Franz Kafka, eine Ikone der Moderne, hätte sich wohl selbst in seinen schlimmsten Albträumen nicht ausmalen können, dass man eines Tages sogar seine in der Personalakte gesammelten Krankmeldungen ausstellen würde. Viel hätte nicht gefehlt, und auch von diesem Frank Kafka wäre wenig mehr übrig geblieben als ein paar schmale Bücher. Schliesslich hatte er verfügt, sein Freund Max Brod solle nach seinem Tod den schriftlichen Nachlass, darunter seine drei Romane, «restlos und ungelesen verbrennen», bereits Publiziertes sollte zumindest nicht neu aufgelegt werden. Bekanntlich ignorierte Brod Kafkas Testament, und seitdem interessiert sich die literarische Öffentlichkeit für alles, was mit dieser deutsch-jüdischen Schriftstellerexistenz in Prag zusammenhängt.
Kafkas Leben im Spiegel seiner Werke
Wenn Franz Kafka heute durch seine Heimatstadt Prag laufen würde, käme er aus dem Staunen nicht mehr heraus: Da fährt eine Strassenbahn, verziert mit Zitaten aus seinen Texten. Dort dreht sich eine elf Meter hohe, tonnenschwere Skulptur seines Kopfes. In einer Galerie läuft eine Ausstellung namens «Kafkaesk». Und in den Buchhandlungen der tschechischen Hauptstadt kaufen Touristen seine Bücher in allen Weltsprachen.
Am 3. Juni 1924 starb Kafka mit 40 Jahren an Tuberkulose. Als Kafka vor 100 Jahren in einem Sanatorium in Kierling bei Wien starb, war er vom Weltruhm weit entfernt. Seine Romanfragmente «Der Prozess», «Das Schloss» und «Der Verschollene» waren unveröffentlicht geblieben.
Anlässlich des 100. Todestags ist Kafka in Fernsehen, Kino und Theater so präsent wie lange nicht mehr. «Kafka wäre schockiert, wenn er miterleben könnte, was im Moment passiert», sagte sein Biograf Reiner Stach vor wenigen Tagen auf der Prager Buchmesse. Kafka habe sich am Ende seines Lebens als einen gescheiterten Schriftsteller betrachtet, weil er viele Fragmente hinterlassen und keinen seiner Romane zu Ende geführt habe. «Wenn er das jetzt erleben würde, das würde seine Bilanz völlig auf den Kopf stellen», sagte Stach.
Die Bedeutung von Kafkas Werk
Kafka war ein Meister der ersten Sätze, man denke an den fulminanten Start in den «Prozess»-Roman: «Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.» Oder: «Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt», der Beginn der Erzählung «Die Verwandlung». Es sind kanonische Sätze.
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«Das Werk Kafkas (. . .) ist zum Opfer einer Massenvergewaltigung durch nicht weniger als drei Armeen von Interpretationen geworden», hatte Susan Sontag in «Against Interpretation» beklagt. Frühe Interpreten deuteten Kafka als eminent jüdischen Autor, seine Thematiken als posttalmudisches Echo von Grübeleien über Gottes undurchschaubare Gerechtigkeit. Andere wiederum vermuteten im Irrsinn der kafkaschen Behörden ahnungsvolle literarische Erkundungen über den Totalitarismus.
Schliesslich sind da die psychoanalytischen, freudianischen Interpreten, die das alles aus der repressiven Vaterfigur ableiten. Und es kamen noch ein paar Interpretationen hinzu, politischere, kapitalismuskritische Deutungen beispielsweise über die Entfremdung der Menschen, des Leidens an dem, was man später die verwaltete Welt nennen sollte.
Wer Kafka liest, grübelt, was der Autor auf geheimnisvolle Weise meinen könnte, vielleicht sogar ohne bewusste Intentionen des Autors selbst.
Kafkas Inspiration aus der Verzweiflung
Franz Kafka wurde 1883 in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren, die aus der Provinz in die Stadt gezogen war. Sein Vater, Hermann Kafka, war die beherrschende Überfigur der Familie. Der Vater und die Mutter Julie standen täglich von früh bis spät im Geschäft, so dass sie der Junge meist nur zum kurzen Mittagessen sah. Zwei ältere Brüder starben innerhalb weniger Jahre an Krankheiten. Er war in gewisser Weise ein Überlebender, da war er noch in den Windeln. Drei jüngere Schwestern kamen als Nachzügler.
Die Familie war nicht sonderlich religiös, jüdische Kultur und Lebenswelten waren aber gewohnheitsmässig präsent. Das Aufwachsen von Kafka in der Gegend, die ein paar Jahre vorher noch ein jüdisches Ghetto gewesen war, mit ihren Synagogen an allen Strassenecken, fiel genau in die Ära allmählicher Säkularisation und Assimilation. Über die jüdischen, meist deutsch schreibenden Autoren dieser Zeit im multiethnischen, deutsch-tschechisch-jüdischen Prag wird Kafka 1921 an seinen Freund Max Brod schreiben: «Mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters, und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration.»
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Unbestritten: Für psychologische Interpretationen und einfache Muster bietet sich Kafka geradezu an. Da ist die Auseinandersetzung mit dem Vater, den er in dem berühmten «Brief an den Vater» (1919) und seinen Tagebüchern als gefühllosen Tyrannen geschildert hat («Ich habe mich geradezu in Hass gegen den Vater hineingeschrieben», heisst es am 31. Oktober 1911). Da ist die Selbstwahrnehmung Kafkas als existenziell Einsamer: «Ich lebe in meiner Familie, unter den besten und liebevollsten Menschen, fremder als ein Fremder» (21. August 1913).
Da ist auch die Verletzlichkeit des zarten, dünnen Kafka, die Selbstbeschreibung als «das Unglückswesen, das ich bin». Da ist das Leiden des jungen, erfolgreichen Juristen unter der Büroarbeit, zunächst bei der Assicurazioni Generali und später bei der Arbeiter-Unfallversicherung. «Im Bureau genüge ich äusserlich meinen Pflichten, meinen inneren Pflichten aber nicht», notiert er am 28. März 1911 im Tagebuch. Schreiben konnte er nur an den Abenden, in der Nacht, in Urlauben. «Mein Posten ist mir unerträglich» (21. August 1913).
Schliesslich kommen Kafkas Beziehungsnöte hinzu, seine geschlossenen und wieder gelösten Verlobungen mit Felice Bauer. In seinem Tagebuch notiert er eine «Zusammenstellung alles dessen, was für und gegen meine Heirat spricht». Dazu gehört: «Ich muss viel allein sein. Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins. (. . .) Allein könnte ich vielleicht einmal meinen Posten wirklich aufgeben. Verheiratet wird es nie möglich sein» (21. Juli 1913). Er registriert seine Körperfeindlichkeit, wenn er schreibt, «die systematische Zerstörung meiner selbst im Laufe der Jahre ist erstaunlich» (17. Oktober 1921). Und dann ist da endlich der Ausbruch der Krankheit ab 1917.
Das Bild des kafkaesken Kafka
Doch das sind Entwürfe eines Selbstbildes, die mit der Realität nicht immer viel zu tun haben. Autofiktional, buchstäblich. Der Vater war nicht gar so ein Tyrann. Kafka, der sich als ungenügend für die Büroarbeit beschreibt, war ein erfolgreicher Angestellter, er liebte die Frauen und war sich seiner Anziehungskraft durchaus bewusst, und er war keineswegs so ungesellig, wie er uns aus seinen schriftlichen Selbstzüchtigungen erscheinen mag. Dieses Selbstbild hallt auch in den Fremdbildern nach, etwa bei Milena Jesenská, einer von Kafkas späten Vertrauten, die ihn noch in ihrem Nachruf «einen Einsiedler, einen wissenden, vom Leben erschreckten Menschen» nannte.
Es ist bezeichnend, dass es nur zwei Schriftsteller gibt, die es zu einem geläufigen Adjektiv brachten, George Orwell und Franz Kafka. «Orwellsch» - im Englischen noch gängiger «orwellian» - ist eine Welt von Überwachung, Kontrolle und alles durchdringender Propaganda, die die Lüge in Wahrheit verwandelt. «Kafkaesk» ist eine Situation, die absurd und rätselhaft ist, aber auch unlogisch und bedrohlich.
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Orwellsche Welten sind immer kafkaesk, kafkaeske Welten meist auch orwellsch.
So verhält es sich im «Prozess», in dem Josef K. einer gerichtlichen Untersuchung ausgesetzt ist und nie erfährt, was ihm eigentlich vorgeworfen wird, und in der seine Schuld dennoch festgestellt wird. Oder im «Schloss», dem Roman, in dem sich die ganze Existenz und Identität des Landvermessers auf einen Irrtum gründet. In gewissem Sinne gilt es auch für «Amerika» (heute meist als «Der Verschollene» bekannt), in Kafkas hellstem Roman, in dem der Auswanderer, ein verstossenes Kind noch, fortwährend in Situationen gerät, in denen er einfach nur passiv die Dinge mit sich geschehen lässt, da Verteidigung zwecklos ist.
«Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns», schrieb der junge Kafka 1904 in einem Brief an einen Freund.
Kafka als Prophet seiner Zeit
Die heutige Kafka-Rezeption deutet den Schriftsteller oft auch als prophetisch, als einen, der das kommende Verhängnis ahnte. Holocaust, Lagerwesen, ein Staat, der den Einzelnen zermalmt. Man sieht darin den Stalinismus, die absurden Anklagen der Moskauer Prozesse, die Angst in den kommunistischen Nachkriegsgesellschaften, in die Mühlen der Verleumdung zu geraten. Dass Josef K. verhaftet wurde, ohne etwas Böses getan zu haben, las man im Prag der fünfziger Jahre wie eine Zeit- und Regimekritik.
Nicht zufällig war Kafka verboten.
Die wechselhafte Rezeption Kafkas
Die Geschichte der Kafka-Rezeption ist ein Abenteuer für sich. Zu Lebzeiten hat er wenig veröffentlicht, seine nachgelassenen Schriften sollten verbrannt werden, wie er seinem Freund Max Brod aufgetragen hatte - der sich, wie Kafka aber wissen konnte, nicht daran halten würde. Walter Benjamin würdigte Kafka in vielen Schriften, Adorno ebenso, Brecht sowieso. Tucholsky pries ihn schon 1920 in der «Weltbühne» als zweiten Kleist.
Kafka stach heraus aus der Zeit. Aber mit der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und Kultur durch die Nazis geriet auch Kafka in Vergessenheit, bis ihn eine spätere Zeit wieder entdeckte. Kafka war: erst Geheimtipp, dann gefeiert, dann vergessen, danach eine Pop-Ikone, wie Warhol oder Marilyn.
Kafka hat seinen eigenen Ton, dazu gehören die Genauigkeit der Sprache, die Präzision und die Schnörkellosigkeit. Kafkas Schreibweise war ein einfacher, lapidarer Stil, ohne alle manierierten Spielereien. Kafka war Avantgarde, ohne die angestrengte Avantgardehaftigkeit.
Noch die düstersten Passagen haben auch etwas Lustiges. Ironie und schwarzer Humor eignen sich ja bestens als Waffen. Gelegentlich hat man ihn mit Autoren wie Daniil Charms verglichen. Er war auch ein Meister des Komischen, der gesellige Kafka unterhielt Freunde und Verwandte, und bei öffentlichen Lesungen war er ein packender Rezitator. Es kam vor, dass seine eigenen Texte ihn zum Lachen brachten, etwa wenn er aus «Die Verwandlung» vorlas. «Kafka war immer heiter», so seine letzte Gefährtin Dora Diamant. «Er war der geborene Spielkamerad, der immer zu irgendwelchen Spässen aufgelegt ist.»
Milan Kundera schrieb über seinen Landsmann: «Es gibt Tendenzen in der modernen Geschichte, die das Kafkaeske im grossen gesellschaftlichen Massstab produzieren.» Vor Kafka hätten Romanciers Behörden oft «als einen Kampfplatz entlarvt», so Kundera, als Arena von Eitelkeit, Karrierismus, von Netzwerk-Interessen. «Bei Kafka ist die Behörde ein Mechanismus, der seinen eigenen Gesetzen gehorcht, (. . .) also unbegreiflich ist.» Die Behörde ist selbst Subjekt.
Man kann Kafka auch gut vor dem Hintergrund von Foucaults Machttheorien lesen, dass Macht etwas ist, was systemisch wirkt, ohne dass es dafür unbedingt besonders Mächtige braucht, etwa Könige, Diktatoren oder Regierende mit speziellen autokratischen Passionen. Die Behörde und die moderne Gesellschaft verwandeln den Einzelnen in eine Karteikarte. Gerät er ins Visier eines Amtes, beginnt der Einzelne, sein ganzes Leben in den kleinsten Handlungen und Ereignissen zu erforschen. «Die Maschine der ‹Selbstbeschuldigung› ist angelaufen. Der Angeklagte sucht seine Schuld», schreibt Kundera. Das gilt für die Geschichte totalitärer Behörden, in anderer Form begegnet man dem Verhalten auch in Zeiten der Selbstoptimierung. Nicht nur die Lagerhaltung, auch die Freilandhaltung hat ihre Regeln.
«Das autoritäre System», schreibt Jens Jessen jüngst in der «Zeit», «ob nun einer Behörde, des Staates oder nur des Familienvaters, zeigt sich in seiner ganzen vergiftenden Totalität erst dadurch, dass es bis in die Seele des Individuums vordringt und dort sogar Zustimmung auslöst - Zustimmung zum eigenen Verhängnis.»
Kafkas Leben in der Verwaltung
Kafka thematisiert nachts die Ambiguitäten des Bürokratischen, tagsüber arbeitet er selber in der Verwaltung mit. Die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt war nicht nur eine sozialpolitische Institution zur Absicherung von Risiken, sondern wollte - zum Schutz von Arbeitern und zwecks Defizitvermeidung - diese Risiken auch vermindern.
Kafka selbst kämpft für bessere Arbeitsumstände. Er ist eine Art Arbeitsinspektor, fährt in seinem Verantwortungsgebiet herum, macht Vorschläge für Unfallverhütungsmassnahmen, die der Industrie den Verlust von Arbeitnehmern ersparen sollen. Er macht Karriere, ist für seine Vorgesetzten ein grosser Gewinn. Seine Literatur ist vom Amtlichen beeinflusst, das Amtliche von der Literatur. Er wird zum bevorzugten Redenschreiber seines Arbeitgebers und schreibt Texte für die Direktoren. Bei Kongressen der Versicherungswirtschaft kann es gut vorkommen, dass gleich mehrere Referate vorgetragen werden, die aus Kafkas Feder stammen.
Es gibt wohl in der modernen Literatur, auch in der sozialkritischen, kaum einen Autor, der so genau über die Gefahren von Holzhobelmaschinen, die Zustände in Steinbruchbetrieben oder das blutige Geschehen an Montagebändern Bescheid wusste wie Kafka. Skurril ist daran auch:...
Kreativität als Schmerztherapie
Körperliches und seelisches Leid als Inspirationsquelle? Diese These wird durch unzählige Werke aus verschiedenen künstlerischen Disziplinen untermauert. Aber auch ein kreatives Hobby kann vom Schmerz beflügelt werden und diesen umgekehrt in den Hintergrund drängen.
Schmerz ist ein Energiefresser. Er beeinflusst alle Lebensbereiche und vermindert deren Qualität. Trotzdem kann er auch ungeahnte Kräfte freisetzen. «Der Schmerz ist der Stachel der Tätigkeit», war der deutsche Philosoph Immanuel Kant überzeugt. Betrachtet man das umfangreiche Schaffen zahlreicher Künstlerinnen und Künstler, die an unterschiedlichen Erkrankungen litten, so bewahrheitet sich diese Theorie. Man denke nur an die Bilder der mexikanischen Künstlerin Frida Kahlo, die krankheits- und unfallbedingt körperliche und seelische Qualen litt. Der Schmerz war nicht nur treibende Kraft hinter ihrer Kunst, er war auch zentrales Thema. Aus seinem körperlichen Leiden schöpfte auch der Rheumatiker Auguste Renoir Inspiration. Er nutzte die von Schmerzen verursachte Schlaflosigkeit zum Malen wunderschöner Aquarelle von Blumen und Früchten. Paul Rubens, Raoul Dufy, Paul Klee oder Nicki de Saint Phalle litten ebenfalls an einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung. Auch Migränebetroffene wie Richard Wagner, Gustav Mahler oder Franz Kafka schufen trotz oder wegen ihrer Schmerzattacken ein umfangreiches Gesamtwerk. Der deutsche Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche, ebenfalls Migräniker, sah im Schmerz sogar den «letzten Befreier des Geistes». Die oben genannten Namen stehen exemplarisch für die lange Liste leidender Künstlerinnen und Künstler.
Jasmin Polsini, Künstlerin und Ehlers-Danlos Betroffene: «Schon als Kind erkannte ich Unterschiede zwischen meinen Schmerzzuständen, je nachdem, auf was ich mich konzentrierte. Dies einzusetzen, lerne ich bis heute. Ich habe das Malen und die Kreativität gefunden. Da gelingt es mir am besten, mich vom Schmerz zu distanzieren und ihm anders zu begegnen. Je mehr ich Distanz und Nähe bewusst beeinflussen kann, um so wirksamer sind die Werkzeuge, die ich mir angeeignet habe. Malen radiert den Schmerz nicht aus. Das Scheitern und Aushalten oder seinem Frust freien Lauf zu lassen, gehört ebenfalls dazu. Es funktioniert nicht immer und das sollte man sich nicht übelnehmen. Es gibt so viele Chancen, wie es Schmerzen gibt. Das Gefühl wirksam zu sein, etwas verändern zu können, bietet dem Schmerz die Stirn.»
Während der Schmerz auf der einen Seite künstlerisches Schaffen beflügeln kann, wirkt sich dieses auf der anderen Seite positiv auf den Schmerz aus. Durch die vollständige Vertiefung in eine kreative Tätigkeit gelangt man nicht selten in den sogenannten Flow. In diesem Zustand befindet sich das Gehirn im richtigen Bereich zwischen Über- und Unterforderung, wodurch es sich entspannen kann. Dank dieser Entspannung tritt das Schmerzgeschehen in den Hintergrund. Im gestalterischen Prozess können zudem Gefühle wie Angst, Wut und Trauer aber auch Freude ausgedrückt und verarbeitet werden. Die kreative Tätigkeit hilft schöpferische Ressourcen zu aktivieren, wobei Selbstheilungskräfte freigesetzt werden. Die eigene Kreativität kann als bewegende Kraft erfahren werden, die Veränderung und Wandlung auszulösen vermag. Dies geschieht dadurch, dass der Fokus und die Aufmerksamkeit vom Schmerz weggelenkt werden. Effekte, die sich auch künstlerische Therapien zunutze machen. Der Begriff «Kunsttherapie» schliesst verschiedene Fachrichtungen mit ein, wie beispielsweise Gestaltungs- und Maltherapie, Musiktherapie, Sprach- und Dramatherapie oder Tanz- und Bewegungstherapie. Entsprechende Angebote sind oft Bestandteil interdisziplinärer Schmerzprogramme. Sie können als Einzel- oder Gruppensitzungen durchgeführt werden. Es braucht aber nicht zwingend eine künstlerische Therapie oder Talent, um im Alltag schmerzarme Momente zu erleben. Auch ein kreatives Hobby, das mit Freude ausgeübt wird, kann den gleichen Effekt haben. Das Ergebnis muss in keiner Weise publikumstauglich sein. Vielmehr geht es um die oben beschriebenen Prozesse, die dem Gehirn - dem Entstehungsort von Schmerz - eine Auszeit schenken.
Andrea Möhr, Betriebsökonomin, Mitglied im Vorstand und im Betroffenenrat der Rheumaliga Schweiz: «Sowohl beim Bratsche spielen wie auch beim Zeichnen und Malen kann ich in eine andere Welt abtauchen - nur schon dieses Abschalten stärkt mich. Zusätzlich treten die Schmerzen etwas in den Hintergrund, ich nehme sie weniger stark wahr. Die Bewegungen und die Vibrationen, die beim Spielen des Instruments entstehen, helfen mich physisch zu entspannen. Aber auch das Zeichnen und Malen bringt mir Entspannung, die meistens mehrere Stunden anhält. Die Tätigkeiten helfen mir, auf andere Gedanken zu kommen. Es stärkt mich psychisch, wenn ich sehe, dass ich etwas erschaffen kann. Manchmal tut es auch einfach gut mir den Frust von der Seele zu malen. Ich besuchte auch Einzel-Maltherapiestunden, die mir halfen, eine schwierige Therapiezeit zu bewältigen. Dadurch konnte ich Ruhe in mir finden.»
Petra Lehmann, Kriminalkommissarin, Tänzerin/Tanzlehrerin, Künstlerin und Schriftstellerin: «Wenn ich tanze, lassen mich die Musik und die Bewegungen die Schmerzen und Einschränkungen für einen Moment vergessen. Beim Schreiben meiner Geschichten tauche ich in eine andere Welt ein. Meine Gedanken schweifen weit weg von den Schmerzen in eine spannende, fantasievolle Geschichte. Mit der Kunst verhält es sich ähnlich: Auch beim Zeichnen und Gestalten geniesse ich die Ruhe und Umlenkung meiner Gedanken auf das künstlerische Schaffen. Bei allen drei Tätigkeiten erhalte ich trotz Aufwand im Vorfeld viel Energie und Freude geschenkt. Sie lassen mich für Momente meine Schmerzen vergessen und in andere Welten eintauchen. Sie leiten meine Gedanken weg vom Schmerz hin auf meine Leidenschaften.
Die Darstellung von Tabuthemen in Kafkas Werk
Tabuthemen in der Literatur werden oft durch Aussenseiter:innen dargestellt - Figuren, die sich von der Mehrheit abgrenzen und deren Perspektiven von den vorherrschenden Normen abweichen. Aussenseiter:innen, sei es aufgrund von sozialer Stellung, persönlichen Merkmalen oder unkonventionellen Lebensweisen, brechen oft das Schweigen über Themen wie psychische Erkrankungen, Sexualität oder gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Diese Figuren thematisieren nicht nur Tabus, sondern zeigen auch, wie Stigmatisierung und Ausgrenzung durch die Gesellschaft auf den Einzelnen wirken. Indem sie diese Themen ansprechen, tragen Aussenseiterfiguren dazu bei, verborgene Realitäten sichtbar zu machen und die Schattenseiten gesellschaftlicher Normen zu hinterfragen.
Ein gutes Beispiel für die Darstellung eines Tabuthemas durch eine Aussenseiterfigur findet sich in Franz Kafkas «Die Verwandlung». Hier wird der Protagonist Gregor Samsa über Nacht in einen riesigen Käfer verwandelt - eine Metapher für die Entfremdung, die oft mit psychischen Krankheiten wie Depression oder Burnout einhergeht. Gregors körperliche Verwandlung ist dabei nicht nur eine bizarre Fantasie, sondern spiegelt die innere Zerrissenheit wider, die mit psychischen Belastungen verbunden ist. Besonders eindrucksvoll wird dies, als Gregor nach seinem Sturz auf den Rücken nur mit grosser Mühe wieder auf die Beine kommt. Ein Bild, das die Erschöpfung und Hilflosigkeit einer depressiven Episode eindrucksvoll einfängt. Wie jemand mit Depressionen, der sich gefangen fühlt und Schwierigkeiten hat, aus dem emotionalen Tief herauszukommen, bleibt auch Gregor in seiner physischen Form nahezu bewegungsunfähig, was durch die quälende Langsamkeit und das Gefühl der Ausweglosigkeit unterstrichen wird. Kafka spricht hier indirekt ein Tabuthema an, indem er die seelische Isolation und das Versagen des Körpers als Ausdruck innerer Krise zeigt, ohne das Thema direkt zu benennen.
In Kafkas «Die Verwandlung» wird das Bild des Käfers nicht nur als Metapher für die körperliche Entfremdung genutzt, sondern auch als Symbol für die gesellschaftliche Stigmatisierung depressiver Menschen. In vielen Fällen werden Menschen mit Depressionen als «faul» oder «unmotiviert» abgestempelt, weil Aussenstehende nicht verstehen, dass alltägliche Aufgaben wie das Aufstehen aus dem Bett oder das Zähneputzen eine immense Herausforderung darstellen können. In Gregors Fall wird diese ständige Schwierigkeit, sich selbst zu mobilisieren, durch seine Käfergestalt noch verstärkt. Der Käfer, der als ekelhaft und minderwertig angesehen wird, wird zur perfekten Verkörperung der Ablehnung, die depressive Menschen oft erfahren. Kafka zeigt durch die verzweifelten Versuche Gregors, sich aus der Rückenlage zu erheben, die quälenden Hindernisse, die eine psychische Erkrankung mit sich bringt. Die äusserliche Verwandlung in einen Käfer verdeutlicht, wie sich eine depressive Person in ihrer Umwelt als unbrauchbar und ungenügend erleben kann - eine Perspektive, die oft von der Gesellschaft abgelehnt wird, weil sie das wahre Ausmass der inneren Belastung nicht begreift.
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