Psychischer Hospitalismus: Symptome, Ursachen und Behandlung

Der psychische Hospitalismus ist ein Zustand, der sich aus einem Mangel an emotionaler Zuwendung und Stimulation in der frühen Kindheit entwickelt. Dieser Artikel beleuchtet die Symptome, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten dieser Störung.

Ursachen und Hintergrund

Säuglinge kommen mit einem angeborenen Bedürfnis nach Schutz und emotionaler Nähe zur Welt. Eine fürsorgliche und liebevolle Beziehung ist zentral für ihre psychosoziale Entwicklung, denn im Rahmen von Interaktionen mit den Bindungspersonen eines Kindes entwickeln sich emotionale und soziale Kompetenzen. Die negativen Folgen eines Mangels an verfügbaren Bindungspersonen sind seit Langem bekannt.

Bereits 1945 beobachtete René Spitz bei Babys, deren unmittelbare Umgebung vor allem durch Diskontinuität und einen Mangel an emotionaler Zuwendung geprägt war, erhebliche Verhaltensauffälligkeiten. Dabei zeigten die von ihm beobachteten Kinder in einer ersten Phase anhaltendes Weinen und Schreien, um Bindungspersonen in ihre Nähe zu holen. Mehr und mehr führte dies zum Rückzug, was schliesslich in einer dritten Phase zum Verlust der gesamten Lebensfreude der Kinder führte. Spitz nannte dieses Verhalten «anaklitische» Depression oder auch «psychogenen Hospitalismus». Der Begriff Bindung geht wiederum auf die Arbeiten des britischen Kinderpsychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby zurück.

Innerhalb der kurzen Zeitspanne von der Empfängnis bis zum 2. Lebensjahr findet eine massive Entfaltung und Reifung des kindlichen Gehirns statt. Frühe interaktionelle Erfahrungen während der Zeit des stärksten Hirnwachstums prägen massgeblich entsprechend neuronale Strukturen durch die Neuorganisation synaptischer Verbindungen. Früheste Lernerfahrungen bewirken also eine grundlegende Reorganisation von ursprünglich unspezifisch organisierten neuronalen Verschaltungen, wodurch es allmählich zur Ausformung eines synaptischen Netzwerks kommt, was wiederum die neuronale Basis für sozioemotionale Kompetenzen bildet.

Wachsen Kinder in der frühen Kindheit emotional depriviert auf oder machen in dieser sensitiven Entwicklungsphase Erfahrungen von Vernachlässigung oder Gewalt, können sich neuronale Verschaltungen adaptiv verändern. Solche frühen Stresserfahrungen durch fehlende emotionale Fürsorge führen auch zu Veränderungen der neuroendokrinen Stresssystemen. Diese biologischen Anpassungsmechanismen durch frühkindliche emotionale Lernprozesse sollen dem heranwachsenden Individuum das Überleben in der erwarteten Umwelt ermöglichen.

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Aufgrund ethischer Restriktionen in Bezug auf die experimentelle Manipulation der frühen Umwelt im Humanbereich wurden zur Untersuchung von akuten und Langzeiteffekten früher aversiver Lebensbedingungen vielfach Tiermodelle herangezogen. In Experimenten mit Nagern zeigte sich, dass eine Trennung vom Muttertier und eine isolierte Haltung bei den Versuchstieren zum sogenannten «social isolation syndrome» führten.

Symptome des psychischen Hospitalismus

Die Symptome des psychischen Hospitalismus können vielfältig sein und variieren je nach Alter des Kindes und dem Ausmass der Deprivation. Einige häufige Symptome sind:

  • Anhaltendes Weinen und Schreien
  • Rückzug von der Umwelt
  • Verlust der Lebensfreude
  • Entwicklungsverzögerungen
  • Verhaltensauffälligkeiten
  • Emotionale Störungen
  • Bindungsstörungen

Im Entwicklungsverlauf zeigt sich eine Depression in unterschiedlichen Symptomen und Ausprägungen, die grob in verschiedene Phasen zu unterscheiden sind. Ein Kleinkind im Alter von ein bis drei Jahren hat noch nicht die Fähigkeit, sich differenziert zu seinem Befinden zu äussern. Eine Depression erkennt man bei ihm an einem ausdruckslosen Gesicht, erhöhter Irritabilität, und einem gestörten Essverhalten. Das Kind wirkt insgesamt traurig und entwickelt ein selbststimulierendes Verhalten. Dabei besonders auffällig sind beispielsweise Jactatio capitis oder exzessives Daumenlutschen; auch kann genitale Selbstmanipulation früh einsetzen. Das Spielverhalten zeichnet sich durch mangelnde Kreativität oder verminderte Ausdauer aus. Auch kann das Kleinkind eine generelle Spielunlust oder eine generell mangelnde Phantasie entwickeln.

Vorschulkinder zeigen ein trauriges Gesicht und eine verminderte Mimik und Gestik. Sie sind leicht irritierbar und stimmungslabil. Sie können sich nicht freuen, und zeigen introvertiertes oder aggressives Verhalten. Sie sind weniger an motorischer Aktivität interessiert und können stark an Gewicht ab- oder zunehmen. Auch können sie eine Schlafstörung entwickeln. Sie können dann nicht ein- oder durchschlafen oder haben Alpträume.

Schulkinder können meist schon verbal über ihre Traurigkeit berichten. Zusätzlich können sie Suizidgedanken entwickeln und Schulleistungsstörungen entwickeln. Auch können sie Befürchtungen entwickeln, von ihren Eltern nicht genügend beachtet zu werden.

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Jugendliche in der Pubertät zeigen häufig ein vermindertes Selbstvertrauen, sind apathisch, haben Ängste und Konzentrationsmängel. Auch Jugendliche können Leistungsstörungen entwickeln und zirkadiane Schwankungen des Befindens zeigen. Auch psychosomatische Störungen können hier Anzeichen für eine Depression sein.

Langzeitfolgen

Die Studienergebnisse der oben beschriebenen experimentellen Tierstudien lassen den Schluss zu, dass das Fehlen emotionaler Bindungsbeziehungen während sensibler Entwicklungsphasen auch beim Menschen zu neuronalen Veränderungen führen kann, was wiederum Verhaltens- oder emotionale Störungen nach sich zieht.

Studienergebnisse zeigen auch, dass bei Kindern, die unter institutionalisierter Deprivation aufwachsen mussten, verschiedene neurobiologische Systeme, wie das noradrenerge, das serotonerge und das GABAerge System, sowie die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) dauerhaft verändert waren, was wiederum psychische Probleme zur Folge haben kann. So entwickelten Heimkinder, die ohne echte Bezugsperson aufwuchsen, Verhaltensstörungen und verminderte Lernleistungen.

Eine Studie untersuchte die Entwicklung von 144 rumänischen Heimkindern, die von Familien im Vereinigten Königreich adoptiert wurden. Insbesondere jene Kinder, die länger als 2 Jahre unter den schwer deprivierenden Lebensbedingungen aufwuchsen, wiesen mehr als 30% eine Bindungsstörung auf. Dagegen entwickelten weniger als 5% der Kinder, die innerhalb von 6 Monaten adoptiert wurden, später eine Bindungsstörung. Ausserdem zeigten sich bei den Kindern mit einer Bindungsstörung häufig auch Symptome anderer psychischer Störungen wie beispielsweise ADHS, Aggressivität oder andere emotionale Schwierigkeiten.

Behandlungsmöglichkeiten

Die Behandlung des psychischen Hospitalismus erfordert einen umfassenden Ansatz, der sowohl psychologische als auch soziale Interventionen umfasst. Einige wichtige Aspekte der Behandlung sind:

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  • Förderung sicherer und stabiler Bindungen
  • Psychotherapie
  • Förderung sozialer Kompetenzen
  • Unterstützung der Familie

Das Bucharest Early Intervention Project begleitete adoptierte Kinder über 12 Jahre hinweg und untersuchte ihre Entwicklung. Die in Pflegefamilien untergebrachten Kinder zeigten dabei im Vergleich zur Kontrollgruppe im Alter von 8 und 12 Jahren eine Reduktion der Symptome sozial-emotionaler Auffälligkeiten in Form einer reaktiven Bindungsstörung. Solche Verbesserungen waren vor allem davon abhängig, wie lang die Kinder zuvor in Institutionen gelebt hatten und wie gut die Beziehung des Kindes zu seinen Pflegeeltern war. Diese Untersuchung zeigt, dass die Folgen ungünstiger Lebensbedingungen in der frühen Kindheit bei Bereitstellung adäquater Beziehungsangebote remittieren können.

Es ist wichtig zu betonen, dass die eingeschlossenen Pflegefamilien sehr hohe Qualitätsstandards erfüllten. Sie wurden im Rahmen dieser Interventionsstudie sorgfältig ausgewählt und engmaschig durch Sozialarbeiter und Psychotherapeuten geschult und betreut. Dabei wurde ein besonderer Fokus auf die Schwierigkeiten, die die Betreuung von zuvor bindungstraumatisierten Kindern mit sich bringen können, gelegt.

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