Psychische Gewalt durch Eltern: Eine Definition

Jedes vierte Kind in der Schweiz erlebt regelmässig psychische Gewalt durch die Eltern. Studien zeigen: Jedes vierte Kind hierzulande erlebt regelmässig psychische Gewalt durch die Eltern. Doch im Gegensatz zu handfesten Aggressionen ist psychische Gewalt weniger gut sichtbar und daher kaum in der öffentlichen Diskussion angekommen.

Manche dieser Gewaltformen sind so subtil, dass Eltern sie gar nicht als solche erkennen. Meist beabsichtigen diese nicht, dem Kind wehzutun, sondern lassen sich unter Druck dazu hinreissen. Und manche Gewaltformen sind so subtil, dass Mütter und Väter sie gar nicht als solche erkennen.

Was ist psychische Gewalt?

Die häufigste Gewaltform, die Kinder in der Schweiz erleben, zielt nicht auf ihren Körper - sie tut in der Seele weh. «Psychische Gewalt ist meist weniger gut sichtbar als körperliche Misshandlung und deshalb schwerer zu identifizieren», sagt Dominik Schöbi, Psychologe und Familienforscher an der Universität Freiburg.

Die Fachliteratur kennt keine einheitliche Definition von psychischer Gewalt in der Erziehung; Aspekte davon werden je nach Untersuchung anders ausgelegt oder gewichtet. Psychische Gewalt wird definiert als vorsätzliche Anwendung von Einfluss und Macht sowie wiederholte nicht situations- oder verhaltensbezogene Verhaltensmuster einer Betreuungsperson. Das Kind kann die elterliche Reaktion nicht mit der konkreten Situation in Bezug bringen, sondern empfindet diese als direkte, persönliche Aggression auf seine Person.

Für den Kinderschutzexperten beginnt psychische Gewalt da, wo Eltern die Entwicklung eines gesunden Selbstvertrauens und das Vertrauen des Kindes in seine Bezugspersonen untergraben. Am Beispiel seiner Bindung zu den Eltern lerne ein Kind, wie Beziehungen funktionierten und was es von anderen erwarten könne. Ob es seine engsten Bezugspersonen als zugewandt, verlässlich und liebevoll oder als distanziert, unberechenbar oder abweisend erlebe, fördere oder schwäche entsprechend seine emotionale Sicherheit, die das Selbstbild des Kindes und später auch sein Bindungsverhalten als Erwachsener präge.

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Formen psychischer Gewalt

Besonders häufig trete psychische Gewalt an Kindern in Form von verbalen Aggressionen auf. Für gut 40 Prozent der Mütter und Väter, die angaben, regelmässig psychische Gewalt anzuwenden, bedeutet dies, das Kind heftig zu beschimpfen oder ihm «mit Worten wehzutun». Weitere 30 Prozent drohen regelmässig mit Schlägen und rund 20 Prozent praktizieren Liebesentzug: Sie sagen dem Kind, sie hätten es nicht mehr gern, oder vermitteln ihm das Gefühl mit Gesten der Zurückweisung.

Kindern die kalte Schulter zu zeigen, ist eine weit verbreitete Form von psychischer Gewalt, weiss Psychologin Annette Cina aus ihrer Arbeit mit Familien. Meist handelten Eltern so, weil sie glaubten, das Kind wolle ihnen mit seinem Widerstand absichtlich schaden. Etwa in Gestalt einer Drohung, wenn der Fünfjährige vom Spielplatz nicht nach Hause will: «Ich gehe jetzt gleich ohne dich heim!» Wenn Eltern genervt sind, kommen ihnen auch demütigende Worte leichter über die Lippen: «Das kann doch nicht so schwer sein», sagt der Vater zu seiner Zwölfjährigen, die sich weigert, Hausaufgaben zu machen.

Zum Beispiel, indem sie ihre Liebe an Bedingungen knüpfen - wie etwa der Vater, der nach einem fruchtlosen Überzeugungsversuch beschliesst, sein Kind anzuschweigen, bis es sein Zimmer aufgeräumt hat. Gemein sei allen Formen, dass sie dem Kind ein Gefühl von Minderwertigkeit oder Wertlosigkeit vermitteln. Psychische Gewalt, weiss Ziegler, geht vom unbedachten Nebensatz - «Kapierst du das nie?» - bis zur unmissverständlichen Botschaft: «Ich wünschte, du wärst tot.»

Subjektive Wahrnehmung und Kontext

Denn im Gegensatz zu handfesten Aggressionen, die ein Kind physisch spürt, lässt sich bei Erziehungshandlungen, die ohne Körpereinsatz auskommen, weniger trennscharf abgrenzen, ob sie als Gewalterfahrung einzustufen sind. «Bei psychischer Gewalt fallen die subjektive Komponente und der Kontext stärker ins Gewicht als bei körperlicher», sagt Ziegler.

«Manchmal könnt ich dich glatt verkaufen» - es kann sein, dass dieser Satz einer Mutter die Tochter zum Kichern bringt, weil die Mutter ob einem Streich des Kindes zwar die Augen verdreht, dann aber herzhaft lacht. Der gleiche Satz mag wie ein Schlag in die Magengrube wirken, wirft ihn die Mutter dem Kind aus Ärger an den Kopf.

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Auswirkungen psychischer Gewalt

Die Folgen von psychischer Gewalt in der Erziehung können die Entwicklung des Kindes massiv beeinträchtigen und negative Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter haben. Viele Kinder zeigen Verhaltensauffälligkeiten, die sich in Unruhe oder Aggressivität, aber auch Niedergeschlagenheit oder Ängstlichkeit äussern; einige Kinder zeigen Anzeichen einer Traumatisierung. Langfristig kann ein chronischer Zustand der emotionalen Verunsicherung die psychische Gesundheit des Kindes nachhaltig beeinträchtigen und zu stressbedingten körperlichen Problemen führen.

«Emotional stabile Menschen sind in ihren Beziehungen in der Regel zufriedener», sagt Schöbi, «während solche, denen diese Sicherheit fehlt, oft Mühe haben, selbst mit kleinsten Unstimmigkeiten angemessen umzugehen, weil sie diese auf sich selbst beziehen und dann beispielsweise auf Distanz gehen. Erfahrungen mit wiederkehrender psychischer Gewalt in der Kindheit beeinflussen unter Umständen aber nicht nur die Beziehungen, die ein Kind später pflegt, sondern auch seine Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu regulieren. Auf diesem Weg führe mangelnde emotionale Sicherheit nicht direkt zu psychischen Störungen, «aber sie erhöht die Anfälligkeit dafür», sagt Schöbi.

Dies kann zu Problemen führen wie z. B.:

  • Depressionen und Angstzustände: Die Opfer leben oft in einem Zustand ständigen Stresses, was zur Entwicklung von Angststörungen und Depressionen führen kann.
  • Geringeres Selbstwertgefühl: Ständige Beleidigungen, Abwertungen und Taktiken, die das Opfer degradieren sollen, können das Selbstvertrauen des Opfers untergraben.
  • Soziale Isolation: Aufgrund der von den Tätern erzwungenen Manipulation und Isolation neigen Opfer psychischer Gewalt dazu, sich sozial zurückzuziehen.
  • Schlaf- und Essstörungen: Psychische Gewalt kann den Schlaf der Opfer stören, was zu Schlaflosigkeit oder wiederkehrenden Albträumen führt.

Es ist wichtig zu betonen, dass diese Folgen nicht nur körperlicher oder emotionaler Natur sind, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf die allgemeine Lebensqualität der Opfer haben.

Ursachen und Risikofaktoren

Studienautor Schöbi findet, dass gerade der in der Deutschschweiz so häufig praktizierte Liebesentzug dies eindrücklich reflektiere. «Vermutlich ist diese Massnahme deshalb so geläufig, weil sie aus Sicht vieler Eltern eine Einflussnahme darstellt, von der sie denken, sie setze dem Kind nicht zu.» Ein Trugschluss, über den Eltern im Affekt nicht nachdenken.

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Eltern wiederholen oft, was sie als Kind selbst erlebt haben, weiss Wissenschaftler Schöbi. Aber auch andere Faktoren machen sie anfällig für gewaltsame Erziehungshandlungen - Stress zum Beispiel scheint im Hinblick auf psychische Gewalt eine Schlüsselrolle zu spielen. Dabei ist laut Dominik Schöbi gar nicht so entscheidend, welche Art von Stressoren im Spiel sind, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie alle zum gleichen Resultat führen: Die Eltern stehen unter Druck, ihre Ressourcen sind stark beansprucht.

«Dann kann alltäglicher Knatsch das Fass zum Überlaufen bringen», sagt Familienberaterin Cina. Auslöser sind ihr zufolge oft wiederkehrende Streitpunkte, die Eltern an besseren Tagen mit Fassung tragen, sie an schlechten jedoch zur Weissglut treiben können: ständige Widerworte, aufgeschobene Hausaufgaben, mangelnde Hilfe im Haushalt.

Nicht selten steckten hinter dieser Schlussfolgerung Verletzungen aus der eigenen Kindheit, die nachhallten: Die Erfahrung beispielsweise, kein Gehör zu finden, als dumm hingestellt und nicht respektiert zu werden. «Ein Kind, das sich querstellt, kann solche Emotionen wieder aufbranden lassen», sagt Cina, «indem es nicht hinhört, unsere Bedürfnisse ignoriert, keinen Respekt zeigt. Dann sei entscheidend, ob es Eltern gelinge, den Widerstand des Kindes als Ausdruck seiner Überforderung einzuordnen, statt ihn auf die eigene Person zu beziehen.

In der eigenen Hilflosigkeit liege es oft näher, das Kind spüren zu lassen, was sein Verhalten mit einem macht, und ihm dieses in derselben Währung heimzuzahlen, sei es durch Nichtbeachtung, Abwertung oder Schimpftiraden. «Die Strategie der Wahl ist nicht selten jene, die einem die eigenen Eltern vorlebten», stellt Cina fest. «Diese Verhaltensmuster prägen Menschen.

Was tun?

Kommt es zum Kurzschluss, zu Schimpftiraden, Drohungen, Liebesentzug oder verbalen Entgleisungen dem Kind gegenüber, ist das noch keine Tragödie. Oder wie es Annette Cina formuliert: «Wenn Eltern gelegentlich die Beherrschung verlieren, ist das per se kein Drama, solange dahin­gehend keine Routine einkehrt und sie ihrem Kind grundsätzlich liebevoll zugewandt sind.» Und Dominik Schöbi ergänzt: «Problematisch ist es, wenn solche Ereignisse zum Programm werden.

Der erste Schritt, solche Muster zu durchbrechen, liege darin, sich ihrer bewusst zu werden, sagt Cina. Sie empfiehlt Eltern, sich dafür in einem ruhigen Moment mit folgender ­Frage auseinanderzusetzen: In welchen Situationen löst mein Kind diese starken negativen Gefühle in mir aus, und warum? «Oft geht es dabei im Kern um grundlegende eigene Bedürfnisse, etwa nach Anerkennung und Zugehörigkeit oder der Erfahrung, etwas bewirken zu können», weiss Cina. «Festzustellen, dass einem da möglicherweise etwas fehlt, kann schmerzhaft sein.

«Es ist wichtig, dass Eltern ihren Sinn dafür schärfen, was sie mit Worten und Gesten bewirken», sagt Ziegler. Gleichzeitig betont er: «Fehler passieren ständig, sie gehören in der Erziehung dazu. Auch das sollten Mütter und Väter wissen. Nicht jedes Ungeschick zeitigt Folgen.

Hier eine Tabelle mit den häufigsten Verhaltensweisen, die Eltern berichten (laut einer Studie der Universität Freiburg aus dem Jahr 2020):

Verhaltensweise Prozentsatz
Beleidigungen oder verletzende Worte 37%
Androhung von Schlägen 27%
Entzug von Zuneigung oder Liebe 22%
Drohungen, das Kind allein zu lassen 19%
Längeres Einsperren in einem Zimmer 15%
Drohungen, das Kind zu verlassen 11%

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