Schmerz und Emotion sind eng verknüpft mit fundamentalen biologisch wie sozial verankerten Erfahrungen, die jedes Menschenleben prägen und ein breites Spektrum von gesunden bis pathologischen Entwicklungen und Zuständen bedingen können. Jeder Mensch kennt Schmerzen und weiss, dass schmerzhafte Erlebnisse von Emotionen begleitet sind.
Dies lässt sich anhand von Redewendungen einfach zeigen. Der Volksmund spricht etwa von einem «schmerzvollen Abschied», von «Verlust- oder Herzschmerz» und so weiter, und meint damit, dass sich ein emotionales Erlebnis mit einer Schmerzerfahrung - hier einer seelischen - deckt, was nicht ausschliesst, dass diese durchaus auch auf einer körperlichen Ebene schmerzhaft wahrgenommen werden kann. Die Hypothese, welche sich hieraus ableiten lässt, lautet: Seelische Schmerzen sind nichts anderes als Emotionen.
Seelisches im Körperlichen und vice versa. Damit wird gleichzeitig verdeutlicht, dass sich Seelisches im Körperlichen und vice versa darstellen beziehungsweise abbilden kann. Auch primär körperliche Schmerzen akuter peripher nozizeptiver Natur sind also von emotionalen Reaktionen begleitet und verfügen über eine «Gefühlsspur».
Die Rolle des Gehirns bei der Schmerzwahrnehmung
Lange herrschte Unklarheit darüber, wie die äusserst komplexe Wahrnehmung «Schmerz» im zentralen Nervensystem zustande kommt beziehungsweise darüber, welche Areale im Hirn dabei involviert sind. Schmerz wurde vorwiegend als subkortikales Phänomen angesehen, ungeachtet der Tatsache, dass Patienten im Rahmen von nachweislich kortikalen Anfällen über Schmerzempfindungen berichteten.
Erst die Entwicklungen der funktionellen Bildgebung machte es in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts technisch möglich, die zentralen Aktivierungsmuster im Rahmen peripherer Schmerzstimulation verlässlich sichtbar zu machen und für den Menschen darzustellen. Es wurde nicht zum ersten Mal, aber dennoch sehr illustrativ gezeigt, dass die sensorische von der affektiven Komponente getrennt wahrgenommen wird und dass unterschiedliche funktionelle neuronale Areale dabei involviert sind.
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Phänomenologisch war bereits früher aufgrund klinischer Beobachtungen nicht anzuzweifeln, dass Schmerzen aus einem sensorischen, einem affektiven und einem kognitiv-bewertenden Teil bestehen beziehungsweise sich aus diesen Elementen zusammensetzen. Die drei Umschreibungen werden der Tatsache gerecht, dass uns das zentrale Nervensystem aufgrund spezifischer dazu geeigneter Regionen befähigt, einerseits Schmerz detailliert und rational zu beschreiben (Lokalisation, Intensität, Qualität, Stärke etc.) (a), andererseits in Bezug auf emotionale und damit nicht der Ratio unterworfene Aspekte (unangenehm, ekelhaft, angsterregend, Leiden erzeugend) (b) zu erfassen und bewusst wahrzunehmen, und dass schliesslich die Möglichkeit besteht, den Schmerz in einen weiteren, abstrakteren Kontext zu stellen und kognitiv - also bewusst gedanklich - zu bewerten (c).
Bereits zuvor war durch eine so interessante wie findige Untersuchung (3) gezeigt worden, dass die neuronalen Strukturen, die den Schmerzaffekt repräsentieren (ACC, IC), von denjenigen, welche für die Schmerzdiskriminierung eines peripheren nozizeptiven Stimulus notwendig sind (SI, SII), zentral unterschiedlich verortet sind (Abbildung 2). Darüber hinaus konnte mit dieser Studie gezeigt werden, dass der den Schmerz begleitende Affekt (angenehm vs. unangenehm) bei objektiv gleichbleibender Reizstärke von der Erwartung des Individuums - durch hypnotische Suggestion beeinflusst - abhängt und damit subjektiv stark variiert.
Überhaupt scheinen Erwartungen und Vorinformationen auf die sensorische und affektive Empfindung «Schmerz» einen erheblichen Einfluss zu haben, was auch aus der Plazeboforschung bekannt ist.
Aufgrund von solchen Befunden war es möglich, die zentralen Strukturen (s.o.), welche für die komplexe Wahrnehmung «Schmerz» wichtig sind, im Sinne einer «Schmerzmatrix» funktionell zusammenzufassen (1, 6, 7) und in ein laterales sowie ein mediales System zu unterteilen (Abbildung 3), wobei Ersteres die diskriminativen, Letzteres die affektiven Wahrnehmungsqualitäten vermittelt. Es liegt nahe, zu vermuten, dass bei chronischen Schmerzpatienten die Empfindung vor allem durch das mediale System gesteuert wird beziehungsweise dieses zuungunsten des lateralen Systems aktiv ist.
Beobachtet man doch, dass Patienten mit chronischen, organisch nicht erklärbaren Schmerzen diese nur sehr diffus, oft ungenau und eher im Sinne von Gefühlen und bildhaften Metaphern zu beschreiben vermögen.
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Psychische Faktoren und Schmerzempfinden
Diese Ansicht lässt sich epidemiologisch dadurch stützen, dass Menschen mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen häufiger an nicht primär organischen Schmerzsyndromen erkranken (8, 9). Auch posttraumatische Belastungsstörungen sind zu einem hohen Prozentsatz mit chronischen Schmerzen vergesellschaftet (10-12). Ein solcher Zusammenhang könnte auch dadurch mit bedingt sein, dass traumatische Erfahrungen und damit negative Affekte, insbesondere auch Angst, bereits früh die Fähigkeit behindern, vertrauensvolle menschliche Bindungen einzugehen und zu halten.
Diese Menschen sind also neurobiologisch anfälliger dafür, chronische Schmerzen zu entwickeln. Vielleicht gerade deshalb, weil sie sich grundsätzlich einsamer und verlassener fühlen. Meredith hat jedenfalls gezeigt, dass ein unsicherer Bindungstyp und chronische Schmerzen gehäuft assoziiert auftreten (13).
Schmerzen sind notwendig, um die eigenen Grenzen in der Umwelt und damit auch diejenigen seines Körpers zu erfahren und überhaupt ein Körper- und Selbstbild zu entwickeln. Engel (16) beschrieb, wie Schmerz im Rahmen des gesunden und pathogenen entwicklungspsychologischen Prozesses die Rolle eines wichtigen Regulators einnimmt.
Psychosomatische Fehldeutungen und ihre Folgen
Viele Krankheiten, die heute als organisch anerkannt sind, wurden lange Zeit als psychosomatisch eingeordnet. Bei Krankheiten, die weniger gut erforscht sind oder deren Forschungsstand Ärzt*innen weniger bekannt ist, sind psychosomatische Krankheitsmodelle aber immer noch weit verbreitet. Die Art der psychosomatischen Fehleinordnung änderte sich bei ME/CFS im Laufe der Zeit.
Heutige psychosomatische Krankheitsmodelle, wie bspw. in der PACE-Studie postuliert, gehen von „dysfunktionalen Überzeugungen“ aus, die die Krankheitssymptome bei ME/CFS angeblich aufrechterhalten. ME/CFS-Betroffene erleiden nach diesem Modell Zustandsverschlechterungen aufgrund ihrer Erwartungshaltung (selbsterfüllende Prophezeiung) und nicht aufgrund krankhafter Prozesse in ihrem Körper. Das von ME/CFS-Betroffenen angewandte Pacing wird demnach nicht als überlebensnotwendiges Krankheitsmanagement angesehen, sondern als ängstliche Vermeidung von Aktivität interpretiert, wodurch der Körper dekonditioniert werde und dadurch die Symptome aufrechterhalten würden.
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Entgegen der Annahme solcher psychosomatischer Krankheitsmodelle finden sich zahlreiche und replizierte krankhafte organische Befunde bei ME/CFS, darunter schwere Kreislaufstörungen mit endothelialer Dysfunktion, einer verminderten Durchblutung von Gehirn und Muskulatur, Stoffwechselstörungen im Gehirn mit erhöhtem ventrikulären Laktat und auffälligen MRT-Befunden und eine Reihe von Studien, die einen Zusammenhang der Symptomausprägung mit Autoantikörpern gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren zeigen.
Während es keine empirische Evidenz gibt, die die Annahme „dysfunktionaler Überzeugungen“ stützt oder belegt, dass ME/CFS-Symptome durch Dekonditionierung verursacht werden, zeigen viele Studien, dass sich die Post-Exertional Malaise mit körperlichen Messungen objektivieren lässt. So belegen nach 24 Stunden wiederholte kardiopulmonologische Belastungstests, dass bei ME/CFS-Betroffenen die anaerobe Schwelle sowie die Sauerstoffkapazität beim zweiten Test im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant absinkt, was mit einer Vielzahl von auffälligen Biomarkern für Entzündung, Durchblutung und der Stressantwort einhergeht.
Neben der gesundheitlichen Schädigung, die aktivierende Therapien wie GET bei ME/CFS verursachen, bewirkt die psychosomatische Zuschreibung der Symptome auch eine Stigmatisierung, die bei Betroffenen mit einer geringeren Lebenszufriedenheit und einer reduzierten Zufriedenheit in sozialen Beziehungen einhergeht. Psychosomatische Krankheitsmodelle suggerieren eine vermeintliche Kontrollierbarkeit der Symptome durch das eigene Verhalten und können damit Betroffene durch Erwartungen von Ärzt*innen oder dem sozialen Umfeld unter Druck setzen, die Symptomatik selbst zu verbessern.
Darüber hinaus erschwert eine psychosomatische Fehleinordnung der Symptome die Anerkennung einer Erwerbsminderung und eines Pflegegrads, sodass Betroffene häufig nicht die pflegerische und soziale Unterstützung erhalten, die sie benötigen.
Der aktuelle Forschungsstand zu ME/CFS
Während einige Ärzt*innen ME/CFS immer noch als psychosomatisch einordnen und Betroffene häufig psychosomatische Fehldiagnosen erhalten, existiert unter ME/CFS-Expert*innen sowie Patientenorganisationen ein breiter Konsens, dass es sich um eine organische Erkrankung handelt. Dieser Konsens spiegelt sich auch in der Mehrzahl der Studien zu ME/CFS wider: Zwischen 1979 und 2019 beforschten die meisten Studien (80 %) zur Ätiologie von ME/CFS organische Ursachen, nur 20 % beforschten psychologische Ursachen.
Wie bei anderen chronischen Krankheiten geht auch ME/CFS aufgrund der stark verminderten Lebensqualität und wegen bislang noch fehlender wirksamer/zugelassener Medikamente mit einer großen psychischen Belastung einher. Diese Belastung kann das Risiko für sekundäre psychische Erkrankungen erhöhen und z. B. eine reaktive Depression mitbedingen.
Falls von den Betroffenen erwünscht, kann eine supportiv ausgerichtete Psychotherapie sinnvoll sein, um bspw. Strategien im Umgang mit dieser schweren chronischen und bislang noch nicht heilbaren Erkrankung zu erlernen. Es ist allerdings zu beachten, dass eine supportive Psychotherapie nur dann möglich ist, wenn abhängig vom Schweregrad der Erkrankung bei den Betroffenen durch die Therapiesitzungen keine nachhaltige Zustandsverschlechterung aufgrund von PEM zu erwarten ist.
Funktionelle Störungen nach somatischen Erkrankungen
Akute und chronische Verdauungsstörungen sind häufig mit einer funktionellen Störung assoziiert, die sie nachahmt und verlängert(1). Diese bei Erwachsenen häufige und bestens dokumentierte Beobachtung findet sich auch bei Kindern und Jugendlichen(2). Als «funktionelles» Syndrom respektive Symptom bezeichne ich Störungen ohne feststellbaren zugrunde liegenden Organschaden.
Oft handelt es sich um akute infektiöse (z. B. Gastroenteritis) oder traumatische (Unfall oder Operation) Erkrankungen. Das Auftreten einer funktionellen Störung nach einem entzündlichen oder traumatischen Phänomen vermittelt den Eindruck, als würden die Symptome trotz einer «Heilung» der Läsionen fortbestehen. Die Patient:innen verstehen das nicht und erleben es als belastend. Als Ärzt:innen müssen wir zwischen den beiden beteiligten Komponenten unterscheiden: der organischen Erkrankung und der funktionellen Störung.
Definitionsgemäss liegt bei dieser Art von funktionellen Störungen wie auch bei den anderen kein nachweisbares organisches Korrelat vor. Tatsächlich reagiert der Verdauungstrakt sehr empfindlich auf Einflüsse emotionaler Faktoren. Bei einem klassischen «psychophysiopathologischen» Szenario bestehen körperliche und psychische Faktoren nebeneinander(10). Generell sind ohne ursächliche Läsion auftretende somatische Störungen, die bereits bestehende organisch bedingte Symptome nachahmen, in klinischen Fachkreisen gut bekannt.
De novo auftretende funktionelle gastrointestinale Störungen nach einer Gastroenteritis sind ein in der Praxis bekanntes und wissenschaftlich belegtes Phänomen mit einer Inzidenz von 10-25 %. In diesem Fall spricht man von einer postinfektiösen FGID (PI-FGID)(1). Häufige postinfektiöse funktionelle Störungen sollten dem Arzt oder der Ärztin geläufig sein. Für die entsprechende Diagnosestellung genügt in der Regel bereits die Normalisierung der wichtigsten Entzündungsparameter.
Etwa ein Drittel der Patient:innen mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (CED) weisen eine FGID auf(14,15). Tatsächlich ähneln sich die ursprünglichen organisch bedingten und die funktionellen Symptome stark. In manchen Fällen verschärfen sich postinflammatorische oder posttraumatische funktionelle Störungen und werden refraktär, was das Leben der Patient:innen stark beeinträchtigen kann.
Unter diesen Umständen ist eine Zusammenarbeit mit Spezialist:innen für Psychiatrie, Psychotherapie oder Psychosomatik empfehlenswert. Jede akute oder chronische Erkrankung, jede Operation wird zu einem gewissen Grad «rational» erlebt. Jedoch verbinden sich damit auch irrationalere und bisweilen unbewusste Vorstellungen, welche die betroffene Person möglicherweise aus Scham lieber für sich behält.
Die Rolle des Vertrauensarztes im KVG
Der Vertrauensarzt muss sich im Rahmen des KVG (wie auch des VVG) vor allem mit Fragen zu Dauer der Psychotherapie, Spitalbedürftigkeit und Indikation zur psychosomatischen Rehabilitation äussern.
Ärztliche Psychotherapie (Art. 49 KVG)
Der behandelnde Psychiater kann während maximal 40 Sitzungen psychotherapeutische Abklärungen und Psychotherapie nach Methoden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist, durchführen, und zwar ohne Bericht an den Vertrauensarzt (VA). Modifikationen dieser drei Therapieformen, beispielsweise die Gestalttherapie, sind ebenso wirksam und können gleichermassen angewendet werden.
Soll die Psychotherapie nach 40 Sitzungen zu Lasten der OKP fortgesetzt werden, prüft der VA Bericht und Vorschlag des behandelnden Psychiaters und beantragt dem Versicherer, ob und für welche Dauer bis zum nächsten Bericht die Therapie fortgesetzt werden kann. Ist der VA der Meinung, dass das angestrebte therapeutische Ziel durch die vorgeschlagene Art nicht erreicht werden kann, soll er den behandelnden Psychiater kontaktieren und verlangen, den Behandlungsplan näher zu begründen oder allenfalls einen modifizierten Behandlungsvorschlag zu unterbreiten.
Kommt der VA zum Schluss, dass die Psychotherapie nicht der Behandlung einer psychischen oder psychosomatischen Erkrankung dient oder kein definiertes therapeutisches Ziel anstrebt (wie z.B. Als Leitlinie für die maximale Therapiefrequenz, welche die WZW-Kriterien erfüllt, kann die Regelung der KLV, wie sie vor dem 2007 in Kraft war, gelten: Zwei Sitzungen pro Woche in den ersten drei, eine pro Woche in den folgenden drei Jahren, anschliessend noch eine alle zwei Wochen.
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