Psychologie des Wartens: Studien und Erkenntnisse

Wartezeiten sind ein allgegenwärtiges Phänomen, das uns in vielen Lebensbereichen begegnet. Ob beim Arzt, im Supermarkt oder im öffentlichen Nahverkehr - das Warten gehört zum Alltag. Die Psychologie des Wartens ist ein vielschichtiges Feld, das untersucht, wie Menschen Wartezeiten wahrnehmen, bewerten und erleben. Studien haben gezeigt, dass Wartezeiten nicht nur als lästig empfunden werden, sondern auch das Verhalten, die Zufriedenheit und sogar die Gesundheit beeinflussen können.

Wartezeiten im Gesundheitswesen

Wartezeiten sind für Patientinnen und Patienten ein elementarer Bestandteil eines Spitalbesuches. Dabei kann zwischen zwei Arten von Wartezeiten unterschieden werden. Es gibt einerseits Wartezeiten, die lediglich als störend und langweilig empfunden werden und dadurch die Patientenzufriedenheit mindern. Andererseits können Wartezeiten, beispielsweise bei Notfalleintritten, auch medizinisch relevante Risiken bergen. Somit sollte die Reduktion von Wartezeiten sowohl hinsichtlich Patientenzufriedenheit, aber vor allem auch hinsichtlich Sicherheit und Qualität ein relevantes Ziel eines jeden Spitals sein. Aus Effizienzsicht ist zudem die Reduktion der Wartezeiten für Mitarbeitende ein relevantes Thema. Eine hohe Auslastung der Mitarbeitenden führt oftmals zu längeren Wartezeiten der Patientinnen und Patienten (Graban & Swartz, 2012).

Strategien zur Reduktion von Wartezeiten

Wie können mit gleichbleibenden Ressourcen die Wartezeiten reduziert werden? Welche Wartezeiten können eliminiert werden? Die Eliminierung von Wartezeiten, die nicht wertschöpfend sind, ist ein breites Thema, welches in vielen Bereichen im Spital zum Tragen kommt. Je nach Vorhaben wird mit verschiedenen Lean-Tools gearbeitet.

Notfallstationen können ihre Eintritte weder planen noch steuern und sind starken Schwankungen ausgesetzt. Aus diesem Grund kommt es oftmals zu langen Wartezeiten. Diese zu reduzieren, haben sich zahlreiche Spitäler zum Ziel gesetzt (in der Schweiz zum Beispiel das Kantonsspital Luzern oder das Universitätsspital Basel). Kern dieser Optimierungen ist, den Prozess zu takten und anstatt mit einer administrativen Tätigkeit (Registration) mit einer kompetenten Triage zu starten, um möglichst rasch nach dem Eintritt den Aufenthalt planen zu können.

Im Bereich von ambulanten Untersuchungen liegt der Fokus meist nicht auf der unmittelbaren Patientensicherheit, sondern auf der Reduktion unnötiger Wartezeiten für Patientinnen und Patienten sowie Mitarbeitende. Hier spielen sowohl Abläufe als auch physisch zurückgelegte Wege eine grosse Rolle. Nicht selten müssen Patientinnen und Patienten bei ambulanten Vorabklärungen Gebäude wechseln und grosse Distanzen zurücklegen. Hier kommen klassischerweise Tools wie das Spaghetti-DiagrammSpaghetti-Diagramm, 5S, Wertstromdiagramme und Just-in-Time-Produktion zum Einsatz.

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Klassische Messgrössen, um den Erfolg zu beurteilen, sind unter anderem folgende:

  • Zeit vom Eintritt bis zur ersten Konsultation durch einen Arzt
  • Aufenthaltsdauer in der Notfallstation
  • Patientenzahl, die die Notfallstation verlassen, ohne eine Konsultation durch einen Arzt erhalten zu haben
  • Patientenzufriedenheitsbefragungen

Wahrnehmung von Wartezeiten beeinflussen

In einigen Fällen ist eine vollständige Eliminierung von Wartezeiten nicht möglich. In diesen Fällen kann versucht werden, die Wartezeit produktiv zu nutzen oder sie zumindest so angenehm wie möglich zu gestalten. Eine produktive Nutzung von Wartezeit wäre beispielsweise, wenn auf der Notfallstation die Personalien während der Wartezeit und nicht bei Eintritt aufgenommen werden.

Ist keine produktive Nutzung möglich, kann versucht werden, die subjektiv empfundene Wartezeit zu verringern. Tabelle 1 zeigt Beispiele, wie Wartezeiten wahrgenommen werden.

Tabelle 1: Wie Wartezeiten wahrgenommen werden

Aussage Erläuterung
„Occupied time feels shorter than unoccupied time“ Eine Wartezeit mit einer Ablenkung wird als kürzer empfunden als die Wartezeit ohne Beschäftigung.
„People want to get started“ Das Warten vor Prozessbeginn wird als deutlich länger empfunden als das Warten zwischen einzelnen Prozessschritten.
„Anxiety makes waits seem longer“ Sorge steigert sich mit jeder Minute Wartezeit.
„Uncertain waits are longer than known, finite waits“ Die grösste Sorge beim Warten ist oft der Gedanke daran, wie lange die Wartezeit noch beträgt.
„Unexplained waits are longer than explained waits“ Eine nachvollziehbare Begründung kann der Frustration entgegenwirken.
„Unfair waits are longer than equitable waits“ Durch klare Kommunikation ein Gefühl der Fairness zu erreichen.
„The more valuable the service, the longer the customer will wait“ Die Toleranz des Wartens vom assoziierten Wert abhängig ist.
„Solo waits feel longer than group waits“ Das Warten in Gruppen ist angenehmer als das Warten in einem isolierten Raum.

Vor dem Start der eigentlichen Optimierung beginnt der Change-Management-Prozess (kraftvolle Vision schaffen, Führungsebene und Personal aktiv beteiligen etc.). Zu Beginn sollte definiert werden, welche Zeiten wertschöpfend und welche Verschwendung (Muda) sind. Darauf folgt eine Ist-Analyse, welche mittels Wertstromdiagramm, Spaghetti-Diagramm, Gemba, 5S etc. durchgeführt werden kann. Auf die Ist-Analyse folgt die Problem-Analyse. Auch hier stehen wiederum diverse Tools aus dem Lean-Management zur Verfügung (Fishbone-DiagramFishbone-Diagram, Root-Cause-Analyse etc.).

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Die Lösungsentwicklung sollte unter Einbezug des beteiligten Mitarbeitenden erfolgen und die Führung miteinbeziehen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die entwickelten Lösungen auch von den Mitarbeitenden unterstützt werden. Eine Möglichkeit zur Entwicklung von Lösungen ist die Schaffung einer Simulationszone. Der Einbezug von Patientinnen und Patienten ist essentiell, um auch die richtigen Bedürfnisse zu adressieren. Bei vielen Ideen bzw. Lösungsansätzen ist es sinnvoll, wenn sie vor der Implementierung in einem möglichst realitätsnahen Umfeld getestet werden. Dazu kann ebenfalls eine Simulationszone dienen.

Wenn die Optimierungsansätze feststehen, werden geeignete KPIs (Key Performance Indicators) definiert und Baseline-Messungen durchgeführt. Nur so kann im Nachhinein der Erfolg quantitativ gemessen werden. Die Umsetzung kann entweder als Big-Bang oder schrittweise erfolgen. Eine schrittweise Implementierung bietet den Vorteil von Quick-Wins (rasche Erfolge). Handelt es sich jedoch um vernetzte Systeme, ist meist ein Big-Bang zu empfehlen (Walker, 2013).

Nach der Implementierung wird der Erfolg laufend mittels der vorab definierten KPIs gemessen und kommuniziert. Nebst der Erfolgskontrolle sollte auch ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess initialisiert und institutionalisiert werden.

Der Marshmallow-Test: Geduld und Erfolg

Kennen Sie den Zusammenhang zwischen Marshmallows und der Psychologie des Wartens? Beim berühmten Marshmallow-Test wird Kindern ein Stück der verlockenden Schaumzuckerware serviert und dann die Wahl gelassen: Entweder sie essen das eine Stück sofort. Oder sie warten einige Minuten mit dem Essen und kriegen dafür noch ein zweites. Das Internet ist voll mit herzerwärmenden Videos von Kindern, die sich im Angesicht eines Marshmallows zu beherrschen versuchen.

Um das zu verstehen, muss man unsere Hirnstrukturen kennen. Zum einen verfügen wir über das sogenannte limbische System, das «emotionale, warme Hirn». Dieses steuert alle überlebenswichtigen Funktionen. Das limbische System funktioniert heute noch genauso wie vor tausenden Jahren - und zwar ab Geburt. Zum anderen ist da der präfrontale Kortex, das «rationale, kalte Hirn». Warten können heisst, ein Bedürfnis oder eine Lust vorerst aufzuschieben, zugunsten eines längerfristigen Ziels. Und dafür ist das kalte Hirn verantwortlich, das sich im Laufe der ersten 25 Lebensjahre nach und nach entwickelt.

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In langfristigen wissenschaftlichen Studien hat man einen interessanten Zusammenhang entdeckt: Kinder, die erfolgreich waren im Marshmallow-Test, waren später auch als Erwachsene erfolgreicher. Sie erreichten eine bessere Ausbildung und hatten weniger psychische Probleme.

Es sollte uns darum zu denken geben, dass wir diese Fähigkeit zunehmend verlieren. So führt heute der allgegenwärtige Leistungsdruck bei vielen Menschen zu einer permanenten Furcht, abgehängt zu werden. Bis vor Kurzem machte man an einer Haltestelle einfach eine Pause, bis der Bus kam. Heute drängt selbst dann die Angst, Informationen und den sozialen Anschluss zu verpassen. Eltern geben diesen Stress oft an ihren Nachwuchs weiter. Die Heranwachsenden werden durch eine erwachsene Logik bestimmt: Zielorientiert möchte man ihre Zeit optimal ausnutzen. Doch besonders für Kinder wäre es wichtig, auch mal auf etwas warten zu müssen. Entsteht dabei vielleicht sogar Langeweile: umso besser!

Wer seinem Nachwuchs ein bestimmtes Verhalten aber bloss vorschreiben möchte, kommt nicht weit. Kinder und Jugendliche lernen primär durch Vorbilder. So sollte man ihnen für die nähere oder fernere Zukunft nichts versprechen, was man später nicht einhalten kann. Ansonsten verlieren sie bald das Vertrauen, dass sich das Warten lohnt. Früher hat einen das Leben oft gezwungen, auf etwas zu warten. Heute können wir viele unserer Wünsche sofort erfüllen. Doch weil wir immer seltener warten müssen, sind wir zunehmend übersättigt. Gerade vor Feiertagen und zusammen mit Kindern und Jugendlichen sollten wir uns darum neu bewusst werden, dass man das Warten sogar geniessen kann - im vorfreudigen Wissen auf das Schöne, das bald folgt. Denn auch Wartezeit ist Lebenszeit. Und wer zu warten vermag, kann die Belohnung danach umso mehr auskosten.

Langeweile als Forschungsgegenstand

Fast könnte man meinen, Wissenschaftler fänden das Thema Langeweile - nun ja - langweilig. So vernachlässigt ist sie nämlich als Forschungsgegenstand. Ob im Wartezimmer beim Arzt, im Stau, oder an einem verregneten Sonntag zu Hause - jeder kennt den Zustand: Langeweile. So allgegenwärtig das Gefühl auch ist, so wenig wurde es bisher erforscht. Kanadische Wissenschaftler haben sich nun des Themas angenommen, denn Langeweile ist alles andere als nebensächlich. Gelangweilte Piloten oder Autofahrer stellen nämlich ein Unfallrisiko dar. Und Langeweile spielt sowohl bei Depression als auch bei Spielsucht eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Der Psychologe John Eastwood von der York-University in Toronto hat die bestehende Forschung zu diesem Phänomen zusammengetragen. Gelangweilt kann man demnach aus drei Gründen sein:

  • Es gibt nichts, was man gerade tun könnte.
  • Man ist gezwungen, etwas zu tun, das man gar nicht tun möchte.
  • „Das sind die drei Möglichkeiten. Der Effekt ist, dass der Mensch sich mit der Welt nicht auf befriedigende Art und Weise beschäftigt und auseinandersetzt“, sagt Eastwood, «das ist mit negativen Gefühlen verbunden: Der Mensch fühlt sich antriebslos und lethargisch oder aber übererregt und rastlos. Und manchmal pendelt er zwischen diesen beiden Polen hin und her.»

Egal, ob die Langweile von Lethargie oder Erregung begleitet ist, gibt es also einen gemeinsamen Nenner: die Aufmerksamkeit. Sie wird nicht auf befriedigende Weise in Anspruch genommen.

Die "Labor Illusion": Transparenz schafft Zufriedenheit

In Zeiten der Digitalisierung sind wir es gewohnt, dass angeforderte Dienstleistungen per Knopfdruck sofort zur Verfügung stehen. Müssen wir hingegen auf ein Produkt länger als gewohnt warten, droht die Kundenzufriedenheit rapide zu sinken. Eine Studie von Ryan Buell und Michael Norton (2011) von der Harvard Business School zeigt, dass dies nicht immer der Fall sein muss. Laut Buell und Norton ist Warten per se noch nicht schlimm - solange der Kunde während der Wartezeit das Gefühl hat, dass für ihn gearbeitet wird.

Als Erklärung für dieses Phänomen geben Buell und Norton die „Arbeitsillusion“ („Labor Illusion“) an. Danach muss man Kunden lediglich transparent darstellen, weshalb etwas seine Zeit braucht, dann wirkt sich das Warten auch nicht negativ auf die Zufriedenheit aus (bis zu einem gewissen Grad natürlich). Diese Wartezeit muss dabei gar nicht dem tatsächlichen Aufwand entsprechend. Beispielsweise nutzen zahlreiche Flugvergleichsportale wie Opodo mittlerweile Animationen von Airline-Logos und Namen, welche während des Wartens eingeblendet werden, um zu suggerieren, dass gerade von dieser Airline (angeblich) ein Angebot eingeholt wird.

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