Psychologie für Ingenieurinnen und Ingenieure: Eine Einführung

«Agilität ist wieder so ein Management-Hype. Doch Agilität ist wie Kopfweh: Es vergeht wieder!» Solche oder ähnliche Sprüche kommen mir hie und da zu Ohren. Ich kann diese Ansicht gut verstehen. In der Management-Welt jagt ein Trend den anderen. Management-Ratgeber füllen meterlange Bibliotheksregale.

Beim Lesen eines solchen Werkes entsteht oft der Eindruck, dass der Autor sich ein Denkmal setzen möchte, dass alter Wein in neue Schläuche gefüllt wird. Der Leser soll die bisherigen Methoden vergessen. Aus meiner Sicht unterscheidet sich das Thema Agilität von vielen Management-Hypes: Agile Konzepte für Unternehmen sind nicht von einer Person «erfunden» worden. Denn Agilität ist primär eine Geisteshaltung. Agile Ansätze sind aus einer Not bzw. aus einer Ernüchterung entstanden.

Die Entstehung agiler Konzepte

Nach der Jahrtausendwende platzte die Dotcom-Blase. Einst gefeierte Unternehmen standen plötzlich vor dem Bankrott. Wie konnte es sein, dass Top-Unternehmen mit Top-Mitarbeitenden, einer soliden Struktur und einer ausgezeichneten finanziellen Basis immer wieder grosse IT-Projekte zum Scheitern gebracht oder wichtige Neuerungen verschlafen hatten (z.B. Nokia das Smartphone, Kodak die Digitalkamera)?

Klassische Wasserfallmethoden prägten schon lange das projektmethodische Denken und sind auch heute noch weit verbreitet. Dabei wird ein Schritt nach dem anderen gemacht: Erst eine sorgfältige Planung, dann der Prototyp, anschliessend die Entwicklung, das Testen und erst am Schluss das Produzieren eines Produktes… Dieses strikte Vorgehen hat viele Firmen etliche Jahre erfolgreich und professioneller gemacht, indem sie gezwungen wurden zuerst zu «denken» bzw. Doch das Internet, die galoppierende Digitalisierung und nicht zuletzt die ganze Globalisierung machten langfristiges Planen zunehmend schwieriger.

Es gab immer mehr Unsicherheiten, Informationslücken, neue Einflussfaktoren. Nicht selten war ein Produkt durch die lange Projektdauer schon veraltet, bevor es fertig entwickelt war. Einst gefeierte Top-Unternehmer schätzten Trends falsch ein. Und in vielen Fällen wäre das nicht passiert, wenn jene Top-Manager zum Beispiel ihren Mitarbeitenden an der Front besser zugehört oder Kunden stärker in die Produktentwicklung eingebunden hätten.

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Schon nach dem Platzen der Dotcom-Blase wurde im IT-Bereich erkannt, dass neue Ansätze her mussten. 2001 entstand das sogenannte «Agile Manifest», eine öffentliche Absichtserklärung bezüglich agilen Prinzipien und Vorgehensweisen in der Software-Entwicklung. Es wurde von 17 unabhängigen Software-Entwicklern in Utah in einem Ski-Ressort auf 2500 Meter entworfen und lieferte einen wichtigen Grundstein für moderne Software-Entwicklungsmethoden wie beispielsweise SCRUM oder Extreme Programming.

Agile Konzepte in der Praxis

Agile Konzepte sind also primär in der IT-Ecke entstanden. Bei agilen Konzepten weichen befehlsfokussierte und zielorientierte Hierarchien einer unterstützenden und fördernden Vorstellung von Führung. Kern der Organisation sind kleine, interdisziplinäre und sich weitgehend selbstorganisierende Teams, welche nur sehr wenige «Befehle von oben» benötigen. Der Erfolg gibt agil arbeitenden IT-Firmen offenbar recht. Und dies seit über 15 Jahren. So gesehen ist Agilität keine «Eintagsfliege».

Auch finden agile Konzepte heute zunehmend in nicht-IT bzw. nicht-technischen Unternehmungen Einzug. Agilität ist also nicht nur etwas für introvertierte, kommunikationskarge und zurückgezogene «Nerds». Was unterscheidet Agilität von anderen Trends? Wie kommt es, dass agile Konzepte so lange anhalten und ein Ende sich nicht abzeichnet? In meinen Augen basiert der Erfolg zum grossen Teil darauf, dass agile Konzepte viele urmenschliche Bedürfnisse von Mitarbeitenden befriedigen und der Erfolg von Agilität somit psychologisch begründbar ist.

Psychologische Aspekte der Agilität

  1. Sinn: Der Sinn der Arbeit oder eines Projektes rückt bei agilen Ansätzen wieder stärker ins Zentrum: Es findet u.a. eine explizite Auseinandersetzung mit Sinn und Unsinn von Projektinhalten statt (z.B.
  2. Verantwortung: Die Verantwortung und ein Grossteil der Entscheidungen werden stärker an das Team zurückgegeben.
  3. Orientierung: Der Mensch will wissen, wo er steht und wohin die Reise geht.
  4. Erfolge: Zu grosse und diffuse Ziele oder erdrückende Hürden wirken lähmend. Das Herunterbrechen komplexer Vorhaben in sogenannte «Baby Steps» ermöglicht regelmässige, sichtbare Fortschritte.
  5. Kommunikation: Die einseitige Optimierung der Effizienz und der «schriftlichen Verbindlichkeit» in Unternehmungen hat dazu geführt, dass Mitarbeitende zunehmend vereinsamen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. In agilen Organisationen wird weniger befohlen, weniger dokumentiert, dafür mehr kommuniziert.
  6. Hohe Lernkurve durch Feedback: Retrospektiven und kurze Feedback-Schlaufen sind bei agilen Konzepten eingebaut.

So wenig der Befehl „Sei spontan!“ bei einer schüchternen Person zur gewünschten Entspannung führt, so wenig lässt sich ein «Mindset-Shift» zur Agilität hin erzwingen. Ich kenne Firmen, bei welchen zum Beispiel ein autoritärer Patron das Traditionsunternehmen mit eiserner Hand führt. Solche Firmen haben versucht, agile Methoden wie SCRUM einzuführen und waren ganz erstaunt, dass die erhofften Verbesserungen ausblieben, weil die gewählte Methode nicht zur Kultur der Firma passte.

Nicht jede Unternehmung will agil sein. Auch ist nicht jede Unternehmung für Agilität gleich gut geeignet. Agilität kann zwar viele Vorteile bringen. Überhöhte Erwartungen können aber ebenso schädlich sein wie falsche Anwendungen.

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Empfehlungen zur Einführung von Agilität

  • Abwägen von Bereitschaft und Aufwand: Klären Sie die Bereitschaft der Unternehmung, der Führungskräfte, der Mitarbeitenden, etwas zu ändern.
  • Festlegen der Agilitätsform: Es gibt viele Formen der Agilität. Deshalb gilt es abzuklären, welche Form von Agilität am besten zur Unternehmung passt.

Wichtig ist eine Begleitung durch erfahrene, aussenstehende bzw. «neutrale» Personen. Diese Begleitung sollte andauern, bis der neue Mindset verankert und die ersten Früchte von Agilität geerntet werden können. Die Einführung von Agilität in einer Organisation ist ein nicht zu unterschätzendes Change-Projekt. Dieses entspricht oft einem tiefgreifenden «Mindset-Shift» bzw. einem Kulturwechsel und benötigt Zeit.

Die Komplexität und das Tempo in der Arbeitswelt nehmen laufend zu. Dieser Zustand wird durch das Akronym VUCA beschrieben, das für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity steht. Eine zentrale Antwort auf VUCA ist die Agilität. Deshalb ist es wichtig, die Einsatzbereiche, Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken sowie Grenzen von Agilität zu kennen und für die eigene Organisation zu reflektieren.

Ausserdem erfahren sie, was sich durch eine zunehmende Agilität für sie als Führungsperson oder Beratende verändert und wie sie damit umgehen können.

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