Es gibt sie, die leisen Kinder. Sie sind in der Schule eher ruhig und schüchtern und brauchen viel Zeit für sich. Eltern sorgen sich oft um diese Kinder und halten sie für «anders», für «seltsam» oder «nicht richtig».
Sarah findet es anstrengend, neue Leute kennenzulernen. Sie ist gerne alleine und hängt ihren Gedanken nach. «In der Schule bin ich ständig von Menschen umgeben und viele Aufgaben müssen mündlich gelöst werden», erzählt die 17-Jährige aus Baden. «Ich glaube, der ständige Kontakt und das viele Sprechen kosten mich mehr Energie als andere. Zu Hause ziehe ich mich dann erst mal zurück. Das brauche ich, um neue Energie zu tanken.» Typisch für sie sei auch, dass sie von sich aus eher keine Unterhaltung beginnt. Sarah gehört zu den Stillen, Ruhigen, wenig Forschen.
«Warum bist du immer so still?» oder «Geh doch mal mehr aus dir heraus!» - solche Sätze hören introvertierte Kinder und Jugendliche häufig von Erwachsenen. Denn wir leben in einer lauten Gesellschaft: Nicht nur bei Erwachsenen zählen ein hohes Selbstbewusstsein, Kontaktfreudigkeit und die Fähigkeit, sich gut zu präsentieren. Auch bei Kindern ist es ähnlich: Die lauten, gesprächigen Buben und Mädchen fallen mehr auf und bekommen viel Aufmerksamkeit. Die ruhigeren werden dabei eher «übersehen» - und ihre besonderen Fähigkeiten oft gar nicht erkannt.
Die Persönlichkeitseigenschaft Extraversion - aus dem Lateinischen extra = aussen, vertere = wenden - zeigt auf, wie umgänglich und nach aussen orientiert jemand ist. Für jemanden, der beispielsweise hohe Extraversionswerte in einem Persönlichkeitstest aufweist, ist das Leben ein grosser Trubel. Diese Personen sind gern unter Menschen, lieben gesellige Treffen und sind oft sehr energiegeladen.
Das Konzept von Intro- und Extraversion wurde erstmals 1921 vom Psychiater Carl Gustav Jung beschrieben. Er nahm an, dass introvertierte Menschen ihre Aufmerksamkeit und Energie stärker nach innen, extravertierte dagegen stärker nach aussen richten würden. Später wurde die Dimension «Introversion - Extraversion» von Persönlichkeitsforschern in das «Fünf-Faktoren-Modell» (englisch «Big Five»-Modell) der Persönlichkeit integriert.
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Die meisten Fachleute gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der Menschen introvertiert und ein Drittel extravertiert ist. Das übrige Drittel bestreiten die sogenannten «Ambivertierten». Tatsächlich ist der Begriff ein Kunstwort.
Die Kraft der Introvertierten
Mit ihrem Buch «Still. Die Kraft der Introvertierten» hat die frühere US-Anwältin Susan Cain erstmals eine grosse Öffentlichkeit auf den «ruhigen Teil» der Menschen aufmerksam gemacht. Ihre Idee dabei: In einer Zeit, in der vor allem Kommunikation und ein hohes Selbstbewusstsein zählen, über die typischen Merkmale und Stärken von Introvertierten aufzuklären. Dabei möchte sie auch den Betroffenen selbst die Augen öffnen - und ihnen helfen, sich so zu akzeptieren, wie sie sind. Das Buch wurde schnell zum Beststeller.
«Viele Tausend Menschen erzählten mir einfach nur diesen Gedanken: dass ihr stilles Herangehen bei richtiger Nutzung eine starke Kraft darstellt», schreibt Cain. Dieser Prozess der Bewusstwerdung habe das Leben vieler Menschen tatsächlich verändert.
Die Psychologin Brigitte Stirnemann sagt: «Die Schlüsselfrage lautet: Wie verhält sich ein Mensch, wenn er nach einer anstrengenden Zeit seine Batterien aufladen möchte?» Stirnemann ist Psychologin, systemische Beraterin für Paare und Familien und Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich. «Introvertierte tun dies vor allem durch Rückzug auf sich selbst, in einer reizarmen Umgebung und ohne viele Worte.
Zwar machen längst nicht alle introvertierten Kinder und Jugendliche negative Erfahrungen. «Allerdings hat die Fähigkeit, sich zeigen zu können und aktiv mit anderen in Kontakt zu treten, in der westlichen Welt einen hohen Stellenwert», sagt Stirnemann. «Das sind Dinge, die Introvertierten nicht so leichtfallen.» Negative Erfahrungen können dann entstehen, wenn introvertierte Kinder von ihren Eltern oder anderen Menschen ausgesprochen oder unausgesprochen «pathologisiert» würden - ihnen also vermittelt wird, sie seien nicht normal.
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«Weiter können diese Kinder in der Schule oder anderswo eher unsanft dazu gedrängt werden, ihre Zurückhaltung aufzugeben», so die Expertin. «Zum Beispiel, wenn der Lehrer zu einem Kind sagt: Du hältst jetzt mal einen Vortrag ganz allein. Auf der anderen Seite sei das Verhalten der Lehrpersonen heute mehr von Verständnis geprägt als früher, so Stirnemann. Gleichzeitig sind die ruhigen Kinder für Lehrpersonen oft angenehm, weil sie nicht auffallen und «einfach mitlaufen».
Das bestätigt auch die Mutter von Sarah, der jungen Frau aus unserem Beispiel. «Bei unserer Tochter gab es nie wirklich Probleme mit ihrem eher ruhigen Verhalten», berichtet Céline Mahieux. «Die Lehrer haben zwar immer wieder angemerkt, sie solle sich mehr am Unterricht beteiligen. Allerdings werden die ruhigen Kinder im Unterricht oft «übersehen» und können ihr Potenzial gar nicht richtig entfalten.
Wie Eltern und Lehrer helfen können
Für Eltern und Lehrer ist es daher wichtig, zunächst einmal zu erkennen, dass ein Kind introvertiert ist. «Lehrer sollten zum Beispiel nicht vorschnell denken, dass ein Kind, das sich wenig am Unterricht beteiligt, unaufmerksam oder desinteressiert ist», sagt Sina Bardill, Psychologin und Coach mit eigener Praxis in Scharans GR und Luzern. Sie hat sich auf Introversion spezialisiert und veranstaltet Vorträge, Seminare und Fortbildungen zum Thema.
«Das absolut Wichtigste für introvertierte - wie für alle - Kinder ist jedoch, dass sie sich so, wie sie sind, angenommen und geliebt fühlen. Das sollten Eltern und Lehrer ihnen auch vermitteln», betont Bardill. «Ziel sollte es sein, dass ein introvertiertes Kind seine Bedürfnisse mit der Zeit gut kennt und lernt, im Alltag gut mit ihnen umzugehen - zum Beispiel, genügend Zeit für sich allein einzuplanen. So können Eltern und Lehrer die typischen Merkmale der Introversion auf vielfältige Weise loben und fördern.
Für Eltern, die selbst introvertiert und keine Selbstdarsteller sind, ist es oft einfacher, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen und darauf einzugehen. «Sie wissen, was ihm guttut und was für das Kind eher schwierig ist», sagt Stirnemann. «Extravertierte Eltern, denen die ruhige, zurückhaltende Art eher fremd ist, sollten gemeinsam mit ihrem Kind schauen, was es braucht.
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«Ich habe erst lernen müssen, mich bei Sarah auch mal zurückzunehmen, ihr Zeit zum Antworten zu lassen oder eher aktiv zu fragen», berichtet Céline Mahieux. Mit ihrem Vater verstehe sich Sarah dagegen oft einfach ohne grosse Worte. Sarahs 13-jähriger Bruder Raphael ist wie die Mutter extravertiert. «Wegen des grossen Altersunterschieds haben wir nicht so ein enges Verhältnis», erzählt Sarah. «Schwierigkeiten zwischen uns gibt es aber auch nicht.
Auch Susanne Schild, Mutter von zwei Söhnen, 13 und 15, ist in einer Familie aufgewachsen, in der alle eher ruhig und zurückhaltend waren. Die 45-Jährige sieht sich, ähnlich wie Susan Cain, als Botschafterin, die Eltern und Lehrpersonen für das Thema Introversion sensibilisieren möchte. Durch Gespräche mit Eltern, Vorträge und Blogbeiträge möchte sie dazu beitragen, Missverständnisse aufzuklären und Introvertierten zu mehr Selbstakzeptanz zu verhelfen. «Das ist aus meiner Sicht der Schlüssel dafür, dass Kinder sich selbstsicher und stark fühlen können», sagt die 45-jährige Personalfachfrau aus Baden.
Introvertierte Eltern, die sich ihrer Stärken nicht bewusst seien, könnten diese auch nicht an ihre Kinder weitergeben. «Viele Menschen denken, man müsste extravertiert sein, um im Leben erfolgreich zu sein», sagt Schild. «Aber das ist Unsinn.
Oft ist es für Aussenstehende auch nicht einfach, zu erkennen, ob hinter einer stillen Wesensart Introversion oder Schüchternheit steckt. Wie lässt sich Introversion von Schüchternheit unterscheiden? Schüchternheit ist eine Form sozialer Angst. Auch sie ist zum Teil genetisch bedingt, kann sich jedoch durch negative Erfahrungen verstärken und durch positive abschwächen. Schüchterne Menschen wünschen sich den Kontakt zu anderen Menschen, haben aber oft Angst, in sozialen Situationen zum Beispiel abgelehnt zu werden oder sich zu blamieren.
Introvertierte haben dagegen keine Angst vor dem Kontakt. «Introversion ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das ein Leben lang weitgehend gleich bleibt», erläutert Brigitte Stirnemann. «Schüchternheit entsteht dagegen vor allem durch ungünstige soziale Erfahrungen. Sie kann durch günstige soziale Erfahrungen abgeschwächt oder überwunden werden.» Auch ein introvertiertes Kind könne durch negative Erfahrungen schüchtern werden, so die Psychologin.
«Man kann nicht einfach aus dem äusseren Verhalten Schlüsse ziehen, wie es einem Kind geht», betont Sina Bardill. «Wichtig ist daher, dass Eltern und Lehrer eine gute Beziehung zum Kind aufbauen, in der es Zuwendung erfährt und in seiner Persönlichkeit wahrgenommen wird.
Und wann braucht ein Kind psychologische Unterstützung? Zum Beispiel wenn es grosse Ängste in sozialen Situationen hat. Haben introvertierte Kinder ungünstige Erfahrungen gemacht, sei es sinnvoll, ein Beratungsgespräch mit den Eltern zu führen, erläutert Sina Bardill. «Hier geht es zum Beispiel darum, dass die Eltern lernen, ihre Wesensart bei sich selbst und ihrem Kind zu akzeptieren.» Weiter wird in der Beratung geschaut, was die Eltern tun können, um ihr Kind zu unterstützen.
In Sarahs Familie dagegen wissen alle Bescheid über Sarahs Wesensart - und alle kennen ihre Stärken. «Wenn Sarah etwas sagt, sind ihre Antworten fast immer durchdacht, interessant und logisch», erzählt Céline Mahieux. Ausserdem sei Sarah emotional ausgeglichen, handle nicht impulsiv und habe echte Freunde. «Ich denke, dass ich in der Schule nicht populär bin oder gross auffalle», sagt Sarah selbst. «Aber von anderen höre ich, dass mich alle mögen und niemand etwas gegen mich hat.
Introvertierte können gut zuhören, sind einfühlsam und interessieren sich wirklich für ihr Gegenüber. Sie denken zuerst nach, bevor sie etwas sagen, und beziehen viele Informationen ein. Sie können sich gut in eine Aufgabe vertiefen und ausdauernd dabeibleiben.
Buchtipps:
- Susan Cain: «Still. Die Kraft der Introvertierten». Goldmann 2013
 - Susan Cain: «Still und stark: Die Kraft introvertierter Kinder und Jugendlicher», Goldmann 2017
 - Sylvia Löhken: «Intros und Extros. Wie sie miteinander umgehen und voneinander profitieren». Gabal 2014