Sigmund Freuds Psychoanalyse: Methoden und Theorie

Die Psychoanalyse, eine von dem Nervenarzt Sigmund Freud Ende des 19. Jahrhunderts in Wien begründete Disziplin der Humanwissenschaften, wurde seitdem ständig weiterentwickelt. Als Tiefenpsychologie interessiert sich die Psychoanalyse für das individuelle, immer auch gesellschaftlich geprägte Unbewusste im Menschen.

Der theoretische Hintergrund der Psychoanalyse ist eng mit Freuds praktischer Tätigkeit und seinen persönlichen Erfahrungen verbunden. Anfänglich verwendete Freud ein Hypnoseverfahren, später entwickelte er daraus die Methode der freien Assoziation.

Die psychoanalytische Methode soll helfen, die Dramatik im Erleben des jungen Kindes nachvollziehen zu können. Mit der Traumdeutung (1900) entwickelte Freud die Kernkonzepte des psychoanalytischen Theoriegebäudes, nämlich die Systeme unbewusst, vorbewusst und bewusst.

Das Unbewusste und seine Erscheinungsformen

In einem ersten räumlichen, «topischen» Vorstellungsmodell unterschied Freud zwischen Bewußtem, Vorbewußtem und Unbewußtem. Während das Vorbewußte (das Unbemerkte, das Automatische und das latent Bewußte) relativ leicht dem Bewußtsein zugänglich werden kann, setzt das eigentliche oder dynamisch Unbewußte dem Bewußtwerden Widerstand entgegen.

Das Vorbewusste enthält jene psychischen Inhalte, welche zwar momentan im Bewusstsein nicht präsent sind, aber nahezu beliebig reproduziert und erinnert werden können. Dynamisch Unbewusstes: Der mentalen Vergegenwärtigung und sprachlichen Reflexion dauerhaft durch Abwehrprozesse entzogen.

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Die Funktionsweisen des Unbewußten werden als primärprozeßhaft bezeichnet. Damit ist gemeint, daß die gewöhnlich gültigen Orientierungen in Raum und Zeit entfallen, Widersprüche unvermittelt nebeneinander existieren können, Teile für das Ganze stehen können, Verschiebungen vorkommen oder Komplexe verdichtet werden können. Jede rationale Logik ist ausgeschaltet. Träume werden zum Beispiel mittels solcher primärprozeßhafter Denkvorgänge gestaltet.

Der Traum war für Freud «der Königsweg» zur Entdeckung des Unbewussten. Die in der Traumdeutung aufgedeckten Mechanismen finden sich in anderen Erscheinungsformen des Unbewussten wieder, z. B. in Fehlleistungen, Versehen, Versprechern etc.

Traumdeutung

Freud nahm an, dass das unbewusste Es an der Traumbildung einen wesentlichen Anteil hat. Freud hat den Traum auch als «Hüter des Schlafes» bezeichnet: Das Ich setzt dabei Bedürfnissen und Ansprüchen, die sonst zum Erwachen führen würden, eine harmlose Wunscherfüllung entgegen, etwa wenn das Hungergefühl durch einen Traum beschwichtigt wird, in dem man etwas isst. Wenn allerdings der Drang zu gross wird, wacht der Schläfer auf.

Die Deutung von Träumen hat im psychoanalytischen Setting einen hohen Stellenwert, weil durch den Traum unbewusstes Material an die «Oberfläche» befördert und der Bearbeitung zugänglich gemacht wird. Für die Deutungsarbeit allgemein - und auch die mit Traummaterial - gilt, dass es keine allgemein gültigen Deutungen gibt. Es geht dabei um eine Rekonstruktion und Einsicht in die Dynamik des frühkindlichen Konfliktes, der der jeweiligen Störung zugrunde liegt, und nicht um eine präzise Zuordnung zwischen einzelnen Traumelementen und deren Bedeutung.

Freud definierte zwei Arten des Trauminhalts, den manifesten und den latenten. Der manifeste Inhalt ist der bewusst erinnerte Traum, der nach dem Aufwachen mehr oder weniger genau erinnert wird. Der latente (versteckte) Inhalt wird nicht erinnert, sondern muss in seiner symbolischen Bedeutung erschlossen werden. Hier zeigen sich die eigentlichen Motive, die nach Ausdruck suchen, jedoch so schmerzvoll oder inakzeptabel sind, dass sie nur in versteckter oder symbolischer Form ausgedrückt werden können.

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Um einen Traum zu deuten, muss der Therapeut dessen manifesten Inhalt in den latenten übersetzen. PsychoanalytikerInnen glauben, dass Träume eine gute Quelle für Informationen über die unbewussten Motivationen des Patienten sind. Therapeuten versuchen mit Hilfe der Traumanalyse, diese versteckten Motive zu enthüllen.

Das Strukturmodell der Persönlichkeit: Es, Ich und Über-Ich

Sigmund Freuds Theoriengebäude war anfänglich stark von durch den Zeitgeist bedingten mechanistischen Ideen geprägt; dies zeigt sich in Begriffen wie Trieb, Libido, psychischer Apparat etc. In seinem Strukturmodell (auch Instanzenmodell) beschrieb Freud den immerwährenden Kampf zwischen zwei gegnerischen Instanzen der Persönlichkeit - dem Es und dem Über-Ich. Der dritte Aspekt des Selbst, das Ich, tritt in diesem Kampf als Vermittler auf (Zimbardo & Gerrig, 2008, S.

* Das Es: Das Es repräsentiert die grundlegenden Triebe. Es handelt irrational, auf Impulse hin und drängt nach Ausdruck und unmittelbarer Befriedigung, ohne zu berücksichtigen, ob das Gewünschte realistisch und möglich, sozial wünschenswert und moralisch akzeptabel ist. Das Es wird vom Lustprinzip beherrscht, dem unregulierten Drang nach Befriedigung - insbesondere sexueller, körperlicher und emotionaler Lüste, die hier und jetzt erfahren werden wollen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen (Zimbardo & Gerrig, 2008, S.* Das Über-Ich: Das Über-Ich repräsentiert die Werte eines Individuums, einschliesslich der moralischen Einstellungen, die von der Gesellschaft gelernt wurden. Das Über-Ich entspricht in etwa der landläufigen Vorstellung von Gewissen. Es entwickelt sich, indem das Kind nach und nach die Verbote der Eltern und anderer Erwachsener bezüglich gesellschaftlich unerwünschter Handlungen zu seinen eigenen Werten macht. Es ist die innere Stimme des Sollens und des Nicht-Sollens. Das Über-Ich schliesst auch das Ich-Ideal ein, die Ansicht einer Person darüber, was für ein Mensch sie versuchen sollte zu werden. Das Es will tun, was sich gut anfühlt, während das Über-Ich darauf besteht, das zu tun, was richtig ist (Zimbardo & Gerrig, 2008, S.* Das Ich: Das Ich ist der realitätsgebundene Aspekt des Selbst, der den Konflikt zwischen den Impulsen des Es und den Anforderungen des Über-Ich schlichtet. Das Ich repräsentiert die persönliche Sicht einer Person auf die materielle und soziale Realität - ihre bewussten Überzeugungen über die Ursachen und Konsequenzen von Verhalten. Ein Teil der Aufgaben des Ich besteht darin, Handlungen auszuwählen, welche die Impulse des Es befriedigen, ohne unerwünschte Konsequenzen zu haben. Das Ich wird vom Realitätsprinzip beherrscht, das vernünftige Entscheidungen über lustorientierte Begierden stellt (Zimbardo & Gerrig, 2008, S.

Erst nach 1920 rückte im strukturellen Persönlichkeitsmodell das Ich in das Zentrum der psychoanalytischen Betrachtungsweise (Das strukturelle Persönlichkeitsmodell wird auch Strukturmodell oder Instanzenmodell genannt). Später, und besonders nach Freuds Tod, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf die Funktionen des Ich.

Das Ich ist jenes Funktionenbündel, das sich im Dienst des Austauschs mit den jeweils relevanten Umwelten herausbildet und selbst- wie objekterhaltend tätig ist. Einige sogenannte Ich-Funktionen sind z. B.: Wahrnehmen, Urteilen, Steuern, Antizipieren, Aufschieben. Das Ich bündelt psychische Energie und vermittelt gegensätzliche Kräfte aus Es und Über-Ich. Die Aufgabe des Ich, zwischen den Anforderungen des Es und denen des Über-Ich eine realitätsangepasste Synthese zu finden, gehört zum Bewussten (Bewusstsein), da sich das Ich dabei der willkürlichen körperlichen Bewegungen, der Wahrnehmung, des Gedächtnisses usw.

Konflikttheorie

Die Konflikttheorie bildet den Ursprung des psychoanalytischen Denkens. Sie basiert auf einem Trieb oder Antrieb, der als Wunsch erlebt wird, und dessen Hemmung oder Abwehr. Abwehr ist ein dynamischer Vorgang, der das Bewusstsein vor den gefährlichen, konflikthaften, inneren wie auch äusseren Reizen schützen soll. So kann z.B. einem Wunsch nach erotischer Annäherung eine unbewusste Hemmung entgegenstehen, weil die Verletzung eines Tabus droht.

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Deshalb ist die psychoanalytische Konflikttheorie untrennbar mit dem psychoanalytischen Strukturmodell verbunden, welches diese drei Segmente beinhaltet: Das Es als Triebsystem, Ich und Über-Ich als Steuerungssysteme. (Gerspach, 2009, S.

Ein bedeutsamer intrapsychischer unbewusster Konflikt ist z. B. jener zwischen den Wünschen nach Abhängigkeit und jenen nach Autonomie. Dass Konflikte entstehen, ist ein entwicklungspsychologisch gesehen völlig normales Phänomen. Je nach theoretischem Hintergrund der Autoren gibt es mehr oder weniger Konflikte, die begrifflich voneinander abgegrenzt werden. Gemäss psychoanalytischem Verständnis gibt es aber einen Grundkonflikt, der als zentraler infantiler Konflikt in der Lebensentwicklung eines Menschen beschrieben wird.

Die psychodynamische Betrachtungsweise betrachtet die Grundkonflikte als Bestandteil der menschlichen Entwicklung unter dem Blickwinkel der Konfliktverarbeitung. Ein differenziertes und auch in der diagnostischen Praxis anerkanntes Modell der unbewussten Konflikte wird in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) beschrieben.

Die OPD unterscheidet acht unbewusste Konflikttypen:

  • Abhängigkeit vs. Autarkie
  • Unterwerfung vs. Kontrolle
  • Selbstwert vs. Objektwert
  • Über-Ich- und Schuldkonflikte
  • Ödipal-sexuelle Konflikte

Im diagnostischen Prozess wird der Patient gemäss dem Stand seiner Entwicklung und Reifung in die vorgegebenen Konflikttypen eingeordnet.

Beispiele für Konflikttypen

  • Abhängigkeit vs. Unterwerfung vs. Kontrolle: Im einen Extrem nimmt der Mensch die Gegebenheiten hin als Schicksal, dem er sich fügt, dabei sind Erleben und Verhalten geprägt von Gehorsam und Unterwerfung.
  • Versorgung vs. Autarkie: Im einen Extrem führen Versorgungs- und Geborgenheitswünsche zu starker Abhängigkeit, und der Mensch wirkt passiv und anklammernd. Im anderen Extrem nimmt der Mensch keine Hilfe an und wehrt die Wünsche nach Hilfe ab, indem er sich als anspruchslos darstellt.
  • Selbstwert vs. Objektwert: Es bestehen Selbstwertkonflikte, die im einen Extrem als Minderwertigkeit erlebt werden, während andere aufgewertet oder idealisiert werden.
  • Über-Ich- und Schuldkonflikte: Im einen Extrem führt die Schuldübernahme bis zur masochistischen Unterwerfung.
  • Ödipal-sexuelle Konflikte: Im einen Extrem nimmt der Mensch seine Erotik und Sexualität nicht wahr, im anderen Extrem bestimmt sie alle Lebensbereiche, ohne dass eine Befriedigung gelingt.

Abwehrmechanismen

Als Abwehr bezeichnet die Psychoanalyse jede psychische Aktivität, die darauf abzielt, psychischen Schmerz in all seinen möglichen Formen zu vermeiden (Müller-Pozzi, 2002). Die Abwehrmechanismen gehören zu den Funktionen des Ich und dienen der Wahrnehmung und Bewältigung der psychischen Realität. Eine Wahrnehmung verfällt der Abwehr, wenn die bewusste Konfrontation damit dem Ich Unlust bereitet.

Allgemein richtet sich die Abwehr gegen alles, was Angst hervorrufen kann: Emotionen, bestimmte Situationen, Vorstellungen, Über-Ich-Forderungen etc. Die Abwehr ist im Dienste der Unlustvermeidung funktional, wenn sie die Wahrnehmung der unangenehmen Konfrontation umgeht. Das gelingt durch bestimmte Mechanismen wie Verdrängung als der zentralen Leistung des Unbewusstmachens, sowie durch weitere Abwehrmechanismen wie Leugnung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Projektion, Regression Rationalisierung etc.

Das klassische Konzept der Abwehr geht davon aus, dass Abwehr als solche nicht pathologisch ist, da sie zugleich die Voraussetzung für die Charakterbildung ist. Die Ich-Stärkung und mit ihr die Abwehrorganisation sind für die kindliche Entwicklung entscheidend und ebenso wichtig wie die Entwicklung der Triebe (Mertens, 2014, S.

Abwehrmechanismen sind mentale Strategien, mit denen sich das Ich gegen den täglichen Konflikt zwischen Impulsen des Es, die nach Ausdruck verlangen, und der Forderung des Über-Ich, diese zu verweigern, verteidigt. In der psychoanalytischen Theorie werden diese Mechanismen als essenziell für die Bewältigung mächtiger innerer Konflikte durch das Individuum betrachtet. Durch ihren Einsatz ist eine Person in der Lage, ein günstiges Selbstbild aufrechtzuerhalten und ein akzeptables soziales Erscheinungsbild zu wahren.

Der feindselige Impuls strebt dann nicht länger bewusst danach, ausgelebt zu werden, er wird nicht einmal mehr als existent wahrgenommen. Obwohl der Impuls nicht mehr wahrgenommen wird, ist er dennoch nicht verschwunden; die Gefühle spielen weiterhin eine Rolle bei der Funktionsweise der Persönlichkeit.

Abwehrmechanismen sind kommunikative, mentale und physische Operationen, die der Spannungsregulierung dienen. Das Individuum unterdrückt die Wahrnehmung bedrohlicher oder verpönter Triebimpulse oder Affekte, die es gegenüber einem Objekt hat. Die Verdrängung geht vom Ich aus, eventuell im Auftrag des Über-Ich, und verhindert eine vom Es angeregte Triebbesetzung.

Verdrängung ist der psychische Prozess, der das Individuum davor schützt, extreme Angst oder Schuld zu empfinden, weil seine Impulse, Vorstellungen und Erinnerungen inakzeptabel sind und/oder weil ihr Ausdruck gefährlich wäre. Dem Ich bleibt sowohl der zensierte mentale Inhalt verborgen als auch der Prozess, mit dem die Verdrängung die Informationen aus dem Bewusstsein fernhält. Das Verdrängte bildet einen Teil des Unbewussten und bleibt dort aktionsfähig. Mit der Gegenbesetzung schützt sich das Bewusste gegen das Andrängen der unbewussten Vorstellung.

Der Vorgang der Verdrängung ist jedoch wie bei jedem Abwehrmechanismus als unbewusst zu bezeichnen, d.h. der Betreffende bemerkt nichts davon. Die Verschiebung ist wie die Projektion eine Übertragung verdrängter Wünsche und Impulse. Wegen ihrer multiplen Funktionen sind Verschiebung und Verdichtung als Generalmechanismen sowohl des normalen als auch des pathologischen seelischen Geschehens zu bezeichnen.

Ich-Psychologie

Nach Freuds Tod erfolgte eine Erweiterung der psychoanalytischen Betrachtungsweise: Zunehmend wurde den strukturellen Deformationen innerhalb der Ich-Funktionen erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt, Deformationen also, welche das Ich bereits in allerfrühester Kindheit gar nicht erst zu einer angemessenen Entwicklung kommen lassen. Die Ich-Psychologie war zwischen 1940 und 1980 die vorherrschende Richtung psychoanalytischen Denkens.

Hier spielten Margaret Mahlers Konzepte der Trennungs- und Individuationsprozesse eine zentrale Rolle: Nach einer frühen autistischen Phase des Säuglings (bis zum 1. Lebensmonat) ist demnach eine symbiotische Bindung an die Mutter unabdinglich für das Wohlergehen des Kindes. In diesem Entwicklungsstadium gibt es noch kein Ich, das von einem Nicht-Ich unterschieden wäre - Innenwelt und Aussenwelt werden somit erst langsam, in der Differenzierungsphase, als unterschiedlich wahrgenommen (Mahler, Pine & Bergman, 1980) (Kriz, 2014, S.

Ich-Psychologie beschäftigt sich mit der Frage, wie es Menschen gelingt, sich an die Welt, in der sie leben, anzupassen. Dabei geht es um Fragen der Entwicklung von Beziehungsstrukturen ebenso wie um die Regulation von Selbst- und Selbstwertgefühl, aber auch um Aspekte der Entwicklung der Motorik oder der Denk- und Wahrnehmungsfunktionen (Mertens, 2014, S.

Die psychoanalytische Untersuchung besteht in einer besonderen Form der Begegnung zwischen Menschen. Sie ist in erster Linie ein Gespräch, allerdings eines mit bestimmten Spielregeln, das sich von der gewöhnlichen Kommunikation unterscheidet. Durch die psychoanalytische Grundregel wird der Analysand angeregt, alles, was er spürt, was er fühlt und was ihm einfällt - sei es ihm auch unangenehm, peinlich oder erscheine es ihm unangemessen und unwichtig - möglichst unausgewählt und unzensiert zu Äußern.

Der Psychoanalytiker versucht, diesen freien Assoziationen mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zu begegnen; das bedeutet, daß nichts a priori bevorzugt, gewichtet oder bewertet wird. Indem sich der Analytiker so in eine Befindlichkeit größtmöglicher Offenheit seines Fühlens, Denkens und Wissens begibt, bemüht er sich, der unbewußten Aktivität des Analysanden und seiner selbst möglichst freien Raum zu eröffnen.

Die Freiheit der Einfälle des Analysanden ist allerdings begrenzt durch die Spannung zwischen vielen Faktoren. So sehr sich ein Analytiker auch bemühen mag, seinem Analysanden mit aufmerksamer Zurückhaltung (Abstinenz) zu begegnen, so unvermeidlich ist es, daß er zum Beispiel durch sein Alter, sein Geschlecht, die Einrichtung seiner Praxis, seine Art zu sprechen und vieles andere mehr seinen Analysanden beeinflußt. Umgekehrt löst jeder Analysand eine Fülle innerer Bewegungen im Analytiker aus.

Übertragung und Widerstand

Übertragung ist eine in allen Beziehungen - also auch in allen psychotherapeutischen Beziehungen jeder Therapierichtung - wirksame Erscheinung. Man versteht darunter, daß eine aktuelle Erfahrungssituation unbewußt nach dem Muster einer früheren interpretiert wird. Im pathologischen Fall heißt das, daß ein Patient die Gegenwart entsprechend seiner Vergangenheit mißversteht (Greenson), an die er fixiert ist. Der Analytiker nimmt als Übertragungsleinwand in den Phantasien des Analysanden bestimmte Rollen früherer Beziehungspersonen ein oder repräsentiert Selbst-Anteile des Analysanden.

Als Widerstand werden all die unbewußten Kräfte und Abwehrmechanismen bezeichnet, die sich dem Bewußtwerden des Verdrängten entgegenstellen. Die im eben dargestellten Sinne «freien» Einfälle des Patienten erweisen sich nicht als zufällig, sondern zeigen die «determinierende Ordnung» des Unbewußten auf. «Determinismus» bedeutet in psychoanalytischer Sichtweise, daß «alles seinen Sinn hat» und die psychische Gegenwart von der individuellen und kollektiven Erfahrungsvergangenheit mitgeprägt wird.

Dementsprechend besteht die Aufgabe der Psychoanalyse darin, im «Kampf um die Erinnerung» (Alexander Mitscherlich) gegen unbewußte Widerstände die unbewußten lebensgeschichtlichen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge im aktuellen Erleben und Verhalten erkennbar zu machen, zu rekonstruieren und zu deuten. Neben einer langjährigen theoretischen und praktischen Weiterbildung hat er vor allem eine mehrjährige persönliche Lehranalyse absolviert, um sich auf diese Aufgabe vorzubereiten.

In den Träumen, Fehlleistungen, Symptomen und anderen seelischen Produktionen der Menschen und in den Einfällen des Analysanden begegnen dem Analytiker die unbewußten Inhalte vorwiegend in verzerrter,verschobener und verdichteter Form, in symbolischer Darstellung. Sie bedürfen also einer Interpretation.

Weiterentwicklung der Psychoanalyse

Schließlich macht sich die Psychoanalyse seit ihren Anfängen als Wissenschaft fortlaufend selbst zum Gegenstand ihrer Analyse (beispielsweise in der Theoriebildung oder bezüglich behandlungstechnischer Weiterentwicklungen). Dazu setzt sie neben ihrem eigenen Untersuchungsinstrument auch andere, zum Beispiel empirische Methoden ein, ohne sich allerdings dem wissenschaftlichen Zeitgeist der Quantifizierbarkeit völlig zu unterwerfen.

Die psychoanalytische Theorie ist ein komplexes System von Hypothesen über die Funktionsweisen und die Entwicklung der Seele. Dabei geht es zwar stets um den Einzelnen, jedoch immer in seinem sozialen Kontext. Da sich unbewußte Inhalte wie auch andere seelische Phänomene in der Regel nicht direkt beobachten lassen, sind Modellvorstellungen und hypothetische Konstrukte unumgängliche Voraussetzungen und Hilfsinstrumente für das Erfassen seelischer Wirklichkeiten. Durch ständige Wechselwirkungen mit klinischen Erfahrungen und unter Einbeziehung der Forschungsergebnisse von Nachbardisziplinen (zum Beispiel: Bindungstheorie, Familientherapie, Hirnforschung, Konstruktivismus, Neurobiologie, Säuglingsforschung) entwickeln sich die Denkmodelle der Psychoanalyse ununterbrochen weiter.

Der amerikanische Psychoanalytiker Pine hat kürzlich «vier Psychologien der Psychoanalyse» unterschieden: die Trieb- Psychologie, die Ich-Psychologie, die Selbst-Psychologie und die Objektbeziehungs-Psychologie.

Unter genetischer Betrachtung (als Entwicklungspsychologie) untersucht die Psychoanalyse, wie in den verschiedenen Entwicklungsabschnitten (zum Beispiel vorgeburtliche Zeit, Geburt, Säuglingszeit, Frühkindheit, Kindheit, Latenzzeit, Pubertät, Adoleszenz, Erwachsenenalter, Alter) in den Selbst- und Objektbeziehungen phasenspezifische psychosoziale Entwicklungsherausforderungen und Krisen durchlebt werden. Sie führen je nach ihrem geglückten oder mißglückten Verlauf, ihren gelingenden oder mißlingenden Lösungsversuchen und Lösungen zu bestimmten Identitätsdimensionen (Erikson), zur Ich-Reife oder zu seelischen Erkrankungen. Entwicklung ist für die Psychoanalyse seit Freud immer lebensgeschichtliche Einigung zwischen «innerer» (biologischer) und «äußerer» (gesellschaftlicher und kultureller) Natur im Sinne einer Ergänzungsreihe.

Soweit sich die psychoanalytische Perspektive mehr auf die Entwicklung des eigenen Selbst konzentriert, bekommen die Theorie des Narzißmus oder die Selbst-Psychologie grundlegende Wichtigkeit. Die Selbst- Psychologie räumt dem Narzißmus eine eigene bedeutsame Entwicklungslinie ein. Als reifere Ausdrucksformen des gesunden Narzißmus gelten zum Beispiel Wissen, Humor und Kreativität. Sowohl in der Selbst-Psychologie als auch in der Objektbeziehungs- Psychologie sind die emotionale Einfühlung in den Patienten und die personale Resonanz des Psychotherapeuten, das «Prinzip Antwort» (Heigl- Evers u. Heigl), besonders wichtig für die Behandlungstechnik.

Die Psychoanalyse als Therapie

Kein Psychoanalytiker erhebt den Anspruch, eine Psychotherapie für alle psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen anbieten zu können. Auch mit dem Begriff «Heilung» geht der Psychoanalytiker außerordentlich behutsam um.

Einer psychoanalytischen Therapie voraus gehen ein oder mehrere Vorgespräche, sogenannte klinische Erstinterviews. Sie unterscheiden sich von einer medizinischen Anamnese oder psychiatrischen Exploration durch eine absichtsvolle Unstrukturiertheit, die der Entfaltung der psychischen Dynamik des Patienten in der Analysand-Analytiker-Beziehung möglichst großen und freien Spielraum anzubieten versucht. Die Au fmerksamkeit des Psychoanalytikers stellt sich grundsätzlich nicht in erster Linie auf«objektive» Fakten ein, sondern auf die subjektive Bedeutung.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Psychoanalyse eine tiefgreifende und vielschichtige Methode zur Erforschung und Behandlung der menschlichen Psyche darstellt. Ihre Konzepte und Techniken haben die moderne Psychotherapie massgeblich beeinflusst und bieten bis heute wertvolle Ansätze zum Verständnis und zur Bewältigung seelischer Konflikte.

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