fortlaufenden Fehlleistungen sind die Symptome dafür, dass sie tatsächlich nicht von dieser Welt sind. Sie sind «Kinder des Lichts», um mit einem alten Buch zu sprechen, und nicht «Kinder dieser Welt». Wären sie Kinder dieser Welt, sie könnten gelassen Fuss vor Fuss setzen, könnten dastehen in Ruhe und wieder weitergehen mit dem zufriedenen Tritt dessen, der den Boden besitzt, auf dem er sich bewegt. So aber ist alles schief an ihnen. Auch der Rock passt nicht zur Hose, und beides passt nicht zur Mode der Zeit. Und wie immer sie sich benehmen, sie benehmen sich daneben.
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Der Tollpatsch im Märchen, der am Ende die Königstochter heimführt, und der christliche Narr, der am Ende das Himmelreich gewinnt, sie überschneiden sich in den Hoffmann'schen Jünglingen, die dahinrennen wie die Hühner, weil sie, wie die Hühner, nicht fliegen können und doch immerzu zum Flug ansetzen. Könnten sie gehen, festen Fusses wie ein Esel, sie wären erfolgreich in der Gesellschaft, würden eine hübsche Frau erringen und mit dieser zusammen langsam und behaglich fett werden und von aller Welt mit Verbeugungen gegrüsst werden auf der Strasse.
Nun sind sie aber nicht von dieser Welt, und ihre Art zu gehen hat jene metaphysische Kante, die besagt: Du kannst nicht gehen wie die andern, weil du nicht zur Welt dieser andern gehörst. Du gehörst zu einer zweiten Welt. Es gibt diese zweite Welt, die andere Welt, und in ihr ist die Wahrheit, die Lust, das Glück und alle Schönheit. Wenn wir also einen schief Gekleideten stolpern, rennen, hüpfen sehen bei Hoffmann, so wissen wir: Das muss ein Kind des Lichts sein.
Hoffmanns berühmteste Zeichnung zeigt den Kapellmeister Kreisler auf den Zehen des linken Fusses balancierend, in einer irren Pirouette begriffen, den Boden kaum mehr berührend und doch an ihm wie festgeleimt. So «stehet» der Hoffmann'sche Mensch aufrecht. Von diesem Kreisler, der sich durch Hoffmanns ganzes Werk bewegt als der geheimnisvolle Doppelgänger des Autors, heisst es, als er zum ersten Mal beschrieben wird in den «Kreisleriana» der «Phantasiestücke»: «Auf einmal war er, man wusste nicht wie und warum, verschwunden. Viele behaupteten, Spuren des Wahnsinns an ihm bemerkt zu haben, und wirklich hatte man ihn mit zwei übereinander gestülpten Hüten und zwei Rastralen, wie Dolche in den roten Leibgürtel gesteckt, lustig singend zum Tore hinaus hüpfen gesehen.»
Stürzen und Träumen als Ausdruck einer anderen Welt
Er hüpft. Er kann nicht einfach gehen. Und so grotesk wie unheimlich mutet es an, dass er zwei Rastrale im Gürtel trägt, dort, wo andere den Dolch haben. Das Rastral ist jenes fünfzinkige Werkzeug, mit dem man die Notenlinien zieht. Das verweist auf den Komponisten Kreisler, aber der wirft alles, was er in der Nacht komponiert hat, am Morgen wieder ins Feuer. Kreisler, der Hüpfende, der Kreiselnde, der die schräge Bewegung schon im Namen trägt, er ist ein Kind des Lichts, und aus diesem Licht entsteht seine wunderbare Musik, aber wenn er sie aufschreibt, wird sie zu einem Teil dieser Welt, und diese Welt steht in Feindschaft mit dem Licht, und also muss das Geschriebene verbrannt werden.
Sie sind Kinder des Lichts mit dem alten christlichen oder auch gnostischen Ausdruck, der die Menschen scheidet in jene, die von dieser Welt sind, und jene, die nicht von dieser Welt sind. Und die einen sind Narren in den Augen der andern, wie Hoffmanns Helden Narren sind in den Augen der Spiesser und Philister. Aber Hoffmanns Anthropologie bedient sich des hergebrachten religiösen Diskurses allein, um eine Erfahrung zu beschreiben, die allen Gottesglauben abgeworfen hat. Dieser Autor hat nur zwei Möglichkeiten, seinen Begriff vom Menschen, seine Anthropologie, in Worte und Bilder zu fassen: einerseits den von weither kommenden religiös-mystischen Diskurs, den er bald ironisch, bald ekstatisch verweltlicht, andererseits den wissenschaftlich-psychopathologischen Diskurs, über den er in Verbindung tritt mit der Zukunft, mit der Psychologie und Ästhetik der Moderne. Diese beiden Diskurse schliessen einander aber gegenseitig aus. Hier wurzelt das grosse Dilemma Hoffmanns, das Dilemma seines Redens und Gestaltens. Und doch ist es genau dieses Dilemma, das Scheitern innerhalb der zeitgenössischen Theorie, welches ihm ein Werk ermöglicht hat, das über seine Schüler Balzac und E. A. Poe, über seine Schüler Maupassant und Baudelaire und Dostojewski gewaltig hineinwirken sollte in das 20. und 21. Jahrhundert. Und es gibt gute Gründe anzunehmen, dass auch die eigentümliche Ironie Thomas Manns, seine in ihrer Art unvergleichliche, wenn auch irritierende, trickreiche und artistische Erzählerrede, sich wesentlich der ironischen Erzählerrede Hoffmanns verdankt.
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Die Phantastische Literatur und Newton
Das Dilemma des Hoffmann'schen Erzählens markiert auch Hoffmanns Stellung innerhalb des phantastischen Erzählens als jenes weltliterarischen Traditionszusammenhangs, der sich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert spannt. Die phantastische Literatur setzt nicht einfach die mythologisch-märchenhafte Linie des Erzählens fort, die wir seit den ersten Zeugnissen antiker Dichtung kennen. Sie mag sich ähnlicher Motive bedienen; ihre Voraussetzungen sind fundamental andere. Drastisch verkürzt gesagt: Die phantastische Literatur setzt Newton voraus.
Warum nun dies? In Newton erreichte die neuzeitliche Wissenschaft mit ihren tausend Wurzeln in der Antike, im Mittelalter und in der Renaissance einen Abschluss und Neubeginn, über dessen dramatischen Effekt wir uns heute nur noch mit Mühe Rechenschaft geben können. Der Donnerschlag, der mit Newtons «Mathematischen Prinzipien der Naturlehre», den «Philosophiae Naturalis Principia Mathematica», die wissenschaftliche Welt veränderte, auf immer, ist für uns zu einer Anmerkung im Geschichtsunterricht geworden. Tatsächlich aber hat sie die Welt im archimedischen Sinn aus den Angeln gehoben. Gib mir einen festen Punkt, wo ich stehen kann, soll Archimedes gesagt haben, einen Punkt ausserhalb der Erde, und ich werde die Erde aus den Angeln heben. Das war ein Paradox, die Formulierung einer Wahrheit in Gestalt einer Unmöglichkeit.
Newton und der liebe Gott
Newton hat mit der Formulierung des Gravitationsgesetzes diesen Akt vollzogen, nicht indem er einen festen Punkt fand, sondern indem er alle festen Punkte überhaupt auflöste, die umfassende Relativität des Raumes theoretisch begründete und den letzten Nachweis erbrachte, dass und warum die Erde genauso feststeht und überhaupt nicht feststeht wie alle andern Gestirne im Weltall.
Der ganze Kosmos unterliegt einem einzigen, in mathematischen Begriffen formulierbaren Gesetz. Nirgendwo geht die Welt über in eine Welt anderer Art. Nirgendwo gibt es eine Schwelle zu einem Geisterreich. Die Welt ist ein geschlossenes, von klaren Gesetzen gelenktes Ganzes. Das schliesst zwar einen Schöpfer nicht aus, und auch der Physiker durfte weiterhin ein frommer Mann bleiben. Aber für die Wissenschaft ist der lenkende und steuernde Gott kein Thema mehr. Newton hat den lieben Gott nicht abgeschafft und auch die guten Geister nicht und nicht die finstern Dämonen. Aber er hat eine Wissenschaft begründet, die von all dem absieht und gerade dadurch und nur dadurch zu ihren Zielen kommt. Mit Newton wurde das mythisch-märchenhafte Reden von einer Form der verbindlichen Welterklärung zu einem Spiel des Geistes und der Imagination, zu Literatur.
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