Menschen nehmen bei Fremden zuerst die Unterschiede wahr. Das mündet oft in Ablehnung, wie Forscher jetzt zeigen.
Eine Szene aus einem fernen Land in Asien: Die Büros in dem riesigen Gebäude wirken wie auf Hochglanz poliert, überall schwärmen Menschen in Business-Uniformen aus. Mittags versammeln sich die Büroinsassen in einem Food-Court, so etwas wie eine als Einkaufszentrum getarnte Kantine. So weit, so normal und nicht der Rede wert. Aber was erzählt der Beobachter aus Europa dann zu Hause?
Dass da mittags lauter Menschen in Kostüm oder Anzug mit den Händen in ihrem Essen herumgerührt haben. Mit den Händen! Wirklich, die fassen in den pappigen Reis voll Sauce, formen einen Klumpen daraus, und dann ab in den Mund damit. Übrigens gab es in dem Food-Court auch Fischkopf-Curry - und das essen die Business-Damen und -Herren dann mit den Fingern. Gerade, dass sie sich die Hände nicht an der Krawatte oder am Blazer abwischen.
Ist das jetzt schon rassistisch, so eine Beobachtung in diesem Duktus zusammenzufassen? Nun, es scheint auf jeden Fall menschlich zu sein oder normal im Sinne von gängig, auf diese Weise Kulturen zu betrachten, die einem nicht vertraut sind.
Die Psychologen Hans Alves, Alex Koch und Christian Unkelbach von der Universität Köln zeigen gerade in einer Studie im Fachjournal «Psychological Science», dass fremde Menschen in der Regel auf diese Art wahrgenommen werden: Sie werden stets im Vergleich mit bekannten Menschen bewertet. Und dabei richtet sich die Aufmerksamkeit des Beobachters automatisch auf die Aspekte, in denen sich die Fremden von einem selbst unterscheiden.
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Der Fokus auf Unterschiede
Der Fokus liegt im Fall der Szene aus Asien also weniger darauf, dass der Büroalltag der gleiche ist, sondern dass mit den Fingern gegessen wird - was aus hiesiger Sicht seltsam erscheint. Und was einem an Fremden als einzigartig, als bemerkenswert oder besonders auffalle, so argumentieren die Psychologen weiter, sei mit hoher Wahrscheinlichkeit ein eher negativer Aspekt.
«Konflikte zwischen Gruppen beginnen bereits auf der subtilen Ebene der Wahrnehmung und Kognition», kommentieren sie.
Wir gegen die Anderen
Der Mensch neigt dazu, die Welt automatisch in ein «Wir» und «Sie» einzuteilen. Das geschieht auf unendlich vielen Ebenen: wir Europäer, die Amerikaner; wir Schweizer, die Flüchtlinge - Männer, Frauen; Alte, Junge; Grosse, Kleine; Fleischesser, Vegetarier; Radfahrer, Autofahrer und so weiter und so weiter. Die Guten, das sind immer wir; die Bösen, das sind die anderen.
In vielen Studien haben Psychologen gezeigt, dass Menschen zu Fremdgruppen sowie Minderheiten meist negativ eingestellt sind - und die eigenen Horden und auch Mehrheiten eher in positivem Licht sehen.
Die üblichen psychologischen Erklärungsmodelle für dieses Phänomen setzen auf einen motivationalen Ansatz. Grob verkürzt steht dahinter die Frage: Was haben die Menschen davon, wenn sie andere blöd finden? Sie schützen damit ihre soziale Identität, erhalten ihr positives Selbstbild aufrecht oder bekämpfen Unsicherheiten sowie andere schlechte Gefühle, wie frühere Studien gezeigt wurde.
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Das Modell der Forscher um Hans Alves lässt nun motivationale Aspekte aussen vor und analysiert das Problem stattdessen auf der Ebene der Wahrnehmung. Es fragt quasi: Worauf fokussiert sich unser Blick, wenn wir Fremde betrachten?
Die Psychologen liessen die Teilnehmer ihrer Experimente fiktive Alien-Stämme bewerten. Zunächst erklärten sie ihnen Charakteristika der ersten Gruppe. Dann legten sie ihnen die Eigenschaften einer zweiten Gruppe vor, die dann verglichen und bewertet wurden.
Geteilte Eigenschaften werden positiv bewertet
Wie zuvor postuliert, waren es die einzigartigen Charakteristika der zweiten, in diesem Kontext neuen beziehungsweise fremden Gruppe, die als Grundlage der Beurteilung beachtet wurden. Die Gemeinsamkeiten spielten hingegen kaum eine Rolle.
«Das ist ein generelles Lernprinzip», sagt Alves, «wir erfahren erst etwas über die eine Gruppe und fragen dann, was die andere Gruppe davon unterscheidet.» Nach dem gleichen Muster begutachten Menschen etwa auch Produkte: Was kann das neue Smartphone, was das alte nicht konnte, was macht es besonders?
Die zweite Annahme des Modells der Kölner Psychologen besteht darin, dass charakteristische Eigenheiten mit höherer Wahrscheinlichkeit negativ sind. «Geteilte Eigenschaften sind hingegen meistens positiv», sagt Alves. Dieses Prinzip fasste der russische Autor Leo Tolstoi im ersten Satz des Romans «Anna Karenina» so perfekt zusammen: «Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.»
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Genauso ist es zum Beispiel mit der äusseren Erscheinung von Menschen: Attraktive Gesichter sind Durchschnittsgesichter. «Einzigartige Gesichter sind hingegen eher unattraktiv», sagt Alves.
Ein hängendes Augenlid, zwei verschieden grosse Ohren, ein grosses Muttermal, eine krumme Nase oder sonst ein optisches Attribut, das aus dem Rahmen des Gängigen fällt: «Alle attraktiven Menschen gleichen einander, alle unattraktiven sind auf ihre Weise unattraktiv», um Tolstoi zu paraphrasieren.
Die Vielfalt des Negativen
Das gleiche Muster haben Wissenschaftler im Reich der Sprache festgestellt. Um Freunde zu beschreiben, verwenden Menschen zwar häufiger positiv besetzte Begriffe - aber ihre Beschreibungen fielen differenzierter aus, wenn sie die schlechten Seiten ihrer Freunde erläuterten, wie Psychologen um Daniel Leising von der Universität Halle-Wittenberg beobachtet haben.
Wer das Phänomen des vielfältigen Negativen jenseits von Studien erleben möchte, möge etwa seine Kinder fragen, wie es heute in der Schule war. Wenn alles in Ordnung war, lautet die typische Antwort auf diese lästige Elternfrage: «Gut». Lief hingegen etwas schief, folgt eine lange Schilderung übler Ungerechtigkeiten, hinterhältiger Cliquenmitglieder oder gemeiner Lehrer.
«Negative Attribute sind vielfältiger als positive, es gibt mehr Möglichkeiten, schlecht als gut zu sein», fassen also die Psychologen um Hans Alves zusammen. Alleine dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass fremde Menschen oder Gruppen negative Eigenheiten haben, die sie mit anderen nicht teilen, die daher besonders leicht wahrgenommen werden - und in eine abwertende Meinung münden.
Das gilt nicht nur für den Blick auf fremde Kulturen, sondern auch für jenen auf das jeweils andere Geschlecht. Ja, es bestehen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die über das rein Physiologische hinausreichen, doch sind diese in aller Regel gering. Aber wenn wir uns etwa fragen, was einen Mann ausmacht oder definiert, dann lautet die Antwort: Es handelt sich um eine Person mit Eigenschaften, über die Frauen nicht verfügen.
«Auch das führt zu einer negativen Verzerrung», sagt Hans Alves, «denn das richtet die Aufmerksamkeit eben auf all die komischen, unguten Eigenschaften.»
Was tun gegen die Abwertung?
Ressentiments, so der Psychologe, entstünden relativ automatisch. Doch wer gegen die Abwertung fremder Kulturen vorgehen möchte, der sollte doch erst einmal analysieren, was dieses Denkmuster überhaupt antreibt. Und er sollte darüber nachdenken, dass eventuell auch eine generelle Eigenheit menschlicher Wahrnehmung dabei eine Rolle spielen könnte.
«Gehäufter Kontakt verändert die Wahrnehmung», sagt Alves. Dann richte sich der Fokus hin auf die Gemeinsamkeiten und weg von Unterschieden. Dann springt einem nicht mehr in die Augen, dass die Kollegen in Asien mit den Händen essen. Statt dessen kreisen die Gedanken darum, dass die Mittagspausen immer eine hektische Sache sind. Dass manche mit den Händen essen, bemerkt man kaum mehr.
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